Sans Souci

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Unbedingt zu empfehlen: die „Villa Sorgenfrei“ in Radebeul.

Das beste Knäckebrot der Welt gibt es bei der Bäckerei Weise in Großräschen. Wir sind mit Freunden dort zum Praktikum angemeldet und müssen pünktlich los in der JenAer. So beginnt ein langer Tag voller Erlebnisse & Überraschungen. Natürlich ziehen wir uns Schürzen an, schauen aber ansonsten nur zu, wie der Bäcker den Teig für „unser“ Knäcke anrührt, mit den Händen walgt und schließlich auf dem Blech ausstreicht. Täglich werden 6.000 Brötchen gebacken und 100 Kilo Mehl verbraucht – wir sind wieder beeindruckt und laden die üblichen 5 Kilo ins Auto. GROSSartig. Weiter geht’s nach Radebeul. Nach einem Imbiss erreichen wir am frühen Nachmittag ein selten charmantes, kleines Hotel: die Villa Sorgenfrei. Wir sind rundum begeistert, plötzlich müde wie richtige Bäcker und fallen in einen tiefen Mittagsschlaf.

Der war auch dringend nötig, denn abends steht eine Uraufführung im Kulturpalast auf dem Programm. Der türkische Pianist und Komponist Fazıl Say hat ein Stück für Schlagzeug und Orchester komponiert. Zumindest Martin Grubinger – er gilt als bester Schlagzeuger in der Klassik – begeistert wieder einmal; der Meister ist der nette Junge von nebenan und kommt immer gut rüber. Prokofjews Fünfte beeindruckt mich erst am Ende, die Dresdner Philharmonie unter Andris Poga spielt ordentlich, aber die Akustik im neuen Konzertsaal (2017 nach mehrjährigem Umbau wieder eröffnet) ist sehr überzeugend. Wir kommen gerne wieder, werden uns aber Disney Dresden (DD) beim nächsten Besuch sparen. Die Innenstadt um die Frauenkirche ist an diesem schönen Frühlingstag fest in der Hand der Touristen. Was soll ein normaler Bewohner der Stadt da noch? Es gibt nur Gastronomie, Souvenirs, Pferdekutschen und Gewimmel. Leipzig lebt, Dresden wird besucht, geht es mir durch den Kopf.

„Vollständige Sorglosigkeit und eine unerschütterliche Zuversicht ist das Wesentliche eines glücklichen Lebens“, lesen wir beim hervorragenden Frühstück am nächsten Morgen – es gibt zum Glück kein Buffet! „Vollständige Sorglosigkeit“ scheint auch die Abgeordneten des britischen Unterhauses zu umfangen. Sie haben gestern am 29. März, dem ursprünglich geplanten Tag des Brexits, den von Theresa May ausgehandelten Vertrag zum dritten Mal abgelehnt, in „unerschütterlicher Zuversicht“, dass sich alles irgendwie fügt. „Politik ist die Kunst des Machbaren“ (Giovanni Agnelli) – was nach einem wie auch immer gearteten Brexit sein soll, darüber müssen sich die Briten endlich klar werden. Da ich diese Zeilen schreibe, ist Theresa May immer noch nicht zurückgetreten. Ich habe die Uhren bald zum letzten Mal umgestellt. Es geht voran.

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I did it my Way

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Die Glocke auf dem Friedhof von Reutlingen-Betzingen.

Von Reutlingen weiß ich fast nichts. Ich kenne aus den Pressestimmen im Dlf den „Generalanzeiger“, und ich weiß, dass Axel dort seine Jugend verbracht hat. „Reutlingens Einwohnerzahl überschritt 1989 die Grenze von 100.000“, verzeichnet Wikipedia. „Mit rund 115.600 Einwohnern ist es heute (nach Ulm) die zweitgrößte Stadt des Regierungsbezirkes Tübingen sowie kleinste der insgesamt neun Großstädte Baden-Württembergs, als einzige unter ihnen nicht kreisfrei. In der Agglomeration Reutlingen leben etwa 316.000 Einwohner. 17,5 Prozent der Gemarkung Reutlingens gehören zum Biosphärengebiet Schwäbische Alb, weshalb sich die Stadt auch als das ‚Tor zur Schwäbischen Alb‘ bezeichnet.“ Derart gerüstet, mache ich mich auf den Weg nach Reutlingen, aber ich möchte gar nicht die Stadt entdecken, sondern Abschied nehmen von Axel, der auf dem Friedhof in Betzingen seine letzte Ruhe finden wird.

Wir kommen pünktlich an, und ich kaufe mir sofort den „Reutlinger Generalanzeiger“ und zwei Semmeln; weiter geht‘s nach Betzingen, wo schon einige Trauergäste warten. Begrüßungen, Small Talk, doch letztlich ist jeder mit sich selbst beschäftigt. Wir wollen Abschied nehmen von Axel und nehmen in der Trauerhalle Platz. Von hinten erklingt das Requiem von Fouré, eindrucksvoll gesungen von Kai-Li Hsin. Dann erinnert der Trauerredner Gunther Göppele in klaren, eindringlichen Worten an Momente in Axels Leben und lässt dabei den Menschen aufscheinen, der nur mehr Asche in einer Urne ist. „I did it my Way“ von Frank Sinatra hören wir, und ich hätte mir keinen stimmigeren Song in diesem Augenblick vorstellen können. Axel ist immer seinen Weg gegangen, hat einen ganz eigenen Weg gefunden in seinem Leben.

Zuletzt wurde dieses Leben immer reduzierter, bei jedem Besuch in Bad Camberg konnte er  weniger – und wurde immer verzweifelter. „Alles ist vergänglich und deshalb leidvoll.“ Mit diesem Wort von Buddha erinnert gestern eine Familie in der FAZ an ihren Sohn, der nur 21 Jahre alt wurde. Die Holzurne senkt sich in den Rasen, ein letzter Blick, der nicht begreifen kann, welchen Weg Axel hinter sich und vielleicht sogar vor sich hat. Im Mysterium des Todes werden wir stumm und demütig. Kurz vor der Beisetzung tönt die Glocke auf dem Friedhof. Sie wird sicher läuten, wenn ich einst wiederkomme. Und sicher wird dann auch ein Interregio-Express nach Tübingen vorbei rauschen. Saß Axel im Zug, schaute er aus dem Fenster. Auf dem Rasenfriedhof liegt sein Vater – seit neun Jahren bald.

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Das Leben in unseren Jahren

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Hüter der Techno-Kultur: Christian Arndt vor der Präsentation seines Buches in der Frankfurter Stadtbücherei.

Die Party ist vorbei, Techno ist in der Stadtbücherei angekommen. Dort stellt mein Freund Christian „Harry“ Arndt sein kürzlich erschienenes Buch „Electronic Germany“ vor. Das Interesse ist groß, die Stuhlreihen sind fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Zum Glück gibt es keine typische Wasserglas-Lesung, sondern DJ Eastenders befragt den Techno-Experten, und es entwickelt sich ein munteres Gespräch, zu dem sich später noch Chris Liebing und Ralf Hildenbeutel gesellen; beide arbeiten heute vor allem als Produzenten. Denn die große Zeit der Techno-Hauptstadt Frankfurt ist längst perdu, „Dorian Gray“, Omen“ und „Vogue“ sind Geschichte. Heutzutage gibt es nur noch Mega-Events, aber keine kreative Club-Szene mehr, zumindest nicht in Frankfurt. Bezeichnenderweise fällt Chris Liebing überhaupt keine aktuelle Frankfurter Location ein; allenthalben ist von Berlin und vom „Berghain“ die Rede. Immerhin gibt es aber in Frankfurt das „Tanzhaus West“ und in Offenbach das „Robert Johnson.

Christian arbeitete übrigens jahrelang bei FRIZZ Das Magazin für Frankfurt als Musikredakteur, und es versteht sich von selbst, dass in der aktuellen Ausgabe ein großes Interview mit ihm steht. Sein Lieblingsclub war damals das legendäre „Dorian Gray“, wo ich selbst ein paar Mal gewesen bin, professionell gewissermaßen, denn Techno war nie mein Ding. Trotzdem macht es auch mir Spaß, in dem klasse von Alexander Branczyk („Frontpage“) gestalteten Buch zu blättern und zu lesen, in dem natürlich auch Bilder des Szene-Fotografen Ernst Stratmann nicht fehlen dürfen. Er hat nie bloß dokumentiert sondern war immer mittenmang, wie er erzählt. Bestimmt wäre Axel mit zu dieser ungewöhnlichen Buchvorstellung gekommen,obwohl auch er beileibe kein Techno-Freak gewesen ist; schließlich waren wir drei anno 1998 zusammen beim North Sea Festival in Den Haag,  Da ich diese Zeilen schreibe, wird mir bewusst, dass heute in einer Woche seine Beerdigung in Reutlingen schon wieder Vergangenheit sein wird.

Noch eine Vergangenheit. In den CD’s von Axel finde ich das Album „Bach to the Future“ von Jacques Loussier. Der französische Pianist starb kurz nach ihm, und wie Loussier zum Jazz fand, das hätte Axel sicherlich gefallen: „Das Malheur passierte während der Prüfung: Mitten in einem Stück von Johann Sebastian Bach verliert der Klavierstudent des Pariser Konservatoriums den Faden und muss improvisieren, bis er endlich wieder zum originalen Notentext zurückfindet.“ (Tagesspiegel, 26.10.2014) Solch ein Malheur passiert, wie das Leben. „Nicht die Jahre in unserem Leben zählen, sondern das Leben in unseren Jahren.“ Auf dieses Wort von A. E. Stevenson bin ich am Dienstag in einer Traueranzeige gestoßen; rechts neben mir steht die Giraffe von Axel.

Christian Arndt, Electronic Germany, Edel Books

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2828

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Heil war die Welt auch in Einbeck nie.

Niemals werde ich diese Nummer vergessen. Das Telefon meiner Großeltern stand im kleinen Atelierarbeitszimmer meines Großvaters in Einbeck auf einem Ekawerk-Schreibtisch. Es war weiß, schwer und immer gleich. Ferngespräche am Tag waren unerschwinglich, auch abends nach 18 Uhr fasste man sich kurz. Später kamen dann Tastentelefone auf, aber die alten Geräte mit der braunen Schnur waren unverwüstlich; man konnte sie jahrzehntelang benutzen. Das ist heute anders. Die Telefone in unserem Bürohaus in der V53 sind erst ein paar Jahre alt und funktionieren noch tadellos. Aber sie müssen weg, weil die aktuelle Software nicht mehr auf den Geräten läuft und es irgendwann keinen Support mehr gibt. Also kommen die Telefone zum Elektroschrott und landen in der Dritten Welt, wo arme Teufel sie dann verwerten. Nach uns die Sintflut, wie immer. Längst schon geht der sogenannte Fortschritt von der Software aus – updaten oder abfallen.

2828. Wie herrlich einfach waren die Zeiten. Ein Telefon war zum Telefonieren da und hielt ein Leben lang. Nach dem Gespräch war die Vernetzung zu Ende, Daten konnten nicht gesammelt werden. Mein Großvater starb 1976, ich war damals gerade in Griechenland und erfuhr von seinem Tod erst später, weil ich auf Lesbos unerreichbar war. Niemand wusste genau, wo wir am Meer unser Zelt aufgeschlagen hatten.  Was für ein Glück, was für ein Pech. Heute bin ich (fast) immer erreichbar und hinterlasse nolens volens permanent digitale Spuren, ohne zu wissen, wer meine Daten sammelt und damit Geld verdient. Noch werden diese Daten nicht genutzt wie in China, um sozial unerwünschtes Verhalten zu sanktionieren, aber längst werden über Social Media Stimmung und Politik gemacht.

Was tun? Es gibt keinen Weg zurück in die scheinbar heile Welt von 2828, aber ob demokratische Staaten auf Dauer der Verlockung von „Überwachen und Strafen“ widerstehen, daran habe ich mehr Zweifel denn je. „Nur wenn, was ist, sich ändern lässt“, schrieb Adorno einst, „ist das, was ist, nicht alles.“ Nicht einmal das, was ist, ist noch sicher, etwa das Friedens- und Zukunftsprojekt Europa.  Das schert die Populisten einen Dreck, und die Brexitiers sind die allerschlimmsten. Dieser Tage hörte ich ein Interview im Deutschlandfunk mit einer Labour-Abgeordneten. Sie hatte Arbeiter in einer Fabrik gefragt, wie sie denn beim Referendum abgestimmt hätten. Die meisten konnten sich nicht mehr erinnern (!), und alle sind inzwischen natürlich gegen den Austritt aus der EU. Verstehe einer die Menschen. Her also mit einem zweiten Referendum und weg mit Theresa May! Immediately.

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Axel

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Ohne ihn hätte es diesen Blog nicht gegeben, der mit dem „American Diary“ im letzten September begonnen hat. Axel richtete mir „wahnundwerk“ ein und beantwortete geduldig alle Fragen. Er war immer da, wenn etwas gemacht oder gestaltet werden sollte – und er fragte nie nach einer Entlohnung. Als vor vier Jahren mein Schulfreund Klaus starb, gestaltete Axel die Traueranzeige, die noch ein paar Mal geändert werden musste. Er kannte Klaus gar nicht und wollte „natürlich“ nichts haben. Ich dankte ihm und fragte, warum er das tue. „Aber einer muss es doch machen“, gab er zurück.

Er liebte seine Arbeit, war in seinen Foren im Internet unterwegs und immer da, wenn ein Job gemacht werden musste, einerlei ob es nun abends war oder am Wochenende. Die Arbeit war sein Leben, die Begeisterung für Technik, die Freude an Qualität schlechthin. Aber Axel war nichts weniger als ein Nerd. Er schätzte hochwertige Kleidung und rahmengenähte Schuhe genauso wie gutes Essen und guten Wein. Seine Kochkünste wurden gerühmt, und oft hat er für uns noch gekocht, ehe wir loszogen ins Konzert oder ins Theater. Ganz besonders liebte er den Roman „Der Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow, den wir in Frankfurt und Mainz auf der Bühne erlebten. Überreden musste ich ihn zu diesen Exkursionen nie: Axel war neugierig, feinfühlig und sehr Anteil nehmend, auch in privaten Angelegenheiten, wiewohl er selbst sehr zurückhaltend war. Einer, der die Worte wägt und niemals labert. Ein sympathischer, sehr angenehmer Mensch, den ich niemals aufbrausend erlebt habe. Wenn ihm etwas gegen den Strich ging, verfinsterten sich seine Züge, und er wurde wortkarg.

Fühlte er sich hingegen wohl, verfiel er gern in ein leichtes Schwäbeln, in einen jovialen Ton ohne jede falsche Anbiederung. Ganz in seinem Element war er beim Segeln, und ich werde nie unseren Törn um Mallorca vergessen, den ich zu meinem 50. Geburtstag geschenkt bekam. Wir kamen nachts in einen schweren Sturm, aber die Männer um Skipper Hugo behielten die Nerven. Ich sehe noch Axel und Thomas, wie sie fest vertäut versuchten, das Boot durch den Sturm zu bringen. Nicht einen Moment hatte ich Angst; ich wusste mein Leben in der tosenden See in sicheren Händen. Unsere Törns auf dem Wannsee waren dagegen so abenteuerlich wie Hamburger essen, was der Gourmet Axel gleichwohl geliebt hat. Beim Törn 2018 hatten wir kaum Wind; trotzdem waren wir für den kommenden Sommer schon fest verabredet. Axel schenkte mir bei diesem letzten Besuch eine Giraffe von „züny“, die ich sofort nach ihm benannte. Gestern Morgen hat sein Herz aufgehört zu schlagen, als wolle es der Erkrankung des Nervensystems die letzte Macht verweigern. Er ist noch da und fehlt so sehr.

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