Es fährt ein Zug nach Nirgendwo

Der ICE fährt ein, steht dann am Gleis. Die Türen bleiben zu. Keine Durchsage nirgends. © Rolf Hiller

Nach dem Streik am Montag kämpft die Deutsche Bahn.wieder mit ihren normalen Problemen. Eine Oberleitungsstörung bei Erfurt verhindert die Fahrt des Zuges, den ich nehmen wollte. Warum dieser ICE trotzdem einfährt und dann aber stehen bleibt, verstehe, wer will. Keine Ansage, keine Erklärung. Mir kommt der Schlager „Es geht ein Zug nach Nirgendwo“ von Christian Anders in den Sinn. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere verprasste er Millionen u.a. für einen vergoldeten Rolls Royce; heute verbreitet er Verschwörungsphantasien. Tatsache ist hingegen, dass die Deutsche Bahn in Deutschland weiter rote Zahlen schreibt. Trotzdem verdiente der Chef Richard Lutz im letzten Jahr 2,24 Millionen Euro; die Hälfte davon waren Boni. Solche Einkünfte sind in einem Staatskonzern, der überhaupt nicht gut dasteht, nicht zu vermitteln. Lutz bekam im letzten Jahr vierzig Mal mehr als ein Lokführer.

Im übertragenen Sinne beschreibt Anders‘ Schlager trefflich die Lage der sogenannten Fortschrittskoalition in Berlin. In quälend langen Nachtsitzungen verständigten sich SPD, Grüne und FDP auf einen Kompromiss, der wieder einmal – so scheint es zumindest – zu Lasten der Ökopartei geht. Weiter freie Fahrt für freie Bürger:innen, weiter werden munter Autobahnen ausgebaut. Die Kritik der Umweltverbände ließ nicht auf sich warten. Der Geschäftsführer des WWF Deutschland, Christoph Heinrich, spricht von einem „Frontalangriff auf das Klimaschutzgesetz“. Der Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, Jürgen Resch, haut in die gleiche Kerbe: „Diese Anti-Klimaschutz-Koalition legt allen Ernstes Hand an das Bundesklimaschutzgesetz. Damit versündigt sie sich an allen künftigen Generationen.“ Der Kanzler, der nach seiner Wahl Führung versprochen hatte, hielt sich bei dem Koalitionsstreit wie gewohnt bedeckt. Alles Friede, Freude, Eierkuchen für ihn.

Das gilt nicht minder für den monströsen Ausbau des Kanzleramtes, der mit genau 777 Millionen Euro zu Buche schlagen soll. Man wolle alle Mitarbeiter:innen in einem Haus versammeln. Diese analoge Denke zeigt wieder einmal, wie weit es her ist mit der Digitalisierung in den Köpfen. „Baustopp, jetzt“ fordert die FAZ, „Scholz, halt ein!“ sekundiert der Tagesspiegel und führt aus: „Gebaut soll werden, weil der Bau beschlossen wurde – nicht, weil es notwendig ist. Aber Notwendigkeit ist das zentrale Stichwort einer klimagerechten Zukunft, nicht Wunschdenken von Politikern und Verwaltungen.“ (20.03.23). Jede Wette, das Ding wird kommen, obwohl „das Kanzleramt schon jetzt der größte Regierungssitz der Welt ist.“ (FAZ, 25.03.23) Klimaschutz beginnt hier und jetzt. We’ll never walk alone!

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral

Berlin wird in sieben Jahren nicht klimaneutral sein, aber eine Mehrheit beim Volksentscheid wäre trotzdem ein starkes Signal.

Bertolt Brechts allseits bekannte Sentenz aus der „Dreigroschenoper“ ist so aktuell wie eh und je – erst denkt man an sich, dann an die anderen. Wir alle wissen inzwischen, dass sich die globale Erderwärmung nicht mehr aufhalten lässt; wir alle wissen, dass unser Lifestyle zu Lasten des globalen Südens geht. Was wir alle tun können, ist sattsam bekannt: weniger heizen, weniger reisen, weniger Fleisch essen. Das kann jede:r sofort umsetzen und muss es mit sich selber ausmachen, ob er/sie es lässt. Unerträglich wird es, wenn die „Klimaschutzbewegung religiöse Züge“ (Tagesspiegel, 19.03.23) annimmt, wenn Gut- und Bessermenschen sich legitimiert fühlen, Kunstwerke zu beschädigen, wenn Menschen ihr Verhalten zum absoluten Maß erheben und alle anderen danach beurteilen. Natürlich beteiligen wir uns am Volksentscheid „Berlin 2030 Klimaneutral“, natürlich wissen wir, dass es damit nicht getan ist.

Ein Leben ohne Widersprüche gibt es nicht. Wir schauen uns die Netflix-Produktion „Im Westen nichts Neues“ von Edward Berger nach dem Roman von Erich Maria Remarque im Kino an. Der Film wurde mit 4 Oscars ausgezeichnet und erzählt eindringlich vom Leben und Sterben junger Soldaten im Ersten Weltkrieg – am Ende steht die nüchterne Feststellung, dass sich in diesen vier Jahren der Frontverlauf kaum geändert habe. Im „Grande Guerre“ verloren etwa 17 Millionen Menschen ihr Leben. Während des Films denke ich immer wieder an den Krieg in der Ukraine, von dem in den Nachrichten nur noch gelegentlich die Rede ist. Das Leiden und Sterben dort geht weiter, es ist keine „news“ mehr. Wir sitzen in bequemen Ledersesseln mit Liegefunktion, viele knabbern Snacks, trinken etwas und goutieren das Grauen. Darf man einen solchen Film so erleben? Weltweit gibt es derzeit über 20 Kriege, von den meisten habe ich noch nie gehört.

„Besser Doppelmoral als gar keine Moral“, befand Luisa Neubauer in einem Podcast. Sie ist Klimaaktivistin und Mitglied der Grünen. Mit dieser Einstellung lässt sich noch alles rechtfertigen, etwa der Flug der Kulturstaatsministerin Claudia Roth zur Oscar-Verleihung nach Hollywood. Die Einladung hatte der Regisseur Edward Berger im Namen von Netflix ausgesprochen, und sie habe „gerne angenommen, um das Filmteam bei dieser Preisverleihung zu unterstützen und ihm seine Anerkennung im Namen der Bundesregierung vor Ort auszusprechen“. (Der Spiegel. 23.03.23). Die Kulturstaatsministerin hat die Kosten für diese Reise Netflix inzwischen aus privaten Mitteln erstattet. Ob sie selbst auch für die Aufrüstung ihrer Dienstlimousine mit weißen Lederpolstern aufkommt, wenn sich die hartnäckigen Gerüchte in der Hauptstadt bestätigen, steht dahin. In der Nacht auf Sonntag werden wieder die Uhren umgestellt. Zumindest diese Zeitenwende sollte gelingen.

Bald ist Spargelzeit

An die Windräder, im Volksmund Spargel genannt, werden wir uns alle noch mehr gewöhnen müssen. © Rolf Hiller

Volle Häuser, volle Züge. Wo war ich wann und warum in dieser Woche? Die Corona-Warn-App zeigt ”Begegnung an 1 Tag mit erhöhtem Risiko” am Sonntag, aber diese Warnungen versetzen niemanden mehr in Angst & Schrecken. Am Sonntag treffen wir vorm Theater Freunde zum Essen und ziehen dann weiter ins  Berliner Ensemble. Gegeben wird ”Der Theatermacher” von Thomas Bernhard in einer Inszenierung des Hausherrn Oliver Reese. Immer wieder wurde spekuliert, wen von den Regietitanen seiner Zeit der Schriftsteller in seinem Stück wohl gemeint haben könnte. Die Figur ist naturgemäß so lächerlich wie boshaft und selbstgefällig. Stefanie Reinsperger – die Besetzung zumindest ist ein Coup – kapriziert sich auf die Lächerlichkeit und reduziert den Theatermacher zum bloßen Hanswurst. Alles ist übertrieben, alles ist zu viel – eine Knallcharge, die lang & länger wird. Thomas Bernhard hätte bestimmt zu einer Tirade über die Verhunzung seines Stückes ausgeholt.

Zwei Tage davor bei Tschechows ”Möwe” in der schaubühne verging die Zeit wie im Flug, obwohl es zuweilen in Thomas Ostermeiers Inszenierung doch recht albern zugeht. Und Mitte der Woche dann endlich wieder ins Kasseler “Theaterstübchen”, wo ich unvergessliche Konzerte erlebt habe. Der Laden stand Anfang des Jahres auf der Kippe, aber der unermüdliche und doch nicht mehr unverwüstliche Markus Knierim konnte Sponsoren gewinnen. Das Aki Takase Quintett spielt fabelhaft vor vollem Haus; zumindest die Gagen sind damit gedeckt. Das ist die Crux vieler Clubs: Ohne Subventionen und Partys zur Querfinanzierung kommen sie nicht über die Runden. Einvernehmen im Publikum nach dem Auftritt der Pianistin Aki Takase mit ihrem international besetzten Quintett: ein großartiges Konzert!

Im Frankfurter Hauptbahnhof steht eine Spielzeugeisenbahnanlage – ganz auf der Höhe der Zeit mit einem Windrad. Leider habe ich keine Muße, die Loks für einen Euro fahren zu lassen. Im Neuen Theater Höchst wartet das nächste volle Haus dieser Woche – das Varieté im Frühling ist bis auf den letzten Platz ausverkauft. Der Frankfurter Entertainer Jo van Nelsen führt mit Liedern der 20er Jahre durchs Programm, die Nummern der Artist:innen müssen keinen Vergleich scheuen. Die Woche geht zu Ende, der ICE ist bis auf den letzten Platz besetzt. Sei’s drum. Besser als auf der Autobahn. Viele Deutsche haben mittlerweile begriffen, dass wir unser Verhalten ändern müssen, um die CO2-Emissionen zu senken. Das ficht den Bundesautobahnminister Volker Wissing (FDP) nicht an; er schreibt stur seine Politik der Vergangenheit fort, wie die Rheinische Post aus Düsseldorf konstatiert: “Deutschland hat auf dem Verkehrssektor komplett versagt. Als einziger Sektor hat er nicht nur sein gesetzliches Einsparziel verfehlt, sondern seine CO2-Emissionen im Vergleich zum Vorjahr sogar noch gesteigert – trotz Inflation und höherer Spritpreise. Verkehrsminister Wissing muss jetzt liefern. Mehr Schiene, weniger klimaschädliche Subventionen, Tempolimit und Verbrenner-Aus – der FDP-Minister wird diese Kröten schlucken müssen.” (16.03.23) Seine Ampel steht längst auf Rot!

Abschied

Martin Grubinger beendet mit gerade einmal 40 Jahren seine Karriere als Perkussionist. © Simon Pauly

Der Typ ist einmalig. Beiläufig teilt Martin Grubinger am Ende seines grandiosen Auftritts in der Alten Oper mit: „Das war mein letztes Konzert in Frankfurt“. Er bekäme oft Anfragen von jungen Kerlen, wie es funktioniere, dass seine Sticks bei einem Solo wie mit magischen Kräften durch die Luft wirbeln. „Haltet’s einfach drauf mit Euren Handys. Dann könnt Ihr sehen, wie das geht.“ Nichts können wir sehen und sind um so mehr gebannt, wie er mit den grünen Stöcken bei der Zugabe zaubert. Einmal tanzt einer schwerelos auf seinem Arm. Auf seiner letzen Tournee begeistern Grubinger und seine Band (4 Schlagzeuger und 1 Pianist) aber nicht bloß mit Virtuosität, das Programm ist überaus anspruchsvoll. Werke von Ioannis Xenakis, Steve Reich (ein Abschnitt aus „Drumming“) und die komplexe Komposition „Inferno“ des jungen isländischen Komponisten Daniel Bjarnason reißen das Publikum mit. Das letzte Konzert von Martin Grubinger findet am 28. Juli während des Rheingau Musik Festivals im Kurhaus Wiesbaden statt. Hingehen, staunen & jubeln!

Gute Kritiken bekommt auch der Film „Tár“ von Todd Field mit Cate Blanchett in der Hauptrolle, der für 6 Oscars nominiert ist. Der Film des Monats von FRIZZ Das Magazin erzählt die Geschichte vom Absturz einer Dirigentin, die (im Film) als erste Frau die Berliner Philharmoniker leitet. Anstatt sich auf diese Rolle im Musikbusiness zu konzentrieren, verliert sich der Regisseur in Details und Nebenwegen. Wir erleben im zähen Anfang des Films, wie Lydia Tár ihre Meisterklasse belehrt, manch klug-langatmiges Gespräch führt und lernen eine selbstgefällige Frau im Zenit ihrer Macht kennen, die sich nimmt, was sie will. Sie lebt mit der Konzertmeisterin des Orchesters (Nina Hoss) zusammen, hat eine kleine Adoptivtochter und immer wieder Affären mit jungen Musikerinnen. Ein bisschen viel von viel will Todd Field erzählen und verliert immer wieder den Faden. „Im Kreise der illustren Besatzung wächst Cate Blanchett einmal mehr über sich hinaus – und bringt uns die Hyperperfektionistin Lydia Tár näher, indem sie dem arbeits-egomanischen Kotzbrocken menschliche Tiefe verleiht.“ (Horst E. Wegener) Darüber ließe sich trefflich streiten. Bei der Oscar-Verleihung ging „Tár“ leer aus. Gut so.

Ob Franziska Giffey (SPD) und Kai Wegner (CDU) das Traumpaar der Berliner Politik werden, steht mittlerweile in den Sternen. Die einstige Bezirksbürgermeisterin von Neukölln konnte nicht einmal dort ihren Wahlkreis gewinnen; nun stimmte der Kreisverband der SPD dort gegen eine Koalition mit der CDU. Eine Klatsche für Giffey, der weitere folgten. Nach dem historisch schlechtesten Wahlergebnis der SPD bei der Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin wächst der Widerstand gegen Franziska Giffey und ihren umtriebigen Parteikollegen Raed Saleh. Sollten die Koalitionsverhandlungen mit der CDU scheitern, werden die beiden nicht im Amt bleiben können. Franziska Giffey hätte sich ihren Abschied aus der Berliner Politik wohl anders vorgestellt, wird aber sicher auf die Füße fallen. Die Affäre um den erschlichenen Doktortitel hat ihrer politischen Karriere erstaunlicherweise nicht geschadet.

And the Winner is …

Ihre Zeit als Regierende Bürgermeisterin von Berlin neigt sich dem Ende zu: Franziska Giffey holt sich Inspiration beim Filmteam von „Sonne und Beton“. © Alexander Janetzko / Berlinale 2023

Der Neustart der Berlinale ist gelungen. Nach den schwierigen beiden letzten Jahren, die von der Pandemie geprägt waren, kamen Promis & Zuschauer:innen wieder in Scharen zum größten Publikumsfestival der Welt. Zufrieden bilanzierte das Leitungsduo Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian: „Volle Kinosäle, bewegende Momente, zahlreiche prominente Gäste und ein neugieriges Publikum kennzeichnen die Berlinale 2023. Das ist für uns gelebte Kinokultur in all ihrer Vielfalt.“ 320.000 Tickets wurden in diesem Jahr ans Publikum verkauft – das Motto „Let’s get together“ war Programm. Zu entdecken gab es bei der 73. Berlinale allerhand, etwa einen digital restaurierten Film („A Woman of Paris“) von Charles Chaplin aus dem Jahr 1923, in dem er nur in einer Szene kurz zu sehen ist. Großartig auch „Golda“ mit Helen Mirren in der Hauptrolle, „Tár“ mit Cate Blanchett und Nina Hoss oder „Sonne und Beton“ von David Wnendt. Diese drei Filme liefen leider nicht im Wettbewerb, dem Aushängeschild der Berlinale, der nach einhelliger Meinung heuer allenfalls durchschnittlich gewesen ist.

Die Entscheidungen der unabhängigen Jury unter der Präsidentin Kristen Stewart waren politisch korrekt, setzen aber keine Zeichen. Diese Unentschiedenheit spiegelt sich strukturell in dem Preispotpourri wider: es gibt den Goldenen Bären, den Großen Preis der Jury und den Preis der Jury; es wird nur noch ein Preis für die beste Hauptrolle vergeben. Sei’s drum. Neben den bereits genannten Filmen beeindruckte uns am meisten „Roter Himmel“ (Großer Preis der Jury) von Christian Petzold. In einigen Szenen lachte das Publikum amüsiert, obwohl es am Ende nichts mehr zu lachen gibt. Großes Kino mit Thomas Schubert und Paula Beer, ein überzeugendes Buch, kurz ein Film, in dem mehr streckt, als zu sehen ist. Diese Vielschichtigkeit fehlt „Sonne und Beton“, der mich immer wieder an „Victoria“ von Sebastian Schipper erinnert hat. Dicht und geradezu physisch packend wird das Coming-of-Age von vier Freunden in der Berliner Gropiusstadt erzählt, wo das Recht das Stärkeren gilt. Quintessenz ihrer Erfahrungen: „Der Klügere tritt nach.“

Dass diese noch nicht ganz verhärteten Jungs nicht abdriften ins kriminelle Milieu der Gangs und Clans, ist eine der vielen Herausforderungen des Siegers bei der Berliner Wiederholungswahl. Kai Wegner und seine CDU, die nun eine Koalition mit der Wahlverliererin SPD unter Franziska Giffey eingehen möchten, stehen in der größten Stadt Deutschlands vor gewaltigen Herausforderungen. Die Agenda ist lang. Berlin muss sich radikal ändern, um im Wettbewerb mit anderen Metropolen bestehen zu können. Ein funktionierende Verwaltung wird es ohne eine Verfassungsreform nicht geben, eine klimaneutrale Stadt nicht mit Verkehrskonzepten der Vergangenheit, sozialen Frieden nicht ohne ausreichend Wohnraum. Schaffen es CDU und SPD sich zusammenzuraufen, stellen Wegner und Giffey persönliche Ambitionen hinter die gemeinsame Sache? An ihren Ergebnissen werden sie gemessen. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ (Hermann Hesse) Womöglich werden Franziska Giffey und Kai Wegner noch das Traumpaar der Berliner Politik.