
Michel Houllebecq äußert sich als öffentliche Person gelegentlich skandalös, jedenfalls gemessen am common sense eines aufgeklärten, linksliberalen Bildungsbürgertums: Homophob, islamophob und frauenverachtend. Und Donald Trump findet seine Zustimmung wegen dessen antiglobalem Nationalismus und wegen dessen so ganz und gar nicht politisch korrekter, dafür umso deutlicherer Sprechweise. Trump scheint ein Mann nach Houllebecqs Geschmack, ein Macho, ein Womenizer, furchtlos, viril, chauvinistisch, rassistisch, egozentrisch, frei von Selbstzweifeln. Glaubt man Personen wie Frédéric Beigbeder, die Houllebecq persönlich kennen, dann ist das nicht als lediglich provokative Haltung aufzufassen, sondern die volle Überzeugung der Person Michel Houllebecq, die sich damit disqualifiziert für die Teilhabe an einem humanistischen Diskurs in der Folge der Aufklärung.
Und dennoch: die Werke dieses Autors erfreuen sich immenser Beliebtheit, werden von den – überwiegend linksliberalen – Feuilletons gefeiert, ja selbst von feministischer Seite erfährt sein Werk Zuspruch. Ganz offensichtlich kann Houllebecq als Paradebeispiel für die Trennung von Autor und Werk gelten, als Beispiel dafür, dass die Bedeutung eines Werks nicht an der politischen Moral des Künstlers gemessen werden darf – wie das übrigens in totalitären Gesellschaften Usus war und ist. Die Kunstgeschichte kennt viele moralisch defizitäre Künstler, von der Renaissance (Caravaggio, Cellini, Bernini) über die Moderne (Marinetti, Picasso, Benn, Jünger) bis in die Gegenwart, wo im Zuge der #MeToo-Bewegung ganze Heerscharen an Malern, Regisseuren, Schauspielern, Komponisten, Choreografen, Dirigenten und Musikern in ihrer Immoralität geoutet wurden. Die strafrechtliche Verfolgung von Verfehlungen ist Sache der Justiz, nicht aber zugleich die Zensur der Kunstwerke, die heute zusehends einem moralischen Rechtfertigungszwang unterliegen, der die Freiheit der Kunst insgesamt gefährdet. In der digitalen Moderne (Hanno Rauterberg) wird die Freiheit der Kunst immer weiter eingeengt durch den Anspruch auf Rücksichtnahme auf jede nur denkbare Empfindlichkeit einzelner Gruppen, Ethnien, Gender, Religionen, Kulturen und Handicaps. Die Freiheit der Kunst, ihre Autonomie, besteht aber gerade darin, sich nicht den politischen und sozialen Zwängen der political correctness beugen zu müssen. Im Gegenteil, es ist geradezu ein Wesenszug ihrer Freiheit, anarchistisch, quer zum herrschenden Diskurs zu stehen. Daran muss man in unseren Tagen wieder erinnern.
Und damit komme ich zu „Serotonin“, dem jüngsten Roman Houllebecqs. Sein Roman strotzt nur so vor politisch inkorrekten Ausdrücken („Homohimmel“, „fette Schlampe“), vor expliziter Pornografie, vor radikaler Gesellschaftskritik, nirgends nimmt er ein Blatt vor den Mund, sondern „rülpst“ seine „Wahrheiten“ dem Leser ungefiltert ins Gesicht. Diese schonungslose Direktheit ohne Rücksicht auf irgendwelche Empfindlichkeiten potentieller Leser, das ist ein anarchistisches Element, spricht jeder political correctness Hohn, ist Freiheit der Kunst, und wird wohl von vielen Lesern nachgerade als befreiend empfunden. Der apodiktische Stil Houllebecqs, in seiner Maßlosigkeit auch urkomisch, darf jedoch nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen über das Gesagte verführen. Bei aller verbalen Kraftmeierei bilanziert in diesem Roman ein Möchtegern-Macho, tatsächlich aber ein überaus schwacher, wehleidiger Protagonist sein gescheitertes Leben. Dessen Beruf als leitender Angestellter in der Land- und Forstwirtschaftsbürokratie führt ihm die Absurdität einer Agrarpolitik vor Augen, die in der zynischen Erkenntnis gipfelt „Monsanto oder der Hungertod“. Hinzu kommt eine enttäuschende Liebesaffäre mit einer Japanerin, die außer sexueller Libertinage keine Zukunft verspricht. Diese Frusterfahrungen bewegen ihn dazu, der Politik und der Gesellschaft den Rücken zu kehren. Er kündigt seinen Job, verkauft seine Wohnung und verschwindet aus seinem bisherigen Leben in der Anonymität einer abgelegenen Hochhauswohnung in einem deklassierten Wohnviertel. In „Serotonin“ blickt Florent-Claude, eine Art Anti-Held, auf sein gescheitertes Leben zurück. Dieses Leben ist für ihn nur zu ertragen durch die immer höhere Dosierung des Antidepressivums Captorix (Wirkstoff Serotonin), das es ihm immerhin ermöglicht, seinen Alltag zu „formalisieren“, allerdings um den Preis der Impotenz. In dieser Lebensbilanz, konsequent aus der Ich-Perspektive erzählt, wird dem Protagonisten des Romans schmerzhaft klar, dass er zweimal die Chance hatte, seinem Leben eine sinnvolle Wendung zu geben, aber beide Chancen weggeworfen hatte in dem Glauben an „individuelle Freiheit“, ein „offenes Leben mit unbegrenzten Möglichkeiten“, wie es dem damaligen „Zeitgeist“ entsprochen habe. Die falsch interpretierte Freiheit zu schrankenloser Selbstverwirklichung des Individuums verleitete den Ich-Erzähler zu einem sexuell ausschweifenden, dem egozentrischen Lustprinzip folgenden Lebensstil, ohne dabei glücklich werden zu können. Im Gegenteil: eine höhere Dosierung erwies sich hier im Rückblick als kontraproduktiv, zerstörerisch für das angestrebte Glück. Dieses erkennt Florent-Claude im Nachhinein in der monogamen Liebe von Mann und Frau – was für ein Kontrast zu dessen triebgesteuertem Macho-Dasein. Dass die beiden Frauen Ärztinnen waren, mit denen das gelungene Leben rückblickend möglich gewesen sein soll, entspricht der Vorstellung der Heilung des Mannes aus seiner Triebverstrickung durch die Frau. Der Protagonist Houllebecqs erweist sich als Romantiker, wenn er am Ende seines Daseins bilanziert: „Wir (er und seine damalige Freundin Kate) hätten die Welt retten können, und wir hätten sie in einem Augenblick retten können, wie der Deutsche sagt, aber wir haben es nicht getan, das heißt, ich habe es nicht getan, und die Liebe hat nicht obsiegt, ich habe die Liebe betrogen.“ Und weiter: „ich werde mein Leben unglücklich, griesgrämig und einsam beschließen, und ich werde es verdient haben.“ Von der Weltrettung durch Liebe „in einem Augenblick“ ist es nur noch ein kurzer Weg zum Christentum – und ähnlich wie die deutschen Romantiker – bekennt sich Florent-Claude kurz vor seinem selbstbestimmten Ende zu dem Wunder der „überschwänglichen Liebe Gottes“, zu Jesus Christus, der verärgert über die „Verhärtung der Herzen“ fragt: „Muss ich wirklich noch mein Leben für die Erbärmlichen geben?“. Worauf die Antwort – zugleich der Schlusssatz im Buch – lautet: „Offenbar ja.“ Es bleibt ambivalent, wie dieser Schluss zu deuten ist: sieht sich die Romanfigur etwa in einer krankhaften Wahnvorstellung als Märtyrer in Analogie zu Christus? Oder hat hier gar der Autor selbst das letzte Wort? Hat er nicht erst kürzlich eine Japanerin geheiratet? Die Freiheit der Kunst besteht eben auch in ihrer Uneindeutigkeit.
Es ist eine unerwartete Volte, dass der chauvinistische Zyniker und Agnostiker Houllebecq seine Romanfigur im Scheitern zum christlich-romantischen Konzept der Versöhnung mit der Welt durch Liebe finden lässt. Hier spricht das Werk eine ganz andere Sprache als der politische Diskurs des Autors nahelegt. Kunst lässt sich nicht auf einen Deutungsansatz verengen. „Serotonin“ ermöglicht viele weitere, auch sich widersprechende Lesarten.
Michel Houllebecq, Serotonin, Köln, DuMont Buchverlag 2019
Pong