Kontrolle ist besser

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Wo Nordsee und Wattenmeer in Sylt aufeinander treffen: nördlicher geht‘s nicht in Deutschland. © Karl Grünkopf

Die Zahlen steigen. Die Urlaubszeit hat begonnen; Überdruss & Übermut steigen gleichermaßen. Wenn das so weitergeht, wird sich eine zweite Welle der Corona-Pandemie nicht mehr verhindern lassen. Die Nachrichten aus Amerika und Brasilien sind zudem höchst beunruhigend. Freilich hat es noch nie geholfen, bloß an die Vernunft zu appellieren. Wer sich nicht an die weiter geltenden AHA-Regeln (Abstand, Händewaschen, Alltagsmaske) hält, muss mit Sanktionen rechnen. Verscheuchten im März noch Ordnungshüter Spaziergänger*innen von Bänken in den Parks, gibt es mittlerweile so gut wie keine Kontrollen mehr. Insbesondere in den U- und S-Bahnen, in Straßenbahnen und Bussen müsste viel mehr kontrolliert und sanktioniert werden. Der Tagesspiegel brachte es auf den Punkt: „Eine Verordnung ohne Sanktion ist so wirkungslos wie eine Sanktion ohne Kontrolle.“ (15.07.2020)

Gute Freunde haben uns einige Tage auf eine Insel eingeladen, die noch immer polarisiert: die einen schwärmen von Sylt, für die anderen ist die „Insel der Reichen und Schönen“ eine No-Go-Area. Alle Vorurteile sind richtig, wenn man die teuren, vorzugsweise dunklen Karossen sieht, die edlen Shops in Kampen oder Keitum, die coolen und gut betuchten Menschen in den Strandbars an der Westküste. Alle Vorurteile sind falsch, wenn man  nach Morsum ganz in den Osten der Insel kommt. Dort hören wir nur den Wind, die Gänse, Möwen und Schafe. Dann und wann landet ein Flugzeug und bringt uns in die Jetztzeit zurück: das andere Sylt ist im Anflug. Da ich diese Zeilen schreibe, schaue ich auf Wiesen und sehe Kaninchen und Rehe – unendlich weit weg von Westerland mit dem monströsen Kurzentrum aus den 60er Jahren (das höchste der drei Hochhäuser hat 13 Stockwerke) und dem Gedränge in der Fußgängerzone, wo die Touris abends geduldig vor den Restaurants mit Masken Schlange stehen und ihre Personalien hinterlassen müssen. Gut so!

Von Krise ist (noch) nichts zu spüren auf der Insel der Gegensätze. Das „Seepferdchen“ am traumhaften Samoa-Strand ist bis Ende August ausgebucht; den letzten Slot der Sauna dort haben wir sofort gebucht. Business as usual, aber das Bruttoinlandsprodukt ist im 2. Quartal um 10,1 Prozent gesunken, die Krise, die größte Rezession der Bundesrepublik Deutschland ist längst da. Die Pleite des digitalen Vorzeige-Unternehmens Wirecard (es ist immer noch im DAX gelistet) ist nicht weniger irritierend. Der Finanzkonzern, der sein Geld u.a. mit der Abwicklung von Sex- und Glücksspielen machte, besteht aus 56 Companies. Warum davon nur eine geprüft wurde, verstehe, wer will. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Da hat Lenin einmal recht gehabt.

Dance or Die

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„Dirty Dancing“ als Kino-Erlebnis der ganz besonderen Art. © Rolf Hiller

Heute vor 10 Jahren endete die Love Parade in Duisburg in einer furchtbaren Katastrophe. Am Eingang kam es zu einem Gedränge, es entstand Panik in der Masse und 21 Menschen mussten sterben. Die Journalistin Jessica Westen war damals bei der Veranstaltung, hat den Prozess beobachtet, der in diesem Jahr wegen Verjährung (!) eingestellt wurde und mit Opfern und Angehörigen gesprochen.  Ihre Erlebnisse & Erfahrungen hat sie fiktionalisiert und in einem Roman aufgehoben. „Dance or Die“ ist im Emons Verlag erschienen, wurde heute medial sehr beachtet und hat bei einem sog. Versandhändler 23 Höchstbewertungen erhalten. Zitiert wurde in der Kulturpresseschau  in hr2 der Richter mit den Worten, es sei eine „Katastrophe ohne Bösewicht“ gewesen. Da hat er sicher recht. Dass aber niemand für diese Katastrophe zur Verantwortung gezogen werden konnte, ist ein ungeheuerlicher Skandal!

Dem aktuellen ARD-Deutschland-Trend zufolge sind 80% der Bürger*innen mit den derzeit geltenden Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie einverstanden. 20% scheinen um so mehr gefrustet zu sein und bilden ein Potenzial, das bereit ist zur Randale.  Am letzten Wochenende eskalierte die Situation auf dem Frankfurter Opernplatz. Polizisten wollten nach einer Schlägerei helfen – und wurden angegriffen. Alkohol, Frust und Testosteron wirken unheilvoll zusammen; es genügt ein Funke, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Diese diffuse Wut bekommen diejenigen ab, die unseren Staat repräsentieren: allen voran die Polizei, aber es gab & gibt ja auch immer wieder verstörende Angriffe auf Rettungsfahrzeuge und Feuerwehren. Der Kit unserer Gesellschaft beginnt zu bröckeln, obwohl (oder weil?) Deutschland bis jetzt so gut durch die C-Krise gekommen ist.

Aber es gibt keine Alternative. Wir müssen lernen mit diesem Virus zu leben – womöglich sogar noch längere Zeit. Noch vor einem Jahr gingen wir ins Freibad, wenn wir Lust hatten; heute müssen wir ein Zeitfenster buchen. Wir schauten uns Filme im Kino an und mussten keine Mücken vertreiben. Trotzdem war es klasse im Autokino: angenehmes Wetter, ein gut gelauntes Team und ein perfekter Service inkl. Frontscheiben-Reinigung. Nicht schöner hätten wir uns unseren ersten Besuch in einem Autokino vorstellen können. Zur Prime Time steht nur „Dirty Dancing“ auf dem Programm. Uns gefällt sogar diese Schmonzette, und wir kommen gerne wieder zu einem Kino-Erlebnis der ganz besonderen Art.

Zweierlei Maß

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Voller als in jedem Kino: unterwegs im ICE am letzten Sonntag.© Rolf Hiller

Einstieg am Berliner Gesundbrunnen. Wenn man mit der Bahn fährt, empfiehlt sich in diesen Zeiten, dort einzusteigen, wo der Zug eingesetzt wird. Schon ab Hauptbahnhof wird es voll, der ICE nach München via Frankfurt ist am Sonntagnachmittag sehr gut besetzt. Eigentlich ist alles wie immer, würden die Fahrgäste nicht alle Masken tragen (müssen). Warum im Staatsunternehmen Deutsche Bahn erlaubt ist, was in Kinos und Theatern verboten bleibt, kann man nicht nachvollziehen. Die Infektionsgefahr einer gut vierstündigen Fahrt mit immerhin sieben Zwischenstationen und entsprechend vielen Ein- und Ausstiegen wird offensichtlich anders bewertet als der Besuch eines Kinos, das wegen der strengen Abstandsregeln nur zu einem Viertel besetzt werden darf. Zum Ausgleich für das unbekannte Risiko der Fahrt muss ich mich in Frankfurt registrieren, ehe ich die kaum besetzte DB-Lounge betreten darf.

Mit Widersprüchen weiß der moderne Mensch zu leben, aber die Fragen werden drängender. „Muss es“, gab der Intendant der Komischen Oper kürzlich in einem Interview zu bedenken, „anderthalb Meter Abstand zwischen den Besuchern geben, oder reicht ein freier Sitz? Schließlich sind Züge und Flugzeuge ja auch voll. Nur ein Platz frei, dann aber mit Mundschutz – das würde uns schon enorm helfen!“ (FAZ, 02.07.20) Allenthalben wird eine machbare Perspektive angemahnt und fehlender Respekt beklagt. Bitter weist Marek Lieberberg, der Geschäftsführer von Live Nation und gewissermaßen das Aushängeschild der Veranstalterbranche, darauf hin, dass Markus Söder es bis dato nicht für nötig befand, ihm auf einen Brief aus dem Mai überhaupt zu antworten (FAZ, 15.07.20). „In Österreich (dort sind ab 01.09.20 wieder 10.000 Besucher in Stadien und 5.000 in Hallen erlaubt) gibt es bis ins Kanzleramt hinein mehr Verständnis und Bereitschaft, auf uns einzugehen, als in Deutschland.“

Aber König Markus von Herrenchiemsee treiben größere Dinge um. Im Stile französischer Präsidenten empfing er pompös die Kanzlerin und wird sich gewiss auch bei den Festspielen in Salzburg sehen lassen. Dort werden immerhin 80.000 Gäste erwartet – trotz Corona. Die ganze Welt ist gespannt, wie dieses Experiment ausgeht. Dagegen sind die Open-Air Clubkonzerte im Amphitheater Hanau 2020 eine sichere Sache, die Shooter Promotions nun doch noch veranstalten darf. Statt 1.400 dürfen nur 249 Plätze verkauft werden, aber viele Musiker machen trotzdem mit, allen voran Helge Schneider (25.08.), Konstantin Wecker (02.09.) und Willy Astor (04.09). Sie wollen endlich wieder auftreten, aber nicht „vor Autos“ ( Helge Schneider). Glück auf!

Prima Klima

 

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„It Wasn’t Us“ trifft auch auf die modular-monotone Einheitsarchitektur hinter dem Hamburger Bahnhof zu. Die Ausstellung von Katharina Grosse ist noch bis zum 10.01.21 zu sehen. © Rolf Hiller

Ein ganz normaler deutscher Sommer – bis jetzt. Keine Hitze- und Trockenperioden, dafür immer wieder Regen und angenehme Temperaturen. In Sachen globale Klimaerwärmung (in Sibirien wurden 38 Grad! gemessen) gibt dieses Wetter dennoch ebenso wenig Anlass zur Hoffnung wie der Rückgang der CO2-Emissionen in Folge der Corona-Pandemie. 1 Milliarde Tonnen wurden weniger ausgestoßen, der stärkste Rückgang seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Kehrseite der Medaille ist freilich die größte Wirtschaftskrise der letzten Jahrzehnte. Deutlich sichtbar wird das schon jetzt in der Reisebranche. Airlines müssen sich verkleinern und werden z.T. verstaatlicht, die Kalkulation der Flughäfen geht nicht mehr auf, und die Flugzeughersteller entlassen Tausende Mitarbeiter*innen.

Bei unserer Tour per Bahn und Rad haben wir Glück mit dem Wetter. Wir besuchen Freunde in einem kleinen Dorf in der Nähe von Rathenow. Sie entwickeln ihren Vierseithof immer mehr zu einem lebendigen Gesamtkunstwerk. Nach dem letzten heißen Sommer konnten sie dort so viele Weintrauben ernten wie noch nie. Wir machen uns mit 6 Gläsern Gelee auf die Heimreise; für die 86km brauchen wir bald zweieinhalb Stunden. Gleich am nächsten Morgen passieren wir schon wieder den Berliner Hauptbahnhof. Wir haben am Sonntagvormittag Karten für die Ausstellung „It Wasn’t Us“ von Katharina Grosse ergattert. Im Hamburger Bahnhof, dem Museum für Gegenwart, hat sie eine riesige Skulptur aus Styropor platziert und mit Farben besprüht. Katharina die Bunte hat draußen gleich weitergemacht und die Wände zu den Rieckhallen aufgepeppt. Das Publikum macht begeistert Selfies.

Da hat’s der Seehofer Horst schon schwerer. Immer wieder irritiert der Innenminister mit befremdlichen Einstellungen & Entscheidungen.  Eine Studie zum Racial Profiling bei der Polizei sei nicht nötig, weil es bei den „Freunden und Helfern“ überhaupt keinen Rassismus geben dürfe. Selbst der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Sebastian Fiedler, empörte sich darob – Seehofers Absage sei „peinlich“ und „schrappe am Intellekt“ (WDR). Dass Rechtsradikalismus und Rassismus einhergehen, will der Innenminister mit seinen erratischen Entscheidungen auch nicht wahrhaben. „Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf!“ So endet das Gedicht „Die unmögliche Tatsache“ von Christian Morgenstern. Hoffentlich hat der Seehofer Horst bald ganz viel Zeit, diese Verse zu lesen.

 

Das Spiel ist aus

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Mit „Faust“ eröffnet Die Dramatische Bühne das „Freilichtfestival“ in diesem Jahr. © Die Dramatische Bühne

Alle lieben die sogenannten Tante-Emma-Läden, aber keine*r geht hin. Nicht anders ist es mit der Liebe zu den Warenhäusern, und groß ist das Wehklagen, dass der Konzern Galeria Karstadt Kaufhof jedes zweite Geschäft schließen muss. Auf der Frankfurter Zeil wird die riesige Filiale im Zentrum der Fußgängerstraße dicht gemacht; es bleibt ja noch das Kaufhaus direkt an der Hauptwache. Aber auch andere Filialisten haben große Probleme, die durch die Corona-Pandemie noch forciert werden. Esprit wird jedes zweite Geschäft aufgeben (müssen), H&M schreibt rote Zahlen. Die Innenstädte werden öder, während der Online-Handel weiter floriert und natürlich auch von der sinnlosen Mehrwertsteuersenkung auf Zeit profitiert.

Derweil bereiten sich die Bühnen schon auf die neue Spielzeit vor – und stehen vor kniffligen logistischen Herausforderungen. Das Schauspiel Frankfurt kann von 800 Plätzen im Großen Haus nur 88 nutzen: für die Abonnenten und für den freien Verkauf. Die Komische Oper in Berlin kommt auf eine deutlich bessere Quote; man plant dort mit 344 Gästen statt 1.190 wie zu normalen Zeiten. Während diese Häuser dank öffentlicher Subventionen entspannt planen können, geht es bei den Veranstaltern längst um Leben und Tod. So musste der Cirque du Soleil Insolvenz anmelden und hat fast 3.500 Mitarbeiter*innen entlassen. Um so erfreulicher, dass Die Dramatische Bühne in diesem Jahr wieder im Frankfurter Grüneburgpark spielen darf; das „Freilichtfestival“ findet vom 17.07. – 30.08. statt. Hingehen und Theater erleben!

Beinahe wäre das Spiel für Schalke 04 zu Ende gewesen. Der Club mit dem dritthöchsten Umsatz der Bundesliga konnte nur durch eine Bürgschaft des Landes Nordrhein-Westfalen gerettet werden und scheint wohl in diesem Bundesland systemrelevant zu sein. Der Aufsichtsratsvorsitzende Clemens Tönnies musste zurücktreten und kann sich jetzt ganz darauf konzentrieren, seinen Schweinestall auszumisten, sprich: den Arbeitern in seinen Fleischfabriken halbwegs anständige Verträge zu geben. Dabei wird ihm der ehemalige SPD-Chef Sigmar Gabriel nicht mehr mit Rat & Tat zur Seite stehen können. Sein üppig dotierter Vertrag, an dem es rechtlich nichts zu deuteln gibt,  wurde nach nur drei Monaten aufgelöst. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ (Bertolt Brecht).