Versöhnung im Scheitern

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Die überraschende Wiederkehr der Romantik im neuen Roman des großen Zynikers.

Michel Houllebecq äußert sich als öffentliche Person gelegentlich skandalös, jedenfalls gemessen am common sense eines aufgeklärten, linksliberalen Bildungsbürgertums: Homophob, islamophob und frauenverachtend. Und Donald Trump findet seine Zustimmung wegen dessen antiglobalem Nationalismus und wegen dessen so ganz und gar nicht politisch korrekter, dafür umso deutlicherer Sprechweise. Trump scheint ein Mann nach Houllebecqs Geschmack, ein Macho, ein Womenizer, furchtlos, viril, chauvinistisch, rassistisch, egozentrisch, frei von Selbstzweifeln. Glaubt man Personen wie Frédéric Beigbeder, die Houllebecq persönlich kennen, dann ist das nicht als lediglich provokative Haltung aufzufassen, sondern die volle Überzeugung der Person Michel Houllebecq, die sich damit disqualifiziert für die Teilhabe an einem humanistischen Diskurs in der Folge der Aufklärung.

Und dennoch: die Werke dieses Autors erfreuen sich immenser Beliebtheit, werden von den – überwiegend linksliberalen – Feuilletons gefeiert, ja selbst von feministischer Seite erfährt sein Werk Zuspruch. Ganz offensichtlich kann Houllebecq als Paradebeispiel für die Trennung von Autor und Werk gelten, als Beispiel dafür, dass die Bedeutung eines Werks nicht an der politischen Moral des Künstlers gemessen werden darf  – wie das übrigens in totalitären Gesellschaften Usus war und ist. Die Kunstgeschichte kennt viele moralisch defizitäre Künstler, von der Renaissance (Caravaggio, Cellini, Bernini) über die Moderne (Marinetti, Picasso, Benn, Jünger) bis in die Gegenwart, wo im Zuge der #MeToo-Bewegung ganze Heerscharen an Malern, Regisseuren, Schauspielern, Komponisten, Choreografen, Dirigenten und Musikern  in ihrer Immoralität geoutet wurden. Die strafrechtliche Verfolgung von Verfehlungen ist Sache der Justiz, nicht aber zugleich die Zensur der Kunstwerke, die heute zusehends einem moralischen Rechtfertigungszwang unterliegen, der die Freiheit der Kunst insgesamt gefährdet.  In der digitalen Moderne (Hanno Rauterberg) wird die Freiheit der Kunst immer weiter eingeengt durch den Anspruch auf Rücksichtnahme auf jede nur denkbare Empfindlichkeit einzelner Gruppen, Ethnien, Gender, Religionen, Kulturen und Handicaps. Die Freiheit der Kunst, ihre Autonomie, besteht aber gerade darin, sich nicht den politischen und sozialen Zwängen der political correctness beugen zu müssen. Im Gegenteil, es ist geradezu ein Wesenszug  ihrer Freiheit, anarchistisch, quer zum herrschenden Diskurs zu stehen. Daran muss man in unseren Tagen wieder erinnern.

Und damit komme ich zu „Serotonin“, dem jüngsten Roman Houllebecqs.  Sein Roman strotzt nur so vor politisch inkorrekten Ausdrücken („Homohimmel“, „fette Schlampe“), vor expliziter Pornografie, vor radikaler Gesellschaftskritik, nirgends nimmt er ein Blatt vor den Mund, sondern „rülpst“ seine „Wahrheiten“ dem Leser ungefiltert ins Gesicht. Diese schonungslose Direktheit ohne Rücksicht auf irgendwelche Empfindlichkeiten potentieller Leser, das ist ein anarchistisches Element, spricht jeder political correctness Hohn, ist Freiheit der Kunst, und wird wohl von vielen Lesern nachgerade als befreiend empfunden. Der apodiktische Stil Houllebecqs, in seiner Maßlosigkeit auch urkomisch, darf jedoch nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen über das Gesagte verführen. Bei aller verbalen Kraftmeierei bilanziert in diesem Roman ein Möchtegern-Macho, tatsächlich aber ein überaus schwacher, wehleidiger Protagonist sein gescheitertes Leben. Dessen Beruf als leitender Angestellter in der Land- und Forstwirtschaftsbürokratie führt ihm die Absurdität einer Agrarpolitik vor Augen, die in der zynischen Erkenntnis gipfelt „Monsanto oder der Hungertod“. Hinzu kommt eine enttäuschende Liebesaffäre mit einer Japanerin, die außer sexueller Libertinage keine Zukunft verspricht.  Diese Frusterfahrungen bewegen ihn dazu, der Politik und der Gesellschaft den Rücken zu kehren. Er kündigt seinen Job, verkauft seine Wohnung und verschwindet aus seinem bisherigen Leben in der Anonymität einer abgelegenen Hochhauswohnung in einem deklassierten Wohnviertel.  In „Serotonin“ blickt Florent-Claude, eine Art  Anti-Held, auf sein gescheitertes Leben zurück. Dieses Leben ist für ihn nur zu ertragen durch die immer höhere Dosierung des Antidepressivums Captorix (Wirkstoff Serotonin), das es ihm immerhin ermöglicht, seinen Alltag zu „formalisieren“, allerdings um den Preis der Impotenz. In dieser Lebensbilanz, konsequent aus der Ich-Perspektive erzählt,  wird dem Protagonisten des Romans schmerzhaft klar, dass er zweimal die Chance hatte, seinem Leben eine sinnvolle Wendung zu geben, aber beide Chancen weggeworfen hatte in dem Glauben an „individuelle Freiheit“, ein „offenes Leben mit unbegrenzten Möglichkeiten“, wie es dem damaligen „Zeitgeist“ entsprochen habe. Die falsch interpretierte Freiheit zu schrankenloser Selbstverwirklichung des Individuums verleitete den Ich-Erzähler zu einem sexuell ausschweifenden, dem egozentrischen Lustprinzip folgenden Lebensstil, ohne dabei glücklich werden zu können. Im Gegenteil: eine höhere Dosierung erwies sich hier im Rückblick als kontraproduktiv, zerstörerisch für das angestrebte Glück. Dieses erkennt Florent-Claude im Nachhinein in der monogamen Liebe von Mann und Frau – was für ein Kontrast zu dessen triebgesteuertem Macho-Dasein. Dass die beiden Frauen Ärztinnen waren, mit denen das gelungene Leben rückblickend möglich gewesen sein soll, entspricht der Vorstellung der Heilung des Mannes aus seiner Triebverstrickung  durch die Frau.  Der Protagonist Houllebecqs erweist sich als Romantiker, wenn er am Ende seines Daseins bilanziert: „Wir (er und seine damalige Freundin Kate) hätten die Welt retten können, und wir hätten sie in einem Augenblick retten können, wie der Deutsche sagt, aber wir haben es nicht getan, das heißt, ich habe es nicht getan, und die Liebe hat nicht obsiegt, ich habe die Liebe betrogen.“ Und weiter: „ich werde mein Leben unglücklich, griesgrämig und einsam beschließen, und ich werde es verdient haben.“  Von der Weltrettung durch Liebe „in einem Augenblick“ ist es nur noch ein kurzer Weg zum Christentum – und ähnlich wie die deutschen Romantiker – bekennt sich Florent-Claude kurz vor seinem selbstbestimmten Ende zu dem Wunder der „überschwänglichen Liebe Gottes“,  zu Jesus Christus, der verärgert über die „Verhärtung der Herzen“  fragt: „Muss ich wirklich noch mein Leben für die Erbärmlichen geben?“. Worauf die Antwort – zugleich der Schlusssatz im Buch –  lautet: „Offenbar ja.“ Es bleibt ambivalent, wie dieser Schluss zu deuten ist: sieht sich die Romanfigur etwa  in einer krankhaften Wahnvorstellung als Märtyrer in Analogie zu Christus? Oder hat hier gar der Autor selbst das letzte Wort? Hat er nicht erst kürzlich eine Japanerin geheiratet? Die Freiheit der Kunst besteht eben auch in ihrer Uneindeutigkeit.

Es ist eine unerwartete Volte, dass der chauvinistische Zyniker und Agnostiker Houllebecq seine Romanfigur im Scheitern zum christlich-romantischen Konzept der Versöhnung mit der Welt durch Liebe finden lässt. Hier spricht das Werk eine ganz andere Sprache als der politische Diskurs des Autors nahelegt. Kunst  lässt sich nicht auf einen Deutungsansatz  verengen. „Serotonin“ ermöglicht viele weitere, auch sich widersprechende Lesarten.

Michel Houllebecq, Serotonin, Köln, DuMont Buchverlag 2019

Pong

Losungen & Lösungen

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Auf ins Land, wo die Zitronen blühn. Foto: Susanka E.

Was für ein Unterschied. Mit dem Bus zum Regionalflughafen Tegel und dann landen wir nach zwei Stunden Flug auf einem richtigen Airport: Rom Fiumicino. Eine ganz andere internationale Welt. Das Gepäck kommt schnell, und der Zug nach Trastevere steht schon bereit. So geht Flughafen, möchte man den Piefkes in Berlin eine Nase drehen, denen inzwischen dämmert, dass man die U 7 eigentlich zum BER verlängern könnte. Guten Morgen, die Herren. Bald sind sieben Jahre seit der ersten (!) geplanten Eröffnung vergangen, und noch immer raunt man von Kabel-Chaos und möglichen Verzögerungen. Warum plant man einen Flughafen oder – um ein anderes Beispiel zu nennen – den Hauptbahnhof nicht zusammen mit der nötigen Verkehrsinfrastruktur? Warum glaubt man, einen tollen Deal zu machen, indem man mit Milliardenverlust Wohnungen zurückkauft, die man in den 90er Jahren vertickt hat? Die dringend benötigten neuen Wohnungen entstehen so nicht, aber mit solchem Aktionismus bekommt man in Berlin allemal Beifall.

Den hat sich redlich eine gewisse Manuela verdient, die uns vor Weihnachten mit einem Mini TT Table (net included) überraschte. Längst hat sich herausgestellt, dass hinter dieser Überraschung nur einer stecken konnte: Advantage Pong! Auch im Spiel war der Meister für Ping einige Nummern zu groß, obwohl er nur mit einem Mini-Schläger spielte. Ich werde hart trainieren müssen, aber vor allem macht es richtig Spaß. Das weiß anscheinend auch die Personalausweisbehörde, denn sie verpasste Pong ein persönliches Sperrkennwort: Tischtennis. Ich bin fassungslos, wie der Crack das wieder gedreht hat, wenn es denn stimmt und nicht eine grandiose Erfindung ist.

Nun sitze ich in Rom an meinem Rechner und mache hier meinen Job. Vom Müll-Notstand, von dem ich kürzlich in der Tagespresse gelesen habe, ist in Trastevere nichts zu bemerken. Eben habe ich aus dem Fenster geschaut und die Müllmänner bei ihrer Arbeit beobachtet. Gegenüber auf dem Balkon hängt eine EU-Fahne; dort kann kein schlechter Mensch wohnen. Ob es ein Engländer ist, der nach Rom geflohen ist? Einer, der nicht mehr begreift, was auf der Insel abgeht? Zum guten Schluss daher noch zwei ungebetene Ratschläge: Theresa May sollte sofort zurücktreten. Und warum nicht einen harten Brexit auf Probe. Drei Monate Chaos total und dann schauen wir mal. Good Luck!

Ping

Auf der Suche

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Auf der Suche nach Gemütlichkeit 1969: Verner Pantons Kantine des „Spiegel“.

„Wir bringen euch hin. Hamburg liegt jetzt an der Spree“, lese ich überrascht im Display des Fahrscheinautomaten. Wir trauen der BVG durchaus weniger zu und buchen lieber bei der krisengeschüttelten Deutschen Bahn. Freunde haben uns zu einem Wochenende eingeladen – und schwups sind wir auch schon da. Eine zweite Hörprobe in der Elbphilharmonie steht erst morgen an, aber „68. Pop und Protest“ geht immer. Die großartige Ausstellung saugt uns förmlich an. Bilder, die zum kollektiven Gedächtnis gehören, werden projiziert, ein Fackel-Lauf der Studenten in Berlin läuft als Endlos-Schleife. Wir erleben 1968 hautnah in Filmausschnitten und Dokumenten; der dunkle Raum im „Museum für Kunst und Gewerbe“ nimmt uns mit in eine aktuelle Vergangenheit, als noch Hoffnung auf gesellschaftlichen Fortschritt war. Aufbruch auch in der Musik, in der Mode und im Design, wenn auch die Ästhetik der originalen Kantine des „Spiegel“ heute doch sehr befremdet.

In der Elbphilharmonie fühlen wir uns heimisch, sitzen fabelhaft und staunen wieder über dieses Meisterwerk moderner Architektur, das uns dieses Mal auch akustisch überzeugt, beim gewaltigen 1. Klavierkonzert von Brahms ebenso wie bei seiner letzten Sinfonie. Die Instrumente lassen sich einzeln ausmachen und finden doch zu einem großartigen Klang unter Kent Nagano zusammen, obwohl man sich nur in der Generalprobe auf die schwierige Akustik in der Elbphilharmonie einstellen konnte. Am Abend davor verließ das Publikum reihenweise das Haus, weil es nichts von seinem Star hören konnte. Jonas Kaufmann war darob so erbost, dass er nie wieder in der Elbphilharmonie auftreten möchte.

Die Suche nach dem Klang beschäftigt auch das Eröffnungsfestival „100 Jahre Bauhaus“ in der Berliner Akademie der Künste. Gibt es einen „Bau.Haus.Klang“? Wer da nur formal an Zwölftonmusik oder gar Minimal Music denkt, wird vom furiosen Auftritt einer Gruppe um Michael Wollny eines Besseren belehrt– klanggewordene Dialektik von formaler Strenge und Experiment & Ekstase. In diesem Geist des Widerspruchs ist das ganze von Bettina Wagner-Bergelt kuratierte Festival zu verstehen, das klug auf big names wie Wollny und Robert Wilson setzt und gleichzeitig kaum bekannten Klangtüftlern wie dem originellen Instrumentenbauer Ferdinand Försch eine Bühne bietet. Das gefiel auch dem Bundespräsenten Frank Walter Steinmeier, der seine prägnante Rede mit einem Wort von Robert Gernhardt schloss: „Gut gefühlt / Gut gefügt / Gut gedacht / Gut gemacht.“ Lob an das gesamte Festival-Team. Gut gemacht!

http://www.bauhausfestival.de/news/

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1913. Die Fortsetzung

u1_978-3-10-397360-0Ein ärgerliches Buch, kein zweiter Coup.

Mit seinem Buch „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“, erschienen im Herbst 2012,  war Florian Illies ein Bestseller gelungen, der sich bis heute über 1 Million Mal verkaufte. Damit hatte Illies all jene überrumpelt, die fleißig an ihren Büchern zum kalendarisch verabredeten  Jubiläumsjahr saßen, dem Jahr des Kriegsausbruchs 2014. Ein weiterer Coup bestand darin, dass Illies jene unmittelbare Vorkriegszeit nicht in einem unheilvoll dramatischen Licht zeichnete, sondern Anekdoten vornehmlich aus Künstlerkreisen im humoristischen Plauderton erzählte, die in der Zusammenschau ein buntes, ganz und gar nicht unheilvolles Bild jenes Sommers ergaben. Das war neu, widersprach der gängigen Erwartungshaltung, war eine Überraschung.

Sechs Jahre später, im Herbst 2018,  versucht Florian Illies nun, diese Erfolgsgeschichte einfach fortzuschreiben und nennt sein neues Buch „1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte“. Was die kommerzielle Seite betrifft, wird die Rechnung wohl auch aufgehen, das Buch liegt bereits in der 3. Auflage vor. Die Leser lieben offensichtlich gehobenen Tratsch. Dennoch ist das mit dem Remake eines Blockbusters immer so eine Sache. Der Überraschungscoup lässt sich nicht wiederholen, die Masche ist bekannt, die Zeit weiter gelaufen und heute wäre wohl ein Werk über das Jahr 1918/19 von höherem Interesse als nachgereichte Anekdoten. Volker Weidermann hat es mit seinem Buch über die Wirren der Münchner Räterepublik „Träumer. Als Dichter die Macht übernahmen“ eindrucksvoll gezeigt.

Ärgerlich an diesem Remake von Illies ist dessen penetrant lockerer Erzählton, flapsig, lakonisch, ironisch, mitunter kalauernd und sprachlich gelegentlich an der Grenze zum Groschenroman. Da wird zwischen den disparaten Begebenheiten hin und her geschaltet wie in einer Livereportage, es werden krampfhafte Überleitungen gebastelt, um Ereignisse verbal miteinander zu verbinden, die nichts miteinander zu tun haben. Das geht dann so: „1913“, behauptet er, „ist das Jahr, das das 19. Jahrhundert und das 20. Jahrhundert unauflöslich miteinander verbindet.“ Nun ist man gespannt auf die Begründung, was gerade das Jahr 1913 so besonders macht.  Doch er fährt fort: „Kein Wunder, dass deshalb am 29. April 1913 Gideon Sundback das Patent für den Reissverschluss erhält.“  Da muss man sich dann doch wundern.  Diese Beliebigkeit hat Methode:  Isidora Duncan bekommt ein Kind, Illies formuliert das „Ende 1913 wächst in ihrem Bauch ein kleiner Romano Romanellino“, um anzuschließen „Passend dazu entwickelte … Alfred Sturtevant die erste DNA-Analyse“, doch der habe sich für die Darstellung des Chromosoms „nicht den kleinen Romanellino, sondern die Fruchtfliege Drosophila ausgesucht“.  Wäre also auch das geklärt. Nicht mehr flapsig, sondern geschmacklos muss es man nennen, wenn Illies über das indische Mathematikgenie Ramanujan schreibt, es sei eine „eigene Zeitschrift, das ‚Ramanujan Journal‘ erschienen, um die Überfülle seiner Resultate, Rechenmodelle und Lösungsvorschläge zu publizieren. Kurz darauf stirbt er. Nur damit hatte er nicht gerechnet.“ Oder auch Alfred Lichtenstein. Dieser war „am 1. Oktober als Einjährig Freiwilliger in das Zweite Bayerische Infanterieregiment eingetreten. Und er hatte das mit dem ‚Einjährigen‘ ernst gemeint: Er fällt am 25. September 1914, also genau ein Jahr später.“ Für eine Pointe ist Illies nichts zu schade. Da spielen Maxim Gorki und Lenin auf Capri Schach „und überlegten, welche Bauernopfer es brauchte, um Russlands König endgültig matt zu setzen“. Mag das noch als Ironie durchgehen, so wird es dann endgültig peinlich, wenn Illies sich nicht entblödet, das Geschenk Pablo Picassos an Gertrude Stein und deren Freundin, das Bild eines einzelnen Apfels, so zu kommentieren: „Damit sie auch morgen noch kraftvoll zubeißen können.“  Ach ja und dann wären da noch die Frauen, Modelle, Schauspielerinnen, Femmes Fatales, Künstlerinnen, die es Illies offensichtlich angetan haben. Gerne referiert er im Stile eines Dirty Old Man deren Vorliebe, „splitternackt“ (nur nackt genügt ja nicht) oder auch „nackt wie Gott sie schuf“ aufzutreten. Die Geliebte Ernst Ludwig Kirchners, Erna Schilling,  läuft da „meist ganz nackt am Strand herum“ und Illies weiß zu berichten, dass Kirchner und Erna  mit einem Glas Wein am Strand liegen und  „hinten in der Ferne geht die Sonne langsam unter. Erna liegt schnurrend in seinem Arm. Und er hat eigentlich schon wieder Lust auf sie“. Nicht nur, dass dieses reinster Kitsch ist, sondern Illies schlüpft hier in die Rolle des Voyeurs, der an anderer Stelle gesehen haben will, dass Isidora Duncan „nackt unter ihrer Tunica posierte“. Ja so was aber auch: nackt unter der Kleidung. Dieser Voyeurismus gilt aber nicht allein dem Erotischen, es ist vielmehr die Erzählposition des Autors in gottgleicher Warte. Er sieht alles, sogar die feinen Kringel des Zigarettenrauchs auf Capri aufsteigen und als Nachgeborener weiß er natürlich auch immer, wie die Geschichte ausging. Dieser Autorgott amüsiert sich über das Gewusel des Menschen anno 1913, ihre Schicksalsschläge, ihre Schwächen, ihre Unwissenheit über das was kommen wird. Es ist ein mitleidloser Gott. Einzig Marcel Proust scheint er zugewandt. So zählen die Geschichten über Marcel Prousts nicht enden wollende Kollage- und Korrekturarbeit an seinem Roman „A la Recherche du Temps perdu“  zu den stärksten Episoden dieses Buches.  Wie dieser Jahrhundertroman  lange Zeit keinen Verleger fand.  Wie Proust selbst den Überblick über sein Mammutwerk zu verlieren drohte. Wie er sogar seinen Chauffeur und Liebhaber in den Entstehungsprozess einspannte. Wie er von diesem Liebhaber finanziell ausgebeutet wurde, bevor dieser mit einem von Proust geschenkten Flugzeug davonflog und sich sinnigerweise unter dem Pseudonym Marcel Swann versteckte, bevor er ins Meer abstürzte, das ist großer Stoff. Und zum Erscheinen von „A la Recherche“ kaufte sich Proust Rezensionen auf den Titelseiten großer Journale für sehr viel Geld, Rezensionen die er auch noch selbst verfasst hatte. Solches hat der neue Rowohlt Verleger Florian Illies mit Sicherheit nicht nötig.

Florian Illies, 1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte. Erschienen im Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2018

Pong

Vom Reisen

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Symptom einer Krise: Der ICE blieb vor der Einfahrt liegen.

So kann eine Reise beginnen. Der ICE taucht pünktlich vor dem „Zukunftsbahnhof“ Berlin-Südkreuz auf, fährt langsam ein – und bleibt liegen. Oha, da kommt Freude auf, denn so eine Panne habe ich nach über 500.000 km noch nie erlebt. Die Lichter gehen aus, die Crew verlässt das Cockpit, kommt wieder zurück und legt den Rückwärtsgang ein. Nichts passiert, nichts geht mehr. Wie kann denn das passieren?  Der Zug kommt nicht aus Moskau, sondern vom Gesundbrunnen (!) in Berlin und ist gerade mal zwanzig Minuten unterwegs! Ich werde von einem anderen Zug „aufgenommen“ und beobachte per App, dass auch der liegen gebliebene ICE Frankfurt mit einer Stunde Verspätung erreicht. Lieber später als besoffen. Gestern hielt ein ICE nicht in Wittenberg – der Lokführer hatte fast 2,5 Promille.

Kaum in Frankfurt bin ich auch schon wieder auf der A3 Richtung Köln unterwegs. Ich besuche einen Freund in Bad Camberg. Als ich die Klinik verlasse und wieder im Auto sitze, höre ich im Deutschlandfunk die letzten Minuten einer Reportage, die mich sofort interessiert: „Sterben nach Plan. Protokoll einer letzten Reise“. Zum Glück gibt’s ja die DlF Audiothek zum Nachhören. Doch ich bleibe live dran und werde von dem Feature „Menschen ohne Gesicht. Ein Kapitel aus dem Ersten Weltkrieg“ in den Bann gezogen. „Auf deutscher Seite“, lese ich später auf der Seite des Senders, „überleben etwa 1,5 Millionen Kriegsversehrte den ersten industrialisierten Krieg: arm- oder beinamputierte oder erblindete Soldaten. Und Soldaten mit von Granatsplittern zerfetztem Gesicht. Diese Heimkehrer waren nicht resozialisierbar. Sie konnten den entsetzten Blicken der Öffentlichkeit nicht standhalten, lebten weltabgeschieden dahin, isoliert von der Gesellschaft, ohne Arbeit, ohne Würde.“ Der Beitrag läuft noch, als ich schon mein Auto im Hof abgestellt habe; gebannt höre ich weiter zu. Kein Theaterstück, keine Oper, kein Film hat mich in letzter Zeit so beeindruckt.

Tags drauf tanke ich in Zwingenberg. Ein Mann aus Pforzheim wünscht mir im Neuen Jahr immer eine gute Fahrt. „Ich bin aber nicht der Tankwart“, antworte ich überrascht. Er freut sich und lacht. Kürzlich erst habe ich entdeckt, wie ich mittels Bluetooth Handy & Anlage im Auto verbinden kann – und höre auf der Rückfahrt endlich den Beitrag vom Vortag zu Ende. Wieder steige ich erst aus, als schon der Abspann läuft. „Sie wollen gemeinsam sterben. Sie sind alt, aber nicht todkrank. Sie kennen den genauen Ablauf der Sterbebegleitung…“ Das Ehepaar, bald 50 Jahre verheiratet, möchte nicht mehr weiterleben, möchte nicht pflegebedürftig werden. „Ich habe keine Angst vor dem Sterben“, sagt die Frau ruhig und gefasst. Sie wird die tödliche Infusion selbst öffnen. Auch so kann eine Reise in die Schweiz enden.

 

Ping

Der alltägliche Wahn

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Uns wird das Lachen noch vergehen…

Wir haben nicht verstanden

Franck Ribéry isst in Dubai ein vergoldetes Steak für angeblich 1200 €, postet das in den sozialen Netzwerken und empört sich über den Shitstorm, den er dafür erntet. Ribéry-like greift er dabei zum derb-obszönen Rapper-F-Vokabular. Dass er jedoch für sich den Schutz seiner Privatzone reklamiert, Urlaub, Familie,  privates Essen usw. ist einigermaßen grotesk im Lichte der Tatsache, dass er selbst diese Story samt Bilder und Filmchen publizieren ließ. Sein Verein, der FC Bayern München, weilt zur gleichen Zeit im Nachbarstaat Katar im Trainingslager, nicht etwa wegen des südlichen Lichts. Dieses Trainingslager wird dem Verein vom Staats-Sponsor Katar-Airlines vergoldet.  Ausgerechnet Katar. Die selbsternannten Hüter der Unantastbarkeit der Würde des Menschen drücken hier beide Augen zu. So weit geht die Menschenliebe dann doch nicht, dass man auf ein lukratives Geschäft verzichten würde.  In Anbetracht dieser moralischen Anfechtbarkeit wird der Verein wohl einfach abwarten bis die Medien diese letztlich nur geschmacklose Mahlzeit und die verbalen Rüpeleien des angestellten Kickers Ribéry verdaut haben werden. Wir kleinen Leute, die wir unseren Urlaub selbst finanzieren müssen, sollten uns jedoch überlegen, in welche Staaten wir reisen und was wir essen möchten.

In Tokio wurde soeben ein neuer Weltrekord aufgestellt. Auf der ersten Thunfischauktion des Jahres wurde ein Blauflossenthun für die Rekordsumme von 2,7 Millionen € versteigert, macht umgerechnet 9800 € das Kilogramm, roh und unvergoldet. Dagegen ist dann Ribérys Steak ein Schnäppchen. Dass der Blauflossenthun, auch Roter Thun genannt, überfischt ist, unter Artenschutz gestellt gehört, wer wollte sich angesichts solch lukrativer Gewinnmöglichkeiten darum scheren? Konsequenterweise ist es, nicht allein – aber verlässlich immer in vorderster Front – die Fischindustrie Japans, die jegliche internationale Schutzbemühungen mit ihrem Veto blockiert. Aber auch wir kleinen Leute, die wir unser Essen nicht vergolden, sollten innehalten bevor wir die nächste Pizza Tonno in den Ofen schieben.

Im Pazifischen Ozean treibt eine Plastikmüllinsel mit dem gigantischen Ausmaß von 1,6 Millionen Quadratkilometern, das entspricht ungefähr viermal der Fläche Deutschlands.  Damit wäre The Great Pacific Garbage Patch mit Abstand das größte Land Europas. Eine wie eine Behelfskonstruktion aussehende  Gerätschaft mit dem euphemistischen Namen The Ocean Cleanup sollte anfangen diesen schwimmenden Müllberg abzubauen, funktionierte aber von Anbeginn nicht richtig und musste nach nur 3 Monaten unbefriedigenden Betriebs zu Reparaturzwecken abgeschleppt werden. Im Grunde handelt es sich hierbei um schwimmende Rohre, an denen 3 m in die Tiefe hängende Netze befestigt sind, in denen sich der Müll verfangen soll, um von Begleitschiffen geborgen werden zu können. Nichts gegen solche gutgemeinten Versuche, aber sie sind von der Erfindungsgabe und vom technischen Aufwand her geradezu lächerlich in Anbetracht der Größe der Aufgabe. Gleichzeitig gelingt den Chinesen mit der Landung eines Satelliten auf der Rückseite des Mondes eine ingenieurtechnische Meisterleitung, die wahrscheinlich mehr gekostet hat als sämtliche Blauflossenthunfische wert sind, die noch im Meer schwimmen. Was könnte man nicht alles bewerkstelligen, wenn derselbe finanzielle und wissenschaftliche Aufwand für wirklich drängende Probleme wie die Reinigung der Umwelt betrieben würde? Warum es nicht geschieht? Weil in erster Linie die Weltgemeinschaft davon profitierte und nicht der eigene Staat, das eigene Unternehmen. Wir kleinen Leute können nicht mit einem Netz in den Pazifik segeln, um Plastik zu sammeln, aber wir können uns überlegen, ob wir unser Mineralwasser in der Plastikflasche kaufen müssen. Ja, wir recyceln die Plastikflaschen. Aber was geschieht danach? Der gesammelte Müll wird geschreddert und nach Asien verschifft, wo er dann im Meer bei den Thunfischen landet.

Audi bringt einen Elektro-SUV, den e-tronauf den Markt. Im Werbespot rast ein  umweltblau – und nicht golden –  lackierter e-tron wie geisteskrank durch Wälder, über schneebedeckte Wege  und schmale Bergstraßen, ohne sich dabei zu beschmutzen. Das ist wichtig bei einem Konzern, dessen Vorstandsvorsitzender wegen Betrugsverdachts in der Abgasaffäre in Untersuchungshaft saß und nun unter strengen Auflagen auf seinen Prozess wartet. Audi braucht ein sauberes Image, der garantiert abgasfreie e-tronscheint da gerade recht zu kommen.  Dennoch hat Audi nichts verstanden. Mit dem Elektroauto sollte nämlich zugleich auch eine Wende in der Mobilitätspolitik einleitet werden mit dem Ziel, die Autos kleiner zu dimensionieren wegen akuten Platzmangels in den Kommunen und deren Geschwindigkeit zu reduzieren. Letzteres im Interesse eines dichteren Verkehrsflusses, um das steigende Verkehrsaufkommen kanalisieren zu können und im Interesse einer größeren Verkehrssicherheit. Dazu kommt noch, dass die Wende zur Elektromobilität einem allgemein gestiegenen Umweltbewusstsein Rechnung trägt und keine Aufforderung zur nur anders verlagerten Ressourcenverschwendung  darstellt. Auch Stromfresser sind nämlich Energieverschwender nicht nur im Betrieb, sondern auch in der Herstellung, hier besonders der Batterien. Ein Elektro-SUV mit 2,5 Tonnen Gewicht, umgerechnet rund 400 PS Leistung und einer Spitzengeschwindigkeit von über 200 km/h bei sagenhaften Beschleunigungswerten ist pure Unvernunft, schon jetzt ein umweltpolitischer Dino. Er wird sich dennoch gut verkaufen und die Käufer werden sich wegen der Nullemission als Avantgarde in Sachen Umweltschutz  verstehen.  Absurd. Wir kleinen Leute werden bei einem Einstiegspreis von ca. 80 000.- €  (gute 8 kg Blauflossenthun) zwar nicht in Versuchung kommen, sollten uns aber beim Erwerb des nächsten Autos dennoch zuvor gut informieren, denn es gibt sie schon, vernünftig dimensionierte Elektroautos zu akzeptablen Preisen, sofern man überhaupt noch der Besitz-Idee eines eigenen Fahrzeugs anhängt.

Pong

The Dark Side of the Moon

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Before the Dark Side of the Moon. (Foto: Berthold W. Franke)

Den sog. Neuen Kreativen sagt man gerne einen singularisierten Lebensstil nach: einzig- und eigenartig soll alles sein. Nicht leicht, da eine passende Silvesterveranstaltung zu finden, den Original Roncalli Weihnachtscircus mit dem Deutschen Symphonieorchester Berlin wollen zum 15jährigen Jubiläum ja nicht nur wir erleben. Was tun? Wir schnappen uns die Gäste aus Hindustan, sitzen mit ihnen in der Manege-Loge und fühlen uns singulär wie Bolle. Das Programm ist fabelhaft – die Artisten, das Orchester und die Sängerin im „Fischkleid“. Einzig Chistirrin kann als Pausenclown keinen poetischen Zauber entfalten. Dafür stockt uns der Atem zum Finale, als Kong Haito Stuhl auf Stuhl stapelt und dann unter der Kuppel des Tempodroms auf einer Hand balanciert. Solche Hochstuhlartistik haben wir noch nicht erlebt, auch nicht unsere weitgereisten deutschen Hindi-Gäste. Was Wunder, dass Kong beim 39. Internationalen Nachwuchsfestival „Cirque de Demain“ die Goldmedaille gewonnen hat – und aus China kommt.

In der Silvesternacht weiß hierzulande kaum einer, dass die Chinesen noch höher hinaus wollen. Die punktgenaue Landung einer Weltraumsonde auf der erdabgewandten Seite des Mondes ist ein Coup, vergleichbar mit dem Sputnikschock Ende der 50er Jahre. Donnerwetter! Das hat die Werkbank der Welt geschafft, das haben die Industriespione alleine hinbekommen. Zu diesem Paukenschlag passen zwei weitere Meldungen aus dem Reich der Mitte. Der Onlinehändler Alibaba baut in Belgien ein riesiges Logistik-Zentrum, und Präsident Xi Jinpeng droht Taiwan unverhohlen mit gewaltsamer „Wiedervereinigung“. Nicht mehr lange bleiben die Amerikaner die No. 1 der Supermächte, immer weniger zählt die Stimme eines uneinigen Europas in der Welt. Dass die Chinesen führend bei der digitalen Kontrolle und Steuerung der eigenen Bevölkerung sind, macht die Lage nicht gemütlicher, im Gegenteil.

Man lebte hinter dem Mond, würde man die Bedeutung der letzten beiden Medienskandale unterschätzen. Der Reporter Claas Relotius narrte die Dokumentation beim „Spiegel“ und manche Jury, und der Schriftsteller Robert Menasse schrieb gleich das Leben von Walter Peter Hallstein ein bisschen um. Den sog. Qualitätsmedien haben die beiden Spiegelfechter damit einen Bärendienst erwiesen und spielen all denen die Hände, für die News und Fake längst eins geworden sind. Von einer solchen „Eclipse of Reason“ hätten Horkheimer und Adorno nicht zu träumen gewagt. Es ist ein allherrschender Wahn, der da alltäglich als Wahrheit daherkommt.

Ping

Die ultimative Lektüreempfehlung zum Neuen Jahr und zu Neujahr

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So kann nur ein Österreicher schreiben.

Wer wir sind, wissen wir nicht. Beim letzten Durchzählen kam ich auf mindestens drei Personen, die jeder von uns ist. Erstens die, die er ist, zweitens die, die er zu sein glaubt, und drittens die, für die ihn die anderen halten sollen.
Als ich aufwache, geht es mir so elend, dass ich mit keinem der drei etwas zu tun haben will. Ich bin zu Hause. Im Fernseher läuft das Neujahrskonzert. (…) Neben mit liegt eine Frau. Ich kenne sie. Sie heißt Ina. Ich frage mich bloß, was sie da macht. Immerhin hebt und senkt sich ihr Brustkorb. (…)
Mir ist dieses Jahr schon jetzt nicht ganz geheuer.
Als ich meinen Körper nach Anzeichen von Gewalt absuchen will, läutet es an der Tür. Eine Sekunde Pause, dann wird wieder geläutet. Und das dritte Läuten hört gar nicht mehr auf. Es läutet. Es läutet. Es läutet. Es läutet. Es läutet. Es läutet.
Vor der Tür steht entweder
a) der Wahnsinn oder
b) die Polizei.
Panisch suche ich nach meinen Koksvorräten. Dass ich keine finde, beruhigt und ärgert mich gleichermaßen. Dann hört das Läuten auf. Also war es die Polizei. Der Wahnsinn hört nämlich nie auf. (…)
Überhaupt interpretieren manche Menschen in den 1. Januar zu viel hinein. Sie sagen, so wie der erste Tag wird das ganze Jahr. Als ob der Rest des Jahres etwas für den Anfang könnte. (…) Es liegt etwas in der Luft, schon seit einigen Jahren, das sich nun mehr und mehr verdichtet. Die Neunziger waren hell, und da, wo sie dunkel waren, waren sie prickelnd dunkel. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts ging es mit uns bergab. Wir wollten es noch nicht wahrhaben, wir hatten noch Restlicht von früher. In diesem Jahrzehnt sind wir nun angekommen, wo wir hingehören. Die Dunkelheit ist da.

So kann nur ein Österreicher schreiben, changierend zwischen Tiefsinn, Lakonie und abgründigem Humor. So eröffnet der Österreicher Thomas Glavinic seinen stilistisch wie kompositorisch und in der Detailfülle großartigen und nie langweiligen Roman Der Jonas-Komplex, ein gut 700 Seiten starkes Werk, das ein Kalenderjahr, das Jahr 2015, aus drei verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Aus der Perspektive eines drogensüchtigen Schriftstellers, aus der eines verwahrlost aufwachsenden Jungen und aus jener von Jonas, der bereits bekannten Hauptfigur aus Glavinic‘ Roman Das größereWunder.  Die Geschichten dieser drei Figuren werden im Laufe des Buches immer weiter miteinander verschränkt, so dass sie auch als zeitlich versetzte Fragmente eines Ich analysiert werden können. Jonas-Komplex ist zugleich auch ein Fachbegriff aus der Psychologie und bedeutet im Rekurs auf die biblische Figur des Jona so viel wie Davonlaufen vor einer eigentlich lösbaren Aufgabe mangels Selbstbewusstsein – nicht jedoch mangels Talent. Aber so wie Jona, der auf der Flucht vom Wal verschluckt und wieder am Ausgangsort ausgespuckt und damit (von Gott) gezwungen wird, sich der ursprünglichen Aufgabe zu stellen, so führen auch die Eskapismen der Protagonisten bei Glavinic immer wieder zurück zum Ausgangspunkt, jener Frage nach der schicksalhaften Verstrickung des Ich in Gesellschaft, Raum und Zeit. Sein Jonas flieht bis auf den Gipfel des Mount Everest aus Angst vor seinen eigenen Gefühlen gegenüber seiner Geliebten. Immer wieder die Grenzen des Ich auslotend bis in die Nahtoderfahrung, die Suche nach dem Daseinsgrund, ohne je Antworten zu finden, vielleicht echte Liebe, jenes größere Wunder, ausgenommen – das ist das zentrale Thema in Glavinic‘ Werk. Wer bin ich und wenn ja wie viele, diese von Richard David Precht philosophisch nur gestellte Frage, beantwortet Glavinic auf die einzig mögliche Weise: nämlich literarisch in ständigen Stil-, Perspektiv- und Ortswechseln: Wien – Tokio – Hamburg – Weststeiermark – Schwarzau am Steinfeld – Podgorica – Zuhause – Rom – Lissabon – Carlisle – London – Chanty-Mansijsk –  Boston – New York City – Warren, Vermont – Tirol – Graz – Santiago de Chile – Punta Arenas – Antarktis – Maria Loretto – Triest – Krk – Miami – Harrisburg – Mexico City – Guadalajara – nicht zu vergessen die vielen mit einem Fragezeichen versehenen namenlosen Orte. Die Welt ist nicht groß genug für eine Antwort. Überhaupt werden „Antworten überschätzt“, lässt Glavinic eine seiner Figuren sagen.

Der Jonas-Komplex endet mit den Zeilen:

Man gibt sich selbst zur Pacht. Man kriegt sich zur Miete. Man leiht sich von seinem späteren Ich aus. Ich grüße den, der ich in zehn Jahren sein werde. Ich werde mich bemühen, auf ihn aufzupassen. Soweit das eben möglich ist.
Das Kind kichert.
Mir fallen die Augen zu.
Das Kind lacht.
Der Nachbar schreit, er will die Sonne ficken.
Das finde ich irgendwie gut.

Ich auch!

Pong

Thomas Glavinic, Der Jonas-Komplex, erschienen im Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2016; derselbe, Das größere Wunder, erschienen im Hanser Verlag, München 2013