Alter Wein in neuen Schläuchen

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Zwillinge haben eine ganz besondere Verbindung: Nina Hoss in „Schwesterlein“ von Stéphane Chuat & Veronique Reymond. © Vega Film

Wir sitzen im falschen Film. Das kann bei einem Festival mit Weltpremieren natürlich passieren, zumal bei der Berlinale. Denn seit Jahren krankt der Wettbewerb an der Qualität der ausgewählten Filme. Das ist auch beim 70. Jahrgang nicht anders. Zwar hat die Berlinale nun wie die SPD eine gemischte Doppelspitze, aber Carlo Chatrian (Künstlerischer Leiter) und Mariette Rissenbeek (Geschäftsführung) haben bei ihrem Debüt kein glückliches Händchen: die Auswahl ist schwach wie eh und je und wurde sogar mit „Encounters“ noch um einen zweiten Wettbewerb erweitert. Zumindest der sechste Film, den wir sehen, nimmt uns gefangen: „Schwesterlein“ der beiden Schweizer Regisseurinnen Stéphane Chuat & Veronique Reymond. Erzählt wird die Geschichte eines Zwillingspaares, hervorragend gespielt von Nina Hoss & Lars Eidinger; er ist Schauspieler und muss bald sterben. Das ist Kino und kein Kleines Fernsehspiel, das betulich erzählt & alles erklärt.

Wir gönnen uns eine Pause von der Berlinale und folgen der Einladung zur Premiere der  Show „2020“ in den „Wintergarten“ auf der Potsdamer. Es beginnt verheißungsvoll: die Damen vom Service tragen wunderbare Hütchen oder Stirnbänder; einige Gäste haben auch im Fundus gewühlt. Doch dann ist alles wie immer: statt eines Varieté wie vor hundert Jahren, mit Tempo und Berliner Witz, überdreht & verrucht gibt es eine Nummernrevue, auf die man „Die 20er Jahre“ draufgebappt hat. Ein paar Worte von Kästner und Brecht, ein Dietrich-Song und ansonsten Artisten & Nummern, die man (fast) alle schon einmal gesehen hat. Die weiblichen Acts setzen ihre Reize fast schon vulgär ein. Erotik & Esprit: Fehlanzeige. Potsdamer Straße eben. „Wir reisen morgen nach Buenos Aires“, verabschieden wir uns schon zur Pause. Dort gebe es breite Straßen, meint unser Tischnachbar. Der Page in Livree am Eingang würde am liebsten mitkommen.

Friedrich, Armin, Norbert und Jens – diese Vornamen schon verheißen Zukunft. Merz (64), Laschet (59), Röttgen (54) und Spahn (39) heißen die Hoffnungsträger der CDU, die gerade ihr Ende als Volkspartei erlebt. 11,2% in Hamburg, die Zustimmung im Bund schwindet, mag Angela Merkel auch immer noch (warum eigentlich?) die beliebteste Politikerin sein. Thüringen wirkt nach, aber Hamburg zeigt den Weg. Dort setzte der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) in seinem Wahlkampf ganz auf Themen der prosperierenden Hansestadt und verzichtete wohlweislich auf die Unterstützung der Doppelspitze Esken/Walter-Borjans. Mit Erfolg. Überhaupt sollte man die Länder im Dorf lassen und Bundestags- und Landtagswahlen auf den gleichen Tag legen, wie es einst schon Ralf Dahrendorf vorschlug. Dann würden die nächsten Wahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg (beide am 14.03.2021) nicht wieder zu Testwahlen für den Bund degradiert. Die Hoffnung stirbt zuletzt, auch bei der sog. Christlich Demokratischen Union Deutschlands.

 

Erfolgsgeschichten

Rigoletto
Schluss mit lustig. Rigoletto gewahrt seine tote Tochter Gilda in der Aufführung von 2009. © FIko Freese / drama-berlin.de

RBB Kultur überträgt live, fast alle Plätze der  eindrucksvollen Kirche am Hohenzollernplatz in Berlin-Wilmersdorf sind schon um halb zwölf besetzt: alle wollen den 500. NoonSong erleben. Spiritus rector dieser neuen ökumenischen Gottesdienstform ist Professor Stefan Schuck, der – orientiert am englischen Evensong – im November 2008 mit dem wunderbaren A-cappella-Chor sirventes berlin im kleinen Kreis mit dem NoonSong immer sonnabends um 12 Uhr begann. Liturg beim Jubiläum ist der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland Prof. Dr. Wolfgang Huber; an der Orgel spielt Daniel Clark. Aus dem Geheimtipp ist längst eine (auch touristische) Attraktion geworden, die Menschen strömen in die Kirche von Fritz Höger (von ihm stammt auch das Chilehaus in Hamburg) – und halten inne beim NoonSong. Inzwischen umfasst das Repertoire von sirventes berlin über 400 A-cappella-Motetten, Musik von nahezu vergessenen, aber auch zeitgenössischen Komponisten.

Unser „Ferienkind“ war natürlich begeistert, und ohne unseren Gast wären wir kaum auf die Idee gekommen, im Repertoire der Berliner Bühnen zu stöbern, weil wir dermaßen verwöhnt von Premieren sind mittlerweile. Barrie Koskys Inszenierung des „Rigoletto“ von 2009 ist best choice für diesen Sonntag, zumal die Komische Oper bereits um 16 Uhr spielt. Das Haus ist im Parkett nahezu ausverkauft, und die Aufführung hat kein bisschen Staub angesetzt. „It’s a comic opera“, befindet der Regisseur im gewohnt anregenden Programmheft, „that horribly goes wrong.“ Am Schluss vergeht nicht nur dem „traurigen Clown“ Rigoletto (Nikoloz Lagvilava erhält den stärksten Applaus) das Lachen, wir alle verfolgen gebannt Verdis Oper bis zum bittersten Ende. Und sind schon gespannt auf die Inszenierung im Somma bei den Bregenzer Festspielen, zu der uns allerbeste Freunde eingeladen haben.

Einen Lauf hat derzeit auch die Deutsche Bahn, die angesichts der Klimakatastrophe von der Politik gehätschelt & gepäppelt wird. Die Reduzierung der Mehrwertsteuer auf die Tickets gab die DB an ihre Kunden weiter und konnte im Jänner 1 Million zusätzliche Kunden verbuchen. Oha, hatte ich schon befürchtet! Doch bei meinen ersten Reisen in 2020 gab es bis dato überhaupt keine Verspätungen oder sonstigen Probleme; natürlich war ich während des Orkantiefs Sabine nicht unterwegs. Die Inlandsflüge gingen im letzten Jahr übrigens weiter zurück – auf der Strecke Berlin – Köln verbraucht das Flugzeug zehnmal so viel CO2 wie die Bahn (co2online); gleichwohl wurde 2019 mit 124,4 Millionen Fluggästen ein neuer Rekord erzielt. Hurra, wir fliegen noch. Leider viel zu viel!

Life’s a Bitch

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Unikum mit vielen Talenten: Anna Mateur, die übrigens von der Agentur Rampensau Berlin vertreten wird. © David Campesino

Im letzten November konnte man sie in der trashigen Western-Show „Die 5 glorreichen Sieben“ in der „Bar jeder Vernunft“ in Berlin erleben, nun lässt’s die grandiose Anna Mateur dort mit „The Beuys“ krachen. Lust am Spiel mit Rollen, Hintersinn, Ironie und Aberwitz kennzeichnen das neue Programm von Anna Mateur. Sicher darf man sich bei ihr nie sein, sie teilt aus und nimmt sich mit ihrer ganzen Fülle dabei keineswegs aus. Sie liebt das Grimassieren, blitzschnell können Szenen kippen – in puren Trash, surreale Phantasien oder nachdenkliche Sottisen. Dann und wann plädiert die Dresdnerin für die Mitte, ohne diese Einwürfe weiter politisch zu vertiefen. Mit ihren „Beuys“ (den beiden hervorragenden Gitarristen Samuel Halscheidt & Kim Efert) zeigt die Mateur noch einmal in den Zugaben ihre Extraklasse. „Black Coffee“ haben wir so extrovertiert jedenfalls noch nie gehört. Vom 27.10. – 31.10. sind die „Kaoshüter“ mit ihrem sog. Musik-Kabarett, eigentlich ein Gesamtkunstwerk, wieder in der „Bar jeder Vernunft“. Vormerken!

Natürlich könnte die Mateur auch den Satz „Life is a Bitch“ im Scat zerlegen, der einmal in der zweiten Staffel von „Bad Banks“ (ZDF) in „Das Leben ist ein Arschloch“ übertragen wird. Diese Übersetzung überzeugt so wenig wie die ganze Fortsetzung. Wie unter Speed wird erzählt, springt der Schnitt zwischen Städten und Kontinenten, dunklen Machenschaften und üblen Intrigen. Das ist von allem zu viel und deshalb zu wenig. Schon nach den ersten beiden Folgen interessieren mich die verworrene Story und ihre mit vollem Körpereinsatz agierenden Figuren nicht weiter. Bank, Sex & Crime öden schließlich nur noch an, während mich derzeit „The Affair“ und „Homeland“ in Bann ziehen. Beide Serien aus Amerika sind vielschichtiger angelegt und werden mit ruhiger Hand erzählt. Weniger ist mehr.

Ein Arschloch ist das Leben nicht, aber es ist hart und manchmal auch ungerecht, erst recht im hektischen, politischen Geschäft. Nun hat Annegret Kramp-Karrenbauer hingeschmissen, nachdem sie die Linie der Partei in Thüringen nicht hat durchsetzen können. „Kramp-Karrenbauer“, kommentiert der Münchner Merkur (11.02.2020), „durfte immer nur die Als-ob-Vorsitzende sein: eine Königin ohne Land, mit Amt, aber ohne Gestaltungsmöglichkeiten. Jetzt ist sie Merkels letztes Opfer geworden.“ Nun kann sich die Kanzlerin nur noch selbst opfern. Sie schaffen das, Frau Merkel! Down under wird man noch deutlicher. „Die eigentliche Verantwortung“, schreibt das neuseeländische Online-Medium NEWSROOM, „liegt bei Merkel, die ihre Partei über 20 Jahre hinweg in diese Katastrophe geführt hat. (…) Thüringen zeigt die dramatischen Folgen von zwei Jahrzehnten Merkelismus: Eine Partei, die keine tief verwurzelten Überzeugungen hat und sich mit dem Wind der Meinungsumfragen dreht, kann einfach keine Sicherheit, Zuverlässigkeit oder Vorhersehbarkeit schaffen – geschweige denn ein Land führen“ (zitiert nach Deutschlandfunk, Internationale Presseschau, 14.02.20). It’s time to say Goodbye.

Das Gesetz bin ich!

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Auf Streife in Montfermeil. Stéphane (Damien Bonnard), Chris (Alexis Manenti) und Gwada (Djibril Zonga) v. l. in dem höchst beeindruckenden Film „Die Wütenden – Les Misérables“ von Ladj Ly. © Wild Bunch Germany GmbH

Wir lieben die Berliner Kiez-Kinos, in denen man noch Filme anschauen kann, die andernorts schon längst nicht mehr laufen, wenn sie dort überhaupt gezeigt wurden. An einem regnerischen Sonntagabend machen wir uns auf zum abgeschrabbelten Bundesplatz-Kino; drei Dutzend Fans – wir sind beileibe nicht die Jüngsten (!) –  wollen „Miles Davis. Birth of the Cool“ sehen. Fassungslos erleben wir, wie der Trompeter vor einem Club, in dem er ein Konzert gibt, von einem rassistischen Cop zusammengeschlagen wird. Seine Kälte und seine sprichwörtliche Arroganz sind eine Reaktion darauf, einer der größten Jazzmusiker des 20. Jahrhunderts bleibt immer auf Distanz: zu anderen Musikern, zum Publikum – und auch zu seinen Frauen. Drogen und Schmerzen begleiten ihn fast das ganze Leben; seine große Liebe Frances verlässt ihn, weil Miles sie in rasender Eifersucht geschlagen hat. Mehrfach ist er am Boden zerstört, immer wieder kommt er zurück. Getrieben erfindet sich der geniale Musiker ein ums andere Mal neu und nimmt Meisterwerke auf. Sein Album „Kind of Blue“ (1959) steht übrigens gerade in den aktuellen deutschen Media Jazzcharts auf Platz 3.

„Das Gesetz bin ich“ – davon ist auch ein französischer Cop in Montfermeil überzeugt. Der Ort liegt in der Nähe von Paris, ein multikultureller Schmelztiegel mit eigenen Regeln & Strukturen. Die zynische, herablassende und menschenverachtende Art dieses Chris widerstrebt seinem neuen, zivilisierten Kollegen Stéphane; der Dritte im Team, der farbige Gwada, steht gewissermaßen zwischen ihnen. Vom ersten Moment an entwickelt Die Wütenden – Les Misérables, der erste Spielfilm von Ladj Ly (er ist in Montfermeil aufgewachsen, seine Familie stammt aus Mali), einen unwiderstehlichen Sog. Eine latente Aggression prägt alle Handlungen – und muss schließlich eskalieren. Zwar endet dieser höchst beeindruckende Film nicht ganz ohne Hoffnung, aber ich verlasse das „Orfeo-Kino“ in Frankfurt ganz benommen und mitgenommen. Selten hat mich ein Film so aufgewühlt, ich denke immer wieder an die Worte von Victor Hugo, die Ladj Ly ans Ende gestellt hat: „Merkt Euch, Freunde! Es gibt weder Unkraut noch schlechte Menschen. Es gibt bloß schlechte Gärtner.“

Kemmerich who? Bis vor zwei Tagen hatte wohl kaum einer vom FDP-Politiker Thomas Kemmerich gehört, der im dritten Wahlgang mit einfacher Mehrheit zum Ministerpräsidenten von Thüringen (2,1 Mio Einwohner) gewählt wurde – mit den Stimmen der AfD. Das ist zwar legal, aber dieses abgekartete Spiel ist nicht legitim und schadet unserer Demokratie. Willentlich & wissentlich haben die Landesverbände von FDP und CDU in Kauf genommen, dass Kemmerich mit den Stimmen der AfD gewählt wurde. Beide Parteien haben wieder einmal bewiesen, dass sie auf dem rechten Auge blind sind und eiern jetzt herum. Zwar will Kemmerich nun zurücktreten, aber für die Krise in Thüringen sind er und die politischen Hasardeure seiner Partei und der CDU unter Mike Mohring verantwortlich. Den Schaden haben wir alle, und die AfD lacht sich ins Fäustchen.