Inselverhältnisse

Wasserflugzeug am Strand von Hiddensee mit Margarete Hauptmann an Bord. © Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz

Seit vielen Jahren fahren wir im Frühsommer auf die Insel Hiddensee, die man von Rügen aus sehen kann; trotzdem dauert die Überfahrt mit dem Schiff noch eine gute Stunde. Weil die EVG (die Eisenbahn Verkehrsgewerkschaft vertritt 180.000 Mitglieder) oft sehr kurzfristig zu Warnstreiks aufruft, sind wir dieses Mal mit dem Auto nach Schaprode gefahren, um der Gefahr zu entgehen, auf Hiddensee festgesetzt zu werden. Es gäbe gewiss Schlimmeres als einen Zwangsaufenthalt auf unserer Trauminsel, auf der wir noch jedes Mal neue Entdeckungen & Erfahrungen machen. Per Zufall wurde ich auf eine öffentliche Gemeinderatssitzung aufmerksam. Solch eine Zusammenkunft haben wir noch nie erlebt; also machen wir uns per Rad auf den Weg nach Neuendorf, dem südlichsten Ort der Insel, die fast so lang ist wie Manhattan. Die Sitzung findet im Feuerwehrhaus statt und beginnt pünktlich. Der Bürgermeister Thomas Gens leitet die Versammlung routiniert; sechs von acht Gemeinderatsmitgliedern sind anwesend; bis auf eine Ausnahme werden alle Anträge einstimmig angenommen.

Es geht um Eilbeschlüsse zu Bauanträgen, Befestigung von Wegen, Zäunen, Kehrmaschinen oder um die Kontrolle des Hundeverbots am Strand. Ich frage nach dem Stand der umstrittenen Hafensanierung in Vitte. Momentan liege diese Angelegenheit beim Hafenausschuss, in dem auch eine Bürgerinitiative vertreten ist. Unsere Reise nach Neuendorf bestätigt: in den Ausschüssen werden die Entscheidungen weitgehend ausgehandelt. Die Bürgerinitiative HAFEN VITTE erinnert in ihrem letzten Newsletter vom November 2022 daran, dass eine Hafensanierung einem schlüssigen Tourismuskonzept folgen müsse. Im vergangenen Jahr haben sie dazu eine Umfrage durchgeführt: „Eindeutig geht daraus hervor, dass auf Hiddensee lebende Menschen keine Steigerung des Tourismus möchten. Gäste stimmten zu 92,5 % der Aussage zu, dass die Insel sich zu einer ökologischen, nachhaltigen Insel für Menschen, die Ruhe und Einsamkeit jenseits von Touristenströmen suchen, entwickeln sollte.“

Bei einem „historischen Spaziergang“ durch Kloster erfahren wir von der Leiterin des Heimatmuseums Jana Leistner, dass die Bewohner:innen der Insel vor dem Tourismus ein karges Leben fristen mussten. Das änderte sich Anfang des letzten Jahrhunderts, als das Hotel Hitthim, das Wieseneck oder die Lietzenburg entstanden und Gerhart Hauptmann von der Gemeinde ein Haus kaufte und wenig stilsicher um einen Anbau erweiterte. Wenn der Weinkeller frisch gefüllt war, soll der Nobelpreisträger des Jahres 1912 wie ein König auf der Insel eingezogen sein. Ob er einmal sogar mit einem Wasserflugzeug auf die Insel reiste, ist nicht verbürgt. Tatsächlich gab es von 1928 -1936 eine Linienverbindung von Stralsund nach Kloster – nur 15 Minuten dauerte der Flug. Heute ist man auf dieser Strecke per Schiff fast zweieinhalb Stunden unterwegs und gewöhnt sich während der Fahrt an das langsame Leben in „dat söte Länneken“, wie die Einwohner:innen von Hiddensee ihr Paradies nennen. Es ist an uns allen, es trotz notwendiger Veränderungen zu bewahren!

Warten aufs Theater

Spektakel der ungesehenen Art: „Ophelia’s Got Talent“, eine Produktion der Volksbühne Berlin, von Florentina Holzinger © Nicole Marianna Wytyczak

Man hätte gewarnt sein können. „Nora. Ein Thriller von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch und Ivna Žic“ steht auf dem Programm; Felicitas Brucker und ihr Team wollen den Stoff als „multiperspektivischen, mitreißenden Theaterthriller auf die Bühne bringen“. So verspricht es der Programmzettel des 60. Theatertreffens der Berliner Festspiele. „Mit 10 bemerkenswerten Inszenierungen, von einer Kritiker*innenjury aus 450 neuen Theaterproduktionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz ausgewählt, begeben wir uns auf auf eine vielschichtige, Spiel- und bildgewaltige Entdeckungsreise durch den deutschsprachigen Theaterraum.“ Vollmundige & wohlklingende Worte, denen bei der Probe aufs Exempel keine der vier von uns erlebten Aufführungen standhält. Nora als sogenannter Thriller beginnt mit einer Stunde Verspätung wegen technischer Probleme. Die von Ibsen vielschichtig angelegte Figur wird auf eine Frau reduziert, die weiß, was sie will und braucht. Eine Kennerin der Münchner Szene berichtet, die dortigen Kammerspiele hätten inzwischen Mühe, das Haus zu füllen.

Warum das Schauspielhaus Bochum gleich mit zwei „bemerkenswerten“ Produktionen beim Theatertreffen vertreten war, ist nicht nachvollziehbar. „Der Bus nach Dachau“ hätte ein sehr spannendes Projekt werden können. Die Niederlande waren der einzige Staat, der seine Bürger:innen nicht aus dem KZ Dachau abgeholt hat. Die Überlebenden mussten sich einen Bus mieten, um nach Hause zu kommen. Diese traurige Geschichte wollte einer von ihnen in einem Film erzählen; das Drehbuch hat er nicht fertig gestellt. „Ein 21st Century Erinnerungsstück“ sollte es werden, doch die Kooperation der Gruppe „De Warme Winkel und Ensemble“ mit dem Schauspielhaus Bochum wirft zwar wichtige Fragen auf, bleibt aber ästhetisch unentschlossen und dilettantisch. Das gilt nicht minder für den zweiten Beitrag aus Bochum, „Kinder der Sonne“ von Maxim Gorki. Ein naturalistisches Bühnenbild, Tür auf, Tür zu. Mir schwant nichts Gutes. Ohnesorg-Theater. Nicht annähernd vermittelt sich in der biederen Inszenierung der Slowenin Mateja Koležnik die Brisanz des Stoffes. Während unter dem Volk eine Cholera-Epidemie wütet, kultiviert das Bürgertum seine Ignoranz und Neurosen. 

Dabei hatte das 60. Theatertreffen mit einem langen und viel versprechenden Abend begonnen. Mit drei Pausen dauert „Das Vermächtnis“ von Matthew Lopez frei nach dem Roman „Howards End“ von E.M. Forster über sieben Stunden. Der Regisseur Philipp Stölzl (2021 beeindruckte seine „Schachnovelle“ im Kino) setzt in seiner sparsamen Inszenierung des Lebens der New Yorker Gay Community um 2015 ganz auf seine hervorragenden Schauspieler (Residenztheater München). Netflix fürs Theater befanden einige. Wir sind keine Binge-Watcher und seilten uns vor dem Ende dieses (allzu) langen Abends ab. Das große Ereignis dieses Theatertreffens haben wir indes verpasst: „Ophelia’s Got Talent“ von Florentina Holzinger. Die das „gigantische Spektakel“ erlebt haben, waren sich einig – so etwas hätten sie noch nie gesehen. Die Karten für die Aufführungen an der Berliner Volksbühne sind heiß begehrt. Da müssen wir hin! Und beim 61. Theatertreffen im nächsten Jahr sind wir auch wieder dabei. Die Hoffnung stirbt zuletzt. 

Was soll uns schon passieren?

Unter dem Begriff „Toxic Evolution“ faßt der Künstler Soler Arpa seine Kreaturen zusammen; die Teile hat er auf Mülldeponien gesammelt. © Rolf Hiller

Sie ist der Shooting Star des Jahres in Deutschland. Die gesamte Tour von Paula Hartmann war ausverkauft, schon lange gab es keine Tix mehr für ihr Konzert in Huxley’s Neue Welt in Berlin, wo die 1.600 Plätze im Nu weg waren. Mit ihren Songs trifft Paula Hartmann die Herzen & Nerven ihrer Generation. Sie ist gerade 22 Jahre alt geworden, studiert (noch) Jura in Hamburg, stand schon mit 5 Jahren vor der Kamera und hat bei einer ganzen Reihe von TV- und Filmproduktionen mitgewirkt. Diese Erfahrungen kommen ihr nun zugute. Sie hat eine enorme Bühnenpräsenz, wirkt aber in jedem Moment authentisch und positiv. Ihre teils düsteren Texte treffen die Stimmung ihrer Fans, deren Jugend und Perspektive apokalyptisch grundiert ist. Ganz am Anfang ihres umjubelten Konzerts ruft Paula auf, dass jede:r sich bei ihren Leuten melden soll, wenn er/sie sich unangenehm angemacht oder diskriminiert fühlt.

Begleitet und gehalten werden ihre Songs vom Live-DJ Friso – mehr Band braucht es heutzutage nicht mehr. Später kommen als Gäste die Rapper Luvre47 und Apsilon dazu, die meine Vorurteile gegen dieses Genre gründlich erschüttern. Von wegen dicke Hose, Grillz und Gangsterposen. Rap ist für die beiden eine Kunstform, um sich auszudrücken. Apsilons Großeltern kamen als Gastarbeiter aus der Türkei, er wuchs in Berlin-Moabit auf, machte sein Abi mit einem Schnitt von 1.2 und studiert an der Charité Medizin. Von Luvre47, der in der Gropiusstadt groß wurde, stammt der Titelsong von „Sonne und Beton“. Der Film von David Wnendt basiert auf dem gleichnamigen Bestseller von Felix Lobrecht. Die Uraufführung fand auf der diesjährigen Berlinale statt; über 1 Million Besucher:innen wollten „Sonne und Beton“ seither im Kino erleben.

Per Rad & S-Bahn dann zu einem Kunstprojekt, dessen PR geschickt mit dem Insiderwissen jongliert. Niemand der Auserwählten dürfe verraten, wo der „Himmel unter Berlin“ sich auftut. Ehe wir in die Katakomben hinabsteigen, erfahren wir noch, dass auf dem Gelände wesentliche Teile von Fritz Langs Film „Metropolis“ entstanden sind. Unten bekommen wir einen Schlüssel mit einer Nummer. Die Location ist großartig gestaltet. Vorbei an Bar und DJane gelangen wir zu einer Bücherwand der 70er Jahre; daneben steht ein Kleiderschrank. Endlich wird unsere Nummer angezeigt, das Mädel öffnet die Tür, wir schieben uns durch die Klamotten – und sind drin. Durch dunkle Gänge werden wir durch ein Labyrinth geführt; es ist ein ganz bisschen unheimlich, wenn man Phantasie hat. In den besten Momenten der Ausstellung taucht man ein in eine immersive, beklemmende Kunstwelt. Trotzdem beeindrucken mich die Kreaturen von Soler Arpa am meisten. Wir zerstören mit unserem Lifestyle systematisch Umwelt und Klima. Die Hälfte aller Seen verlieren Wasser. Die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) rechnet damit, dass die nächsten fünf Jahre die heißesten aller Zeiten werden können. Was soll uns schon passieren?

Unterwegs

„Ist der Mai kühl und nass, füllt‘s dem Bauern Scheun und Fass.“ (Bauernregel). In Südfrankreich muss Wasser rationiert werden. © Rolf Hiller

Plötzlich rennen alle los. Weil man bei der Deutschen Bahn auf jede Überraschung gefasst sein muss, beeile auch ich mich am Frankfurter Hauptbahnhof, durch eine Unterführung aufs nächste Gleis zu kommen. Herdentrieb. Die anderen Fahrgäste hatten wohl eine Nachricht aufs Handy bekommen oder den DB Navigator gecheckt. Für alle „Unwissenden“ kommt dann die Durchsage, dass der ICE heute auf einem anderen Gleis abfährt. Die Fahrt nach Kassel wird länger dauern als üblich, weil der Abschnitt zwischen Fulda und Kassel in einem Rutsch saniert wird. Es dauert also, und der Zug zuckelt teils sehr gemächlich durch Hessen, ohne WLAN. Einmal bleiben wir auf freier Strecke stehen, die Aussicht ist idyllisch. Ich habe ein ganzes Abteil für mich alleine und genieße diese Umleitung. Ab Sonntag ist erst einmal Schluss mit Idylle. Die EVG wird 50 Stunden streiken * – für höhere Löhne ihrer Mitarbeitenden und um sich gegen die Konkurrenten von der GDL (Gewerkschaft der Lokomotivführer) zu positionieren; die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft hat in den letzten Jahren gut ein Fünftel ihrer Mitglieder verloren.

Die Reputation der Deutschen Filmakademie steht gleichfalls auf dem Spiel. Sie vergibt jährlich die Lola genannten deutschen Filmpreise und hat mit ihren Nominierungen heuer allenthalben für Verwunderung gesorgt. Der bei der Berlinale mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnete Film „Roter Himmel“ von Thomas Petzold kam noch nicht einmal in die Vorauswahl für die Nominierung, Lars Kraumes „Der vermessene Mensch“ schaffte es nur mit einer „Wildcard“. Und hier geht es nicht nur um die Ehre. Schon die Nominierungen, vor allem dann aber die Preise sind mit nennenswerten Summen aus der öffentlichen Filmförderung verbunden. Es ist etwas faul im Subventionsstaat Deutschland. Das bringt Edward Berger, der mit seiner deutschen Netflix-Produktion „Im Westen nichts Neues“ als großer Lola-Favorit gilt, deutlich auf den Punkt: „Es ist einfach peinlich, wenn ein Film, der auf der Berlinale einen der Hauptpreise gewinnt, von der Filmakademie nicht einmal für die erste Stufe beim Nominierungsverfahren für würdig befunden wird.“ (Tagesspiegel, 11.05.23)

Nicht nur der Streik der EVG wird die nächste Woche bestimmen. Am Wochenende wird in der großen Türkei und im kleinen Bremen gewählt. Schafft es ein sehr heterogenes Bündnis, Erdogan abzuwählen? Würde der autokratisch auftretende Präsident seine Niederlage akzeptieren? Kann sich in Bremen die rot-grün-rote Koalition mit dem Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) halten? Bekommen Die Grünen in der fahrradfreundlichsten Großstadt der Republik einen Denkzettel wg. der Causa Graichen? Der Mai zeigt sich politisch alles andere als wonnig – Krisen & Probleme, wohin man schaut. Ob das Theater helfen kann? Parallel zur Verleihung der Deutschen Filmpreise heute Abend beginnt das 60. Berliner Theatertreffen mit der Inszenierung eines Romans von E.M.Forster. „In fast sieben Stunden entwerfen Philipp Stölzl und sein Ensemble ein temporeiches und vielschichtiges Gesellschafts- und Beziehungspanorama, das die New Yorker Gay Community porträtiert und Fragen nach Verantwortung und Respekt stellt“, verspricht das Programmheft. Und drei Pausen. Fürs perfekte Theaterglück.

* Am Samstagnachmittag haben sich die Deutsche Bahn und die EVG auf einen Vergleich geeinigt, so dass der Streik abgewendet werden konnte.

Familienbande

„Das Vergangene findet jetzt statt.“ (Elfriede Jelinek) © Sister V.

Bei der Familien-Begegnung im letzten August hatten wir gleich das nächste Treffen diesmal in Wiesbaden verabredet. Damals war unsere Kommissarin noch nicht dabei, aber wir konnten das „verschwundene“ Handy auch ohne sie ausmachen. Mein Sohn ortete das I-Phone in einem Mehrfamilienhaus und löste den Alarmton aus, als das Polizeiteam eingetroffen war. Dieses Mal sind wir fünfzehn Personen, für ein Wochenende eine Art Familie, was einer strengen Überprüfung nicht ganz standhält. Am ersten Abend müssen sich einige erst einmal kennenlernen. Tags darauf führt uns unser Familienoberhaupt durch die Sektkellerei Henkell; es ist in jedem Moment zu spüren, dass er diesen Job ein paar Jahre lang mit Leib & Seele gemacht hat. Dann geht‘s mit der S-Bahn weiter nach Mainz, noch immer der Ort, an dem ich die längste Zeit meines Lebens verbracht habe, die „formativen Jahre“, wie es ein Lebensfreund nennt. Es passt zu diesem Tag, dass mich nachmittags eine Mail des OK „50 Jahre Abi 2024“ erreicht.

Am Fort Elisabeth hat die Familie 15 Jahre gewohnt, wir schreiten die alten Wege ab – alles ist viel kleiner geworden. Im Park vor dem Vincenz-Krankenhaus spielten samstags am Nachmittag Dutzende Jungs Fußball; heute ist der Platz verwaist. Kein Kicker nirgends mehr. Weiter zum Plantschbecken, von uns Plantschert genannt, wo es einst ein Café und eine Toilettenhäuschen gab. Alles dicht. Mit einer Bank als Tor haben wir früher stundenlang mit einem Tennisball gekickt. Davon hatte ich den Söhnen oft erzählt, und in einer Tierhandlung haben sie am Vormittag einen „Balle“ besorgt. Los geht das Spiel. Mit Begeisterung spielen wir vier gegen vier. Schneller als erwartet, ist die ‚Pille‘ hin. Wir müssen abbrechen und trennen uns unentschieden. In meinem Team macht die Kommissarin ein gutes Spiel. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass sie ein paar Tage später beim erfolgreichen Einsatz gegen die Ndrangheta – diese Mafia-Organisation macht jährlich 50 Milliarden Euro Umsatz (!) – dabei ist; und mit der haben wir im Plantschert gekickt! Wir sind alle schwer beeindruckt.

Wir laufen um unser Haus, den „Sternbau“, herum. Im ersten Stock haben wir teilweise zu sechst in knapp 70 Quadratmetern gelebt. Wir können es nicht fassen, und doch war dieses Leben in der 3-Zimmer-Wohnung für uns normal. Geduldig lauscht der Rest der Familie unseren Erinnerungen. Weiter geht‘s über die Stephanskirche mit den berühmten Chagall-Fenstern runter in die Stadt. Wir schlendern über die Ludwigstraße und am Dom vorbei zum Rhein. Zum krönenden Abschluss eines langen Tages voller Eindrücke und Erinnerungen kehren wir in ein uriges Restaurant ein, das im Netz mehr verspricht, als es in der Realität halten kann. Den vom Kellner empfohlenen Riesling gibt es nicht gekühlt, die Essen werden im Abstand von anderthalb Stunden serviert. Zumindest an diesem Abend hatte das Team der „Gaststätte Rote Kopf“ einen rabenschwarzen Tag. Ein Nachlass und ein Absacker aufs Haus waren ein schwacher Trost. Dass der Kellner zum schlechten Schluss noch ein Glas zerdepperte, passte ins Bild. Narhallamarsch.

Schlafmodus

Ende April ist Schluss mit Corona. Viele werden sich weiter mit Post-Covid-Symptomen herumschlagen müssen, die psychosozialen Folgen für Kinder und Jugendliche lassen sich nicht annähernd abschätzen, es wird weitere Neu-Infektionen geben, aber die Corona-Warn-App wird abgeschaltet. Hat dieses Tool je richtig funktioniert? Plötzlich wurde eine Begegnung mit erhöhtem Risiko angezeigt, und dann begannen die Fragen und Zweifel. Sei’s drum, die Pandemie ist vorbei, das Leben geht weiter wie vor vier Jahren. In der Corona-Zeit traten die Mängel unseres (marktwirtschaftlich organisierten) Gesundheitssystem deutlich zu Tage. Es fehlt an Personal, die Fallpauschalen setzen falsche Anreize, die Produktion vieler Arzneimittel und Vorprodukte in Asien birgt immense Risiken. Derzeit fehlen über 400 Medikamente in Deutschland, etwa Systral, das ich nach einem Mückenstich in einer Apotheke besorgen wollte. Deutlich schlimmer: Fiebersaft für Kinder war nicht zu bekommen. Dass es in absehbarer Zeit auch keine wirksamen Antibiotika mehr geben wird, passt ins Bild; die Entwicklung dieser Medikamente rechnet sich nicht für die Pharmaindustrie. 

Das Gesundheitssystem gehört wie Wohnen und Bildung oder der öffentliche Nah- und Fernverkehr zur Daseinsvorsorge des Staates. Wie sehr es bei der Deutschen Bahn hapert, haben die meisten schon einmal erlebt und können ein paar Dönkes oder ungeheuerliche Geschichten erzählen. Täglich transportiert der Staatskonzern 10,2 Millionen Fahrgäste. Nicht auszudenken, was passieren wird, wenn die Bahngewerkschaft EVG ihre Drohung wahr macht und zu wochenlangen (!) Streiks ihrer Mitglieder oder einzelner Berufsgruppen aufruft. Das Chaos wäre total! Den alltäglichen Wahnsinn eines heruntergekommenen Verkehrssystems schilderte kürzlich in der Süddeutschen Zeitung Holger Gerts und nennt auch Ross und Reiter für die Misere, die uns noch Jahrzehnte begleiten wird: „Und wesentlich verantwortlich für den Zustand der Bahn sind die Bundesverkehrsminister – in den für die Verkehrswende wegweisenden Jahren 2009 bis 2021 waren das, in der Reihenfolge ihres Auftretens, Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt, sehr kurz Christian Schmidt, Andreas Scheuer. Alle von der CSU, alle aus Bayern, es sind alle sehr selbstbewusste, für Kritik kaum empfängliche Super-Egos, wie sie die CSU seit Jahren und Jahrzehnten in beachtlicher Schlagzahl respektive Taktung hervorbringt.“ (21.04.23) 

Vor gewaltigen Herausforderungen steht gleichfalls der neue Regierende Bürgermeister Kai Wegner in Berlin, der erst im dritten Wahlgang in sein neues Amt gewählt wurde. Dass die Koalition der CDU mit der SPD nicht alle Sozialdemokraten begeistert, ist bekannt; aber am Ende hat es für „Kais missglückte Krönung“ (Tagesspiegel) gereicht – 86 Abgeordnete stimmten für ihn, genauso viele Stimmen haben die beiden Parteien zusammen. Natürlich schüttete die AfD wieder einmal Öl ins Feuer und behauptete, nur mit einigen ihrer Stimmen sei Wegner gewählt worden. Klären lassen wird sich das nie, der Schaden für CDU und SPD ist groß, bissige Kommentare ließen nicht auf sich warten. „Die Premiere der neuen Hauptstadtregierung missrät zum Schmierenstück. Beschädigt sind nun schon vor dem Start beide Koalitionäre.“ (Stuttgarter Zeitung, 28.04.23) ) Kai Wegner und Franziska Giffey, die neue Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe, werden nicht einen Tag Schonfrist bekommen. Glück auf! 

Frühlingserwachen

Ideale Projektionsfläche: der Raum mit den Sonnenblumen in der Ausstellung „Van Gogh Alive“ ist selten leer. © Rolf Hiller

Allein im Museum? Nicht wenn „Van Gogh Alive“ zu erleben ist. Weltweit 8,5 Millionen Menschen sollen die Ausstellung gesehen haben, die clever gemacht ist. An einem Dienstagvormittag ist die Show unweit der Müllverbrennungsanlage im Frankfurter Westen schon gut besucht. Die meisten Besucher:innen verweilen im größten Raum, sitzen auf dem Boden oder haben es sich auf Sitzsäcken bequem gemacht und sind mittendrin im Flow der Bilder, die mehrere Projektoren an die Wände und auf den Boden werfen. Die Situation ist sehr entspannt und lässig, ganz anders als in einem „richtigen“ Museum. Do what you like. Manche versinken in der Bilderflut oder lesen die kurzen erklärenden Texte. Ein Junge ist auf seinem Handy im Krieg, ein anderer kaum in der Lage, ein paar Sekunden ruhig zu liegen. Zumindest haben auch die beiden schon einmal von Vincent van Gogh (1853 – 1890) gehört, der heute ein Popstar wäre, zu Lebzeiten aber kaum ein Bild verkaufen konnte, immer wieder tiefste Krisen durchlitt und sich schließlich auf einem seiner geliebten Felder umbrachte.

Natürlich gehört zu Van Gogh Alive ein Raum mit Sonnenblumen und Spiegeln für Fotos & Selfies, im „Drawing Room“ sind an diesem Morgen alle Plätze besetzt; die Ausstellung wurde gerade verlängert. „Ich kann die Tatsache nicht ändern, dass sich meine Bilder nicht verkaufen. Aber die Zeit wird kommen, in der die Menschen erkennen werden, dass sie mehr wert sind als das Geld für die Farbe, die ich darin verwendet habe.“ Dass sein Bild „Verger avec cyprès“ 2022 für 117,2 Millionen Dollar verkauft wurde, hätte Vincent van Gogh nicht zu träumen gewagt. Der große Durchbruch blieb auch dem Pianisten Ahmad Jamal verwehrt, der am Sonntag gestorben ist und bis ins hohe Alter noch unterwegs war; leider habe ich ihn auf seiner letzten Tour in Deutschland verpasst. Ich höre mir sein Debütalbum „Ahmad Jamal Plays“ aus dem Jahr 1955 an, das irgendwelche Marketingstrategen hochtrabend in „Chamber Music of the New Jazz“ umbenannt haben, sicherlich nicht im Sinne des Künstlers.

Die letzten beiden Wochenenden im April werden bestimmt nicht im Zeichen eines unbeschwerten Frühlingserwachens stehen. Wieder gestreikt wird bei der Deutschen Bahn und an einigen Flughäfen; zudem hat die sog. Letzte Generation Aktionen in Berlin angekündigt, um auf die drohende Klimakatastrophe hinzuweisen, die zwei der drei Parteien der aktuellen Bundesregierung nicht sonderlich beunruhigt. Ob die spektakulären Proteste eher kontraproduktiv sind, wird sich weisen. Der gesunde Menschenverstand müsste auf der Seite der Letzten Generation stehen. Jede:r weiß, dass die Erderwärmung längst schon bei uns angekommen ist. Heute etwa kommentiert die FAZ: „Der Klimawandel verändert das Leben auch in Europa, auch schon jetzt und auch schneller als befürchtet. Noch vor wenigen Jahren hätte wohl niemand damit gerechnet, dass auch hierzulande einmal das Wasser knapp werden könnte. (…) Bäume statt Asphalt ist die Devise der Zeit, sonst wird das Wasser knapp.“ (21.04.23)  Wer wollte da widersprechen?

Compression

So kommen Autos aus der hydraulischen Presse: Skulptur von César im Centre Georges Pompidou. © Karl Grünkopf

Heute Morgen wurde im Radio ein Stück von Michel Petrucciani gespielt, der nur 36 Jahre alt wurde. Der Jazzpianist hatte die Glasknochenkrankheit, war nur einen Meter groß und zählt trotzdem auf seinem Instrument zu den besten Musikern seiner Generation. Zufällig kommen wir auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris an seinem Grab vorbei. Er liegt ganz in der Nähe von Frédéric Chopin, vor dessen Ruhestätte viele frische Blumen stehen. Der riesige Friedhof scheint selber zu sterben; sehr viele Grabstätten sind in einem schlechten Zustand, modern vor sich hin. Ein düsterer Ort zum Innehalten. In Gedanken ziehen noch einmal die Tage voller Eindrücke & Erlebnisse vorbei, die wir mit ziemlich besten Freunden über Ostern in Paris verbrachten. Das Fest ist in Frankreich nicht so kommerzialisiert wie in Deutschland – zum Glück.

Samedi geht’s gleich ins Centre Georges Pompidou, das die Berliner Bausenatorin in spe, Franziska Giffey, ungemein inspirierte – aus dem brach liegenden Internationalen Congress Centrum (ICC) könne man doch ein Kulturzentrum nach dem Pariser Vorbild machen. Oha! Aus dem gestrandeten Raumschiff im Berliner Westen, das sich hermetisch gegen seine Umgebung verschließt, wird nie und nimmer ein Ort der Kultur und Begegnung. Wir schauen uns die Kunst der Moderne an. Ganz besonders beeindruckt mich die Arbeit „Compression“ aus dem Jahr 1960 von César Baldaccini, der Autos zu einem kompakten Quader pressen ließ. Er sieht sich in der Tradition von Duchamp, Gesellschaftskritik war seine Sache nicht. Trotzdem gemahnt „Compression“ an unsere Müllberge, die letztlich irgendwo im Globalen Süden landen.

Heutzutage würde César sicher E-Roller in die Schrottpresse schmeißen, die ab Herbst in Paris übrigens verboten sind. Erstaunlich. Nur 7 Prozent haben sich an der Abstimmung beteiligt; davon waren 89% gegen die Roller. Sonderlich gestört haben mich die Dinger nicht. Auffällig hingegen, wie viele Fahrräder inzwischen in der Stadt unterwegs sind. War’s der Muskelkater vom Hüpfen in der Yogastunde oder der Respekt vor Treppen mit großem Gepäck: Noch nie ist mir aufgefallen, wie wenig Rolltreppen oder Fahrstühle es in der Metro im Vergleich zu deutschen U-Bahnen gibt. Komfort kostet Energie, und da ticken Frankreich und Deutschland anders. In der Bundesrepublik werden die letzten drei Atomkraftwerke morgen endgültig heruntergefahren, die Grande Nation verfügt über 56 Meiler, die derzeit aber nicht alle am Netz sind. Auch in Osteuropa werden munter weitere Atomkraftwerke geplant. Die Uranbrennstäbe kauft man bei den Russen, allen Boykott-Beteuerungen zum Trotz. 30.000 Generationen müssen sich Umweltministerin Steffi Lemke zu Folge mit unserem Atommüll herumschlagen. Export ausgeschlossen!

The Charm of Spring

Eine Gruppe Ovaherero-Frauen wird im Lars Kraumes Film „Der Vermessene Mensch“ von der „Deutschen Schutztruppe“ in die Wüste getrieben ©️ Studiocanal GmbH / Willem Vrey

Im letzten Jahrtausend bekam ich zu Weihnachten das Verve Jazz Book geschenkt; zehn Schallplatten mit zwanzig Künstler:innen, wie man heute sagt. Den Auftakt macht Ella Fitzgerald. Wie oft habe ich „April in Paris“ mit dem Count Basie Orchestra gehört, natürlich immer die gleiche Aufnahme. Bei Apple Music bekomme ich den Song in 87 Versionen. Nichts gegen die smarte, digitale Welt. Ich habe mir in diesem Tool ein eigenes ‚Radio‘ eingerichtet – und entdecke immer wieder tolle Musiker:innen, von denen ich noch niemals gehört habe. Als Einstimmung auf unsere Reise wollte ich nur „April in Paris“ hören, aber 87 Interpretationen waren natürlich im Home Office nicht zu schaffen. Nun sitzen wir in der Maschine nach Orly, und ich schreibe meinen Blog, den ich vor bald fünf Jahren täglich auf unserer „American Journey“ begonnen habe.

Der Blog ist für mich immer auch ein Moment des Innehaltens. Was habe ich in der letzten Woche gemacht, was erlebt, wo bin ich gewesen? Nicht vergessen werde ich den Film „Der Vermessene Mensch“ von Lars Kraume, sicher dagegen den großen Oscar-Gewinner 2023 „Everything Everywhere All at Once“, den es schon bei Amazon Prime für ein paar Euro gibt. Grandios gemacht & gefilmt die Reisen durch Multiversen, aber nicht meine Welt. Kraume hingegen beschäftigt sich mit dem deutschen Kolonialismus, mit den Verbrechen an den Herero im südlichen Afrika. Die „wissenschaftliche“ Legitimation sollten Anthropologen und Ethnologen schaffen und mit Darwin als Kronzeugen die Überlegenheit der weißen Rasse „beweisen“. Der Regisseur erzählt schlüssig und spannend von diesem beschämenden Kapitel der deutschen Geschichte, von der noch immer viele erbeutete Schädel in deutschen Museen künden. Eine Entschädigung haben die verbliebenen Herero von der Bundesrepublik Deutschland bis heute nicht erhalten. Eine Schande!

Wir befinden uns schon im Anflug auf Paris, wo wir mit ziemlich besten Freunden über Ostern wieder ein paar Tage verbringen, wie im Herbst 2018. Die Maschine ist gut gefüllt, niemand trägt eine Maske, der Krieg in der Ukraine ist noch weiter weg als in Berlin. Jede:r wird mit diesem Flug 548 kg CO₂ verbraucht haben, jede:r könnte wissen, dass ein Äthiopier pro Jahr nur 560 kg CO₂ emittiert und somit deutlich unter dem Wert der Klimaneutralität liegt. Wir alle wissen, was zu tun ist – hier und jetzt. Laut aktuellem ARD-Deutschlandtrend sind inzwischen 44% der Deutschen mit der Klimapolitik der Bundesregierung unzufrieden. Das sollte besonders den Grünen zu denken geben. Die Zeit der schlechten Kompromisse in der sog. Zukunftskoalition muss ein Ende haben. In unserem Hotel, einer Oase nahe dem Quartier Latin, hören wir natürlich „April in Paris“. Wir freuen uns auf den Frühling an der Seine. Ein Leben ohne Widersprüche ist nicht zu haben.

Es fährt ein Zug nach Nirgendwo

Der ICE fährt ein, steht dann am Gleis. Die Türen bleiben zu. Keine Durchsage nirgends. © Rolf Hiller

Nach dem Streik am Montag kämpft die Deutsche Bahn.wieder mit ihren normalen Problemen. Eine Oberleitungsstörung bei Erfurt verhindert die Fahrt des Zuges, den ich nehmen wollte. Warum dieser ICE trotzdem einfährt und dann aber stehen bleibt, verstehe, wer will. Keine Ansage, keine Erklärung. Mir kommt der Schlager „Es geht ein Zug nach Nirgendwo“ von Christian Anders in den Sinn. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere verprasste er Millionen u.a. für einen vergoldeten Rolls Royce; heute verbreitet er Verschwörungsphantasien. Tatsache ist hingegen, dass die Deutsche Bahn in Deutschland weiter rote Zahlen schreibt. Trotzdem verdiente der Chef Richard Lutz im letzten Jahr 2,24 Millionen Euro; die Hälfte davon waren Boni. Solche Einkünfte sind in einem Staatskonzern, der überhaupt nicht gut dasteht, nicht zu vermitteln. Lutz bekam im letzten Jahr vierzig Mal mehr als ein Lokführer.

Im übertragenen Sinne beschreibt Anders‘ Schlager trefflich die Lage der sogenannten Fortschrittskoalition in Berlin. In quälend langen Nachtsitzungen verständigten sich SPD, Grüne und FDP auf einen Kompromiss, der wieder einmal – so scheint es zumindest – zu Lasten der Ökopartei geht. Weiter freie Fahrt für freie Bürger:innen, weiter werden munter Autobahnen ausgebaut. Die Kritik der Umweltverbände ließ nicht auf sich warten. Der Geschäftsführer des WWF Deutschland, Christoph Heinrich, spricht von einem „Frontalangriff auf das Klimaschutzgesetz“. Der Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, Jürgen Resch, haut in die gleiche Kerbe: „Diese Anti-Klimaschutz-Koalition legt allen Ernstes Hand an das Bundesklimaschutzgesetz. Damit versündigt sie sich an allen künftigen Generationen.“ Der Kanzler, der nach seiner Wahl Führung versprochen hatte, hielt sich bei dem Koalitionsstreit wie gewohnt bedeckt. Alles Friede, Freude, Eierkuchen für ihn.

Das gilt nicht minder für den monströsen Ausbau des Kanzleramtes, der mit genau 777 Millionen Euro zu Buche schlagen soll. Man wolle alle Mitarbeiter:innen in einem Haus versammeln. Diese analoge Denke zeigt wieder einmal, wie weit es her ist mit der Digitalisierung in den Köpfen. „Baustopp, jetzt“ fordert die FAZ, „Scholz, halt ein!“ sekundiert der Tagesspiegel und führt aus: „Gebaut soll werden, weil der Bau beschlossen wurde – nicht, weil es notwendig ist. Aber Notwendigkeit ist das zentrale Stichwort einer klimagerechten Zukunft, nicht Wunschdenken von Politikern und Verwaltungen.“ (20.03.23). Jede Wette, das Ding wird kommen, obwohl „das Kanzleramt schon jetzt der größte Regierungssitz der Welt ist.“ (FAZ, 25.03.23) Klimaschutz beginnt hier und jetzt. We’ll never walk alone!