Verlassen

Großer Auftritt im Großen Saal der Alten Oper Frankfurt: Dianne Reeves mit der hr-Bigband unter der Leitung von John Beasley. © Alte Oper Frankfurt/Wonge Bergmann

Auf den Fahrplan der Deutschen Bahn kann man schon lange nicht mehr vertrauen; selbst die unerlässliche App hinkt den Ereignissen inzwischen oft hinterher. Dass gebuchte Züge dort nicht mehr zu finden sind, ist spooky – oder einfach nur schlechter Service. Da wird der Abfahrtsbahnhof stillschweigend geändert, da sind Sitzplatzreservierungen deshalb nicht möglich, weil der Halt entfällt. Dass hinter dem Angebot der DB eine gewaltige Logistik steht, dass die zahlreichen und bitter nötigen Sanierungen die Planungen noch weiter erschweren, verstehen die geduldigen Kunden. Dass die Kommunikation nicht klappt, ist indes nicht zu entschuldigen. Muss der Kunde prüfen, ob sich der Abfahrtsbahnhof geändert hat, muss der Kunde checken, dass der falsche Zug einfährt, ohne Ansage. Nicht minder ärgerlich, wenn die Abfahrt eines Zuges kommuniziert wird, der noch nicht einmal eingefahren ist. Wahrscheinlich gibt’s dafür noch schöne Boni vom maroden Staatskonzern.  

Verlass ist dagegen auf die Sängerin Dianne Reeves, die mit der hr-Bigband in der Alten Oper Frankfurt einen großen Auftritt hatte. Das von FRIZZ Das Magazin präsentierte Konzert im Großen Saal ist ausverkauft. Am Ende gibt es standing ovations für die Grande Dame des Jazz, die auf eine eindrucksvolle Karriere zurückblicken kann, und die Band unter der Leitung von John Beasley. Er schreibt raffinierte Arrangements, und die glänzend besetzte Band findet sofort zu Dianne Reeves, als würden sie häufig zusammen auf der Bühne stehen. Sie ist eine Entertainerin im besten Sinne des Wortes, hat den Abend im Griff und es überhaupt nicht nötig, sich in den Vordergrund zu spielen. Wer nicht dabei war, hat etwas verpasst, muss sich aber nicht grämen – bei ARTE Concert kann man diesen Abend in der Alten Oper Frankfurt noch einmal erleben (bis zum 22.07.24). 

Auszeiten wie diese sind wichtiger denn je. Man kann nicht permanent die News verfolgen. Wenn das Handy bei einem Konzert auf Flugmodus ist, erreichen uns die Eilmeldungen eben etwas später. Ihre Solidarität mit der Ukraine bekunden die herrlich schrägen Tiger Lillies im Berliner Tipi ohne große Worte; sinnigerweise heißt das aktuelle Programm des unverwechselbaren Trios “Lessons in Nihilism”. Über dem Flügel liegt die Fahne des geschundenen Landes, das endlich (!) weiter von Amerika unterstützt wird. In der Pause schauen wir doch schnell auf das Smartphone und bekommen die Eilmeldung, dass der Kongress Mittel in Milliardenhöhe für die Ukraine frei gegeben hat. Ohne diese Unterstützung wäre eine Niederlage nicht abzuwenden gewesen. Europa allein ist dazu nicht in der Lage, mit großen Worten – etwa denen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron – kann ein Land einen Angriff nicht abwehren. Der Speaker des Repräsentantenhauses, der erzkonservative Republikaner Mike Johnson, begründete seinen Einsatz für die Ukraine mit den Worten, er wolle nicht auf der falschen Seite der Geschichte stehen. Würden sich doch mehr Menschen diese Maxime zu eigen machen! 

Die Koralle lacht nicht mehr

Nicht bloß die Korallenriffe am Great Barrier sind in ihrer Existenz bedroht. © Agnieszka auf Pixabay

Per Rad & S-Bahn fahren wir zum Potsdam Museum, um den Maler Karl Hagemeister (1848 – 1933) zu entdecken. In einer kleinen, feinen Ausstellung, die sich an den vier Jahreszeiten orientiert, werden einige klug ausgewählte Bilder gezeigt. Gemeinhin rechnet man Hagemeister dem deutschen Impressionismus zu, aber einige Arbeiten weisen schon darüber hinaus. Das verdankt sich seinen kräftigen, wilden Pinselstrichen, doch nutzte er nicht nur konventionelle Utensilien. “Hagemeister malte mit breiten Pinseln, aber hauptsächlich mit Hasenpfoten, die ihm ja sein Leben lang die Jagd immer beschert hatte”, schrieb Heinrich Basedow d.J. 1974. Er ging nicht in die Natur, Hagemeister war Natur. “Er kam nicht wie viele seiner Künstlerkollegen aus der Stadt in die Natur, sondern er lebte in und von der Natur.” (Wikipedia) In den späten Jahren hatte der Mitgründer der Berliner Secession endlich Erfolg mit seinen Bildern. In der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg verlor er sein ganzes Vermögen. Hagemeister starb in Werder im Havelland, wo er fast sein ganzes Leben verbracht hatte. 

Karl Hagemeister „Wellen im Sturm“ (1915)

Heute würde der Naturmensch vielleicht mit den Grünen sympathisieren und wäre schockiert, welche Schäden die rücksichtslose Ausbeutung der Natur inzwischen angerichtet hat. Über die größte Korallenbleiche aller Zeiten am Great Barrier Reef in Australien berichten die Medien. Der Grund ist uns allen bekannt: die inzwischen irreversible Erwärmung der Ozeane. Darauf weist etwa der Kieler Klimaforscher Mojib Latif immer und immer wieder hin. Für einen Tag ist er in den News, und am nächsten Tag schlagen wir seine Prognosen wieder in den Wind. Um so verwunderlicher, dass die Grünen sich auf den schlechten Deal eingelassen haben, dass nicht mehr jedes einzelne Ressort für die Einhaltung der vereinbarten Klimaziele verantwortlich ist, sondern ressortübergreifend das Gesamtziel erreicht werden muss. Nun sind die angedrohten Fahrverbote vom Tisch, und der Juniorpartner FDP lacht sich wieder mal ins Fäustchen.  

Vor der Bundestagswahl 2025 und den Wahlen in diesem Jahr (Europawahl, Landtagswahlen) bringen sich die Parteien und ihr Spitzenpersonal in Stellung, wie der Reutlinger Generalanzeiger beobachtet. “Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat versucht, sich in Szene zu setzen. Sie flog nach Israel, um die Regierung Netanjahu von einer militärischen Reaktion abzuhalten. (…) Baerbock hat die große Bühne gesucht, weil es ihr noch um etwas anderes geht. Um das eigene Profil und um die Spitzenposition bei den Grünen vor der nächsten Wahl. Doch das ging daneben. Ihr wurde nur ihr geringer Einfluss vor Augen geführt.“ (18.04.24) Sollte die Strategin der eigenen Karriere Erfolg haben, wäre das ein Grund mehr, 2025 nicht grün zu wählen. Die multiplen Krisen müssten den wackeren Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier eigentlich zu einer Ruckrede animieren. Stattdessen versammelt der frisch gebackene Suhrkamp-Autor in seinem Buch “Wir” nur Gemeinplätze wie “Eine Demokratie kann ohne den Rechtsstaat nicht bestehen.” Gottfried Benn soll einmal gesagt haben: “Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.”  

Recht aufs Leben

Mit ihrem Debüt „Morgen ist auch noch ein Tag“ ist der italienischen Regisseurin Paola Cortellesi ein Meisterwerk gelungen. © TOBIS Film

Vor den Kinos trennen sich die Welten. Die Mädels mit den meterhohen Popcorn-Eimern strömen in den Fantasyfilm “Chantal im Märchenland”, der die Kinocharts derzeit anführt. Wir interessieren uns für “Morgen ist auch noch ein Tag”. Eine Nachbarin uff de Gass’ hatte mich auf diesen Schwarzweiß-Film einer mir völlig unbekannten italienischen Regisseurin hingewiesen, der in ihrem Heimatland im letzten Jahr mit fünf Millionen Besuchern mehr Publikum als Barbie verzeichnete. Ein hochinteressantes Interview im Tagesspiegel steigert noch meine Neugier – und unsere Erwartungen werden nicht enttäuscht. Im Gegenteil, Paola Cortellesi legt mit ihrem Debüt ein Meisterwerk vor, das mit Klassikern wie “Fahrraddiebe” und “La Strada” im gleichen Atemzug genannt werden muss. Erzählt wird die Geschichte einer Frau – grandios gespielt von der Regisseurin selbst – in der Nachkriegszeit. Ihr Mann demütigt, erniedrigt und prügelt sie; ihr Leben mit drei Kindern, einem despotischen Schwiegervater und miesen Hilfsjobs ist deprimierend. Trotzdem verliert Della nie den Lebensmut, kleine Fluchten wären möglich und scheitern doch, aber am Ende gelingt ihr der Triumph einer Selbstermächtigung. Das ist ganz großes Kino, herzzerreißend und herzerwärmend. 

Könnte man die Choreografien von William Forsythe, dessen große Karriere in den 70er und 80er Jahren in Frankfurt begann, in diesen Zusammenhang stellen? Sein Ziel war es, das Ballett aus den Zwängen der Konvention zu befreien und eine neue Sprache des Tanzes zu entwickeln. Mit dem Staatsballett Berlin hat er einige Arbeiten neu einstudiert – Standing Ovations bei den durchweg ausverkauften Vorstellungen in der Deutschen Oper Berlin. “Die Komplexität der Choreografien, die sich in irrsinnigen Geschwindigkeiten samt atemberaubender Tempowechsel auf der Bühne abspielen, kann man kaum im Detail erfassen, geschweige denn mit Worten beschreiben”, brachte es Elisabeth Nehring trefflich im Tagesspiegel auf den Begriff (19.02.24) Besser als der Gesangspop von James Blake passen zu diesen neuen Tanzwelten indes die elektronischen Klänge von Thom Willems, mit dem Forsythe seit Jahrzehnten schon kooperiert. 

Zumindest einen wichtigen Etappensieg konnten die Klima-Seniorinnen aus der Schweiz in dieser Woche vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verbuchen. Ihr Heimatland wurde wegen mangelnder Initiative im Kampf gegen den Klimawandel verurteilt. Diese ganz wichtige Entscheidung wird Konsequenzen haben, auch in unserem Autoland. Nun droht der Verkehrsminister und oberste Lobbyist der deutschen Autoindustrie Volker Wissing mit einem Fahrverbot und sagt Versorgungsprobleme voraus, sollte sein Ressort gezwungen werden, jährlich 22 Mio Tonnen CO2 einzusparen. Wieder wischt der FDP-Mann ein moderates Tempolimit vom Tisch und zeigt einmal mehr, wie ernst es seiner Partei mit dem Kampf gegen den Klimawandel ist. Nach wie vor gibt es die Pendlerpauschale, werden Diesel und Dienstwagen subventioniert und die Autos hierzulande immer wuchtiger. Aus der selbst ernannten Zukunfts- ist längst eine Zoffkoalition geworden. Auch daran haben wir uns schon gewöhnt. 

Nichts bleibt, wie es ist

Die letzte Printausgabe, die an einem Sonntag erschien.

Nun sind die Zeiten vorbei, als sonntags noch eine Zeitung im Briefkasten steckte. Jetzt musste auch der Berliner Tagesspiegel seine Sonntagsausgabe einstellen – die Zustellung nur eines Blattes durch einen Träger ist selbst in der Großstadt nicht mehr kostendeckend. Damit vollzieht der Verlag eine Wende, die andere Häuser schon hinter sich haben. Die Sonntagszeitungen werden schon am Samstag zugestellt und sind im Handel noch die ganze Woche im Angebot. Längst setzen viele Verlage auf digitale Abos, die mittlerweile 50 % der verbreiteten Auflage darstellen. Ein Blick auf die Zahlen bei der IVW (Interessengemeinschaft zur Verbreitung von Werbeträger e.V.) ist sehr aufschlussreich. Der Tagesspiegel (Mo – So) in Berlin meldet eine Druckauflage von knapp 69.000 Exemplaren. Die meisten davon sind Abos, im Handel werden 5.000 abgesetzt, bei einer Remission von 10.000 Exemplaren. Mit dem digitalen Abo – es macht schon über 50% der Verbreitung aus – kommt das selbst erklärte “Leitmedium aus der Hauptstadt auf eine Verbreitung von knapp 110.000 pro Ausgabe.

Natürlich hat ein digitales Abo viele Vorteile. Es wird Energie und Papier gespart, obwohl die schöne, neue Welt keineswegs ohne Strom funktioniert. Mit 10% des weltweiten Stromverbrauchs ist laut statista die CO2-Emission des Internets inzwischen fast so hoch wie die von Japan; das Netz liegt im weltweiten Ranking auf Platz 6. Ganz vorne mit dabei die Tech-Giganten aus dem Silicon Valley, etwa Facebook, wo sich die jungen Leute schon längst nicht mehr treffen. Dort führt ein Freund, der vor über sechs Jahren gestorben ist, weiter eine digitale Existenz. Bereits vor fünf Jahren habe ich auf seiner Seite darauf hingewiesen, dass Sebastian gestorben ist. Das ficht seine sog. Freunde nicht an, die ihn diese Woche wieder zum Geburtstag gratulieren. Dass er seit Jahren nicht mehr antworten kann, scheint niemandem aufzufallen. Da nur Verwandte das Recht haben, die Löschung einer Seite zu veranlassen, wird das wohl Jahr für Jahr so weitergehen. 

Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier, und längst haben wir uns an die bedrückenden Meldungen aus dem Gazastreifen oder aus der Ukraine irgendwie gewöhnt. Nicht minder stoisch nehmen wir die Nachrichten über die Erderwärmung zur Kenntnis, als ginge uns das irgendwie nichts an. Nach dem wärmsten Februar seit Beginn der Wetteraufzeichnungen folgte der wärmste März. Das Plus liegt je nach der Bezugsgröße bei 2,9 bzw, 4 Grad über dem Vergleichszeitraum, und wir leben unbekümmert so weiter wie bisher. Die Touristiker freuen sich, und der oberste Lobbyist der deutschen Automobilindustrie sitzt in der Regierung. Volker Wissing (FDP) behauptet, ein Tempolimit, das ohne nennenswerte Einschränkungen jährlich 600 Millionen Liter Kraftstoff sparen würde, sei hierzulande nicht durchzusetzen, obwohl inzwischen die Mehrheit der Deutschen inzwischen dafür ist. “Gib Gas, ich will Spaß” trällerte Markus 1983. Lustig war das schon damals nicht,

Leipziger Vielerlei

Dark Romance auf der Leipziger Buchmesse. © Rolf Hiller

Mein letzter Besuch bei der Leipziger Buchmesse liegt schon einige Jahre zurück. Als ich damals mit der Straßenbahn zum Messegelände fuhr, wähnte ich mich auf einer Fahrt zu einem skurrilen Maskenball. Viele Fahrgäste steckten in phantasievollen Kostümen und fieberten in bester Laune ihrem Auftritt auf der Messe entgegen. Damals wusste ich nicht, dass parallel zur Buchmesse die Manga-Comic-Con stattfindet, ein grandioser Clash der Kulturen. War’s bloß die erste Faszination damals oder in diesem Jahr wirklich routinierter im schlechten Sinne des Wortes. Die Cosplayer sind zum Glück nicht bloß in ihren Hallen unterwegs; man trifft sie überall auf der Messe, die so einen eigentümlich spielerischen Charakter bekommt. Das ist Leipzig, aber die Probleme dieser Doppelveranstaltung sind nicht zu übersehen. 

Der langjährige Messedirektor Oliver Zille ist zurückgetreten, nun liegt die Verantwortung in den Händen von Astrid Böhmisch, die aus dem Marketing kommt. Die Hallen sind luftiger geworden, es sind deutlich weniger Stände, es gibt viele freie Flächen und erstaunlich viele gastromische Angebote. Wie sollen Verlage, die nur ein paar Bücher im Programm haben und deren Namen nicht einmal Insidern bekannt sind, ihre (viel zu) großen Standflächen bezahlen. Eine Dame des Schweizer Gemeinschaftsstandes berichtet von deutlich höheren Mieten in diesem Jahr und gibt zu bedenken, ob sich dieses Messegeschäft für viele Verlage überhaupt noch lohnt. Auf die Freunde aus der Fantasy-Welt trifft das definitiv nicht zu. Bei “Black Edition. Dein Verlag für Dark Romance” oder LYX stehen die Mädels Schlange; die Bücher verkaufen sich wie geschnitten Brot. Probleme, ihre Romane loszuwerden, kennt die Amazon-Bestseller-Autorin Dagmar Winter (“Die Hüterin der vier Elemente”) ebenfalls nicht; sie empfiehlt die Promotion über BookTok. 

Mit solchen Eindrücken & Erlebnissen im Gepäck geht’s zurück in die Welt der sog. Hochkultur. Mit viel Glück konnten wir noch zwei Tix für ein Gastspiel der hochgelobten Hamlet-Aufführung des Schauspielhauses Bochum in Leipzig ergattern. Vor Jahren gab es Johann Simons Inszenierung mit Sandra Hüller in der Hauptrolle als digitales Angebot – aber was ist ein Stream gegen ein Erlebnis. Der Regisseur reduziert seinen Hamlet auf das Minimum und erzielt ein Maximum an Wirkung. Es gibt kein Bühnenbild (einzige Requisiten eine Lichtkugel und eine Metallwand), keine drastische Action. Die Schauspieler:innen betreten nur dann die Bühne, wenn sie etwas zu sagen haben, und setzen sich dann wieder in den Zuschauerraum. Durch diese Reduzierung werden die einzelnen Auftritte um so nachdrücklicher. Insbesondere Sanda Hüllers Hamlet bannt das Publikum, wenn der Dänenkönig wie aus dem Nichts in den Wahnsinn stürzt. Übrigens wurde schon 1741 diese Rolle in Dublin von einer Frau gespielt, ist im ganz hervorragenden Programmheft zu lesen. Begeisterter Applaus für die Bochumer in Leipzig. 

Glück im Unglück

Key Visual der sechsteiligen Serie, mit der die ARD an einen der größten und berühmtesten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts erinnert, der am 3. Juni vor 100 Jahren starb. © NDR

Großer Andrang bei der Premiere der Mini-Serie “Kafka” in der Berliner Urania. Der große Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt; “Kafka” ist ein ambitioniertes & aufwändiges Projekt der ARD, an der alle Sender beteiligt sind. Die Serie besteht aus sechs Folgen à 45 Minuten, die das Leben dieses skrupulösen Schriftstellers unter verschiedenen Aspekten beleuchten. Bei der Premiere wurden drei Folgen am Stück gezeigt, der ganze “Kafka” ist schon jetzt in der ARD Mediathek verfügbar und wird ab dem 26.03. zur besten Sendezeit ausgestrahlt. “Kafka” ist womöglich das TV-Ereignis des Jahres – bestens besetzt in jeder Beziehung. Das Drehbuch schrieb Daniel Kehlmann zusammen mit dem Regisseur David Schalko, und man hätte wohl keinen besseren Hauptdarsteller finden können als Joel Basman, der Kafka nicht spielt sondern lebt.  

Hätte dem Schriftsteller, der sein Werk nie veröffentlichen wollte und seinem Freund Max Brod auf dem Totenbett auftrug, den ganzen Nachlass zu verbrennen, was dieser zu unser aller Glück nicht tat, das grandiose Key Visual gefallen? Hätte ihm die Serie gefallen? Wahrscheinlich nicht, denn Kafka wollte nie im Mittelpunkt stehen und war nie mit sich und seiner Literatur zufrieden. Sein Glück lag im Scheitern. Seiner verehrten Felice schrieb er drei Briefe pro Tag, aber ein Leben mit ihr kam für ihn nicht in Frage. Auf der Homepage der ARD findet sich dazu ein treffliches Zitat: “Ich habe kein literarisches Interesse sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.” Franz Kafka, der seinen Job bei einer Versicherung gewissenhaft erledigte und regelmäßig Sport trieb, war vom Scheitern regelrecht besessen und fand sein Glück im Unglück. In der Kurzerzählung “Gibs Auf!” aus dem Nachlass fragt der Ich-Erzähler einen Schutzmann nach dem Weg und wird harsch abgewiesen. “’Gibs auf, gibs auf’, sagte er und wandte sich mit großem Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.” 

Am 3. Juni jährt sich der Todestag von Franz Kafka zum 100. Mal, und er hätte bestimmt seine stille Freude am Weltglückstag gehabt, den die Vereinten Nationen 2012 beschlossen haben. “Die Vereinten Nationen verbinden mit dem Weltglückstag weltweite Politikziele”, lesen wir mit Staunen bei Wikipedia. Am glücklichsten sind dem World Happiness Report zu Folge die Menschen in Skandinavien, auf Platz 5 liegt unerwartet Israel, Deutschland belegt den 24. Rang. Kafka hätte sich über diese Erhebung im Stillen bestimmt genauso amüsiert wie über das Wort “kafkaesk”, das den Wahnwitz unserer Zeit nach wie vor treffend auf den Begriff bringt. Diesen Schriftsteller, der nie einer sein wollte, kann man immer und immer wieder neu entdecken – nun auch im Fernsehen. Für “Kafka” zahle ich gerne meinen Beitrag, weil ich es tun muss. Gut so!

Time Out

© Rolf Hiller

Reisen ist in diesen Tagen ein riskantes Unterfangen. Nicht auszudenken, ich müsste noch analog, also ortsgebunden arbeiten. Wegen des sechsten Streiks der GdL (Gewerkschaft der Lokomotivführer) musste ich einen Tag früher nach Frankfurt, auch bei der Rückfahrt galt es umzudisponieren – passenderweise rief Verdi im Nahverkehr drei Tage lang zum Streik auf. Zum Glück werden die S-Bahnen von der Deutschen Bahn betrieben, sodass ich nicht zum Frankfurter Hauptbahnhof laufen musste, sondern vom nahe gelegenen Westbahnhof abfahren konnte. Flexibilität ist in diesen Tagen gefragt. Früh auf nach unruhiger Nacht und gleich los, denn die App der Deutschen Bahn prognostizierte nach dem Ende des ersten Wellenstreiks hohe bis sehr hohe Auslastung ihrer Züge ab dem späten Vormittag. Der ICE nach Berlin via Leipzig war mäßig belegt und erreichte sein Ziel auf die Minute genau. 

Wieder einmal Glück gehabt, aber bei allem Verständnis für die Forderungen der GdL, die ihr Vormann Claus Weselsky vehement hinausposaunt: eine gesetzliche Regelung für Streiks in der kritischen Infrastruktur, auf die täglich Millionen Menschen angewiesen sind, ist überfällig. Gegen eine Arbeitszeitverkürzung ist grundsätzlich nichts einzuwenden; das haben die Metaller schon vor vierzig Jahren erkämpft. Aber es muss festgeschrieben werden, dass ein Streik nur mit ausreichender Ankündigung erfolgen darf und ein reduziertes Angebot der Verbindungen (auch mit GdL-Mitgliedern) aufrechterhalten bleiben muss. Sonst werden weiterhin Menschen, die mit dem Tarifstreit nichts zu tun haben, von Gewerkschaften in Geiselhaft genommen. “Fahrgastvertreter”, so bringt es der Tagesspiegel auf den Punkt, “fordern schon lange ein Gesetz, das die Gewerkschaften verpflichtet, Streiks bei Bus und Bahn rechtzeitig anzukündigen und ein Mindestangebot aufrechtzuerhalten. Einen verpflichtenden Notbetrieb gibt es schon bei Streiks in Krankenhäusern. Weselskys Verhalten zeigt, dass das auch im Verkehrssektor bitter nötig ist.“ (13.03.24) 

Über den Streiks der GdL – sie sollen die kriselnde deutsche Volkswirtschaft täglich 100 Millionen Euro kosten – und den seit Wochen andauernden politischen Taurus-Auseinandersetzungen ist die katastrophale Lage der palästinensischen Bevölkerung im Gaza-Streifen in den Hintergrund getreten. Nun hat sich Daniel Barenboim, der langjährige Generalmusikdirektor der Staatsoper Berlin, dazu in wünschenswerter Klarheit in der Wochenzeitschrift “Die Zeit” zu Wort gemeldet: “Nach so viel Blutvergießen und unvorstellbaren Verlusten gibt es wirklich nur eine realistische Lösung: zwei Staaten, die in ihren Gebieten autonom sind; das Ende der Siedlungen im Westjordanland und die Verpflichtung beider Seiten zu einem dauerhaften Frieden. Uns läuft die Zeit davon, und künftige Generationen werden uns nie verzeihen, wenn wir wieder versagen.” (14.03.24) Die Zeit arbeitet gegen die Hardliner in Israel um den Premierminister Benjamin Netanjahu, aber das hilft der geschundenen palästinensischen Bevölkerung in ihrer aktuellen Lage nicht. 

Interessengebiete

Hedwig Höß (Sandra Hüller) genießt ihr Paradies in Auschwitz. Den Schrecken hört man nur in Jonathan Glazers Film „The Zone of Interest“ © Leonine

Am zweiten Tag nach dem Filmstart in Deutschland ist das Kino mit knapp 700 Plätzen am späten Nachmittag sehr gut gefüllt. Das Interesse an “The Zone of Interest” von Jonathan Glazer mit Sandra Hüller ist groß. Viele wollen diesen eindringlichen Film über das Leben der Familie von Rudolf Höß (Christian Friedel) sehen, der alle gängigen Klischees unterläuft. Höß, der Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz ist kein schneidiger Nazi mit autoritärem Gehabe, er wird als zurückhaltender Mann geschildert – als Vater und als Chef. Die Vernichtung von 700.000 ungarischen Juden ist für ihn eine logistische Herausforderung, die er emotional völlig unbeteiligt annimmt. Immer denke ich an Hannah Arendts Wort von der “Banalität des Bösen”. Implizit nimmt der Regisseur diese Deutung auf – sein Film schildert das normale und banale Leben der Familie Höß; hinter der Mauer zum Konzentrationslager liegt ihr “Paradies”. Der Schrecken dort ist akustisch allgegenwärtig. Ein beunruhigendes Hintergrundgeräusch, das den Alltag begleitet und niemanden zu stören scheint.

“The Zone of Interest” basiert auf dem gleichnamigen Roman von Martin Amis, den die New York Times als “Meister der Neuen Widerwärtigkeit” bezeichnet hat. Bereits der Titel erinnert an den menschenverachtenden Zynismus des Hitler Regimes, Auschwitz wurde als “Interessengebiet” bezeichnet. “Das Interessengebiet des KZ Auschwitz (auch Interessengebiet des KL Auschwitz) war während des Zweiten Weltkrieges ein Sperrgebiet der Schutzstaffel für den Lagerkomplex Auschwitz im deutsch besetzten Polen. Auf diesem von der Außenwelt abgeschirmten Gebiet entstand der größte Konzentrations- und Vernichtungslagerkomplex des NS-Staates.” (Wikipedia) Jonathan Glazers Spielfilm – es ist übrigens erst sein vierter – zeigt die Normalität des Schreckens dieser Zeit. An die Vernichtung jüdischer Menschen in den Lagern hatte man sich gewöhnt. Sie lief wie eine endlose Tonschleife nebenher und schien niemanden zu stören. 

Und was nehmen wir heute alles hin? Am 18.03.2014 annektierten Putins Truppen die Krim, vor zwei Jahren begann der Überfall auf die Ukraine, das Leid im Gaza-Streifen schreit zum Himmel, die Situation vieler Flüchtlinge etwa in den Lagern in der Türkei ist deprimierend, fast 800 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen, in Deutschland, der drittgrößten Industrienation der Welt, droht laut Unicef (06.12.23) 1 Million Kindern dauerhafte Armut. Das und noch viel mehr wissen wir – und spalten es menschlich allzu menschlich ab. “The Zone of Interest” endet in der heutigen Gedenkstätte in Auschwitz, in der gerade geputzt wird. Vor Jahren waren wir einmal in Buchenwald – ein touristischer Hotspot des Grauens. Viele Besucher:innen sind natürlich mit ihren Handys beschäftigt, nuckeln an ihren Flaschen und erleben den Schrecken als Ausflug oder Schulpflichtprogramm. Das banalisierte Grauen.

Ausgelaugt

Der Goldene Bär ging bei der 74. Berlinale an den Dokumentarfilm „Dahomey“ von der Regisseurin und Produzentin Mati Diop. © Richard Hübner / Berlinale 2024

Mit einem Eklat begann die 74. Berlinale, mit einem Eklat endete sie auch. Herrschte am Anfang helle Empörung über die Einladung einiger AfD-Abgeordneter zur Eröffnungsgala – in den Vorjahren nahm daran übrigens niemand Anstoß -, nutzten einige die Abschluss-Veranstaltung zur Abrechnung mit Israel. Keine Rede davon, dass die Hamas den Angriff auf Israel am 7. Oktober begann, kein Wort darüber, wie zynisch diese Terrororganisation die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen als Geisel nutzt. Keine Reaktion im Publikum und bei den anwesenden Politiker:innen. Die Leitung der Berlinale, Mariëtte Rissenbeek (Geschäftsführung) und der Künstlerische Leiter Carlo Chatrian, distanzierten sich erst am nächsten Tag pflichtschuldigst und wurden einmal mehr zu Getriebenen, wie so oft in ihrer glücklosen Amtszeit. Sie hätten gewarnt & gewappnet sein müssen, zumal sich die Berlinale doch ganz explizit als politisches Filmfestival versteht. 

Über dem Eklat zum Abschluss gerieten Licht & Schatten der filmischen Qualität bei der 74. Berlinale in den Hintergrund. Der Wettbewerb fand bei der Kritik wenig Anerkennung – zu viele schwache Filme. Warum die neue Arbeit von Julia von Heinz (“Treasure”) in Berlin ihre Weltpremiere feierte, aber nicht im Wettbewerb lief, verstehe, wer will. Warum es bei der Berlinale nur eine (!) Auszeichnung für den/die beste/n Hauptdarsteller:in gibt, verdankt sich wohl einer merkwürdigen Anpassung an den Zeitgeist. Die Entscheidungen der Jury überraschen immer wieder, aber man muss sie klaglos hinnehmen. Den Goldenen Bären erhielt wieder wie im Vorjahr ein Dokumentarfilm – “Dahomey” von Mati Diop. Sicher eine gut gemeinte Entscheidung, die aber zeigt, dass Berlin gegen die Festivals in Cannes und Venedig weiter an Bedeutung verliert. “Der Goldene Bär zieht nicht mehr” (FAZ) und “Festival in Schieflage” (Tagesspiegel) bilanzierten die Experten.  

Derweil eskaliert die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen immer weiter. Auch wenn Israel nicht für den Angriff der Hamas verantwortlich ist, müssen sich die Regierung und die ganze Welt der Situation stellen. Aber ob das ohne einen Wechsel im Amt des israelischen Ministerpräsidenten möglich sein wird? Eines Tages wird hoffentlich unzweifelhaft geklärt, ob Benjamin Netanjahu die Warnungen seines Geheimdienstes bewusst ignoriert hat, um weiter im Amt zu bleiben. Der Mossad soll schon ein Jahr vor dem Überfall der Hamas genau davor gewarnt haben. Dass Israel einen Krieg gegen die Hamas und andere Terrororganisationen im Nahen Osten nicht gewinnen kann, liegt auf der Hand. Dass die demografische Entwicklung in dieser Krisenregion gegen Israel spricht und eine international garantierte Zwei-Staaten-Lösung der einzige Weg ist, dort halbwegs stabile Verhältnisse zu schaffen, müsste allen Kriegstreibern klar sein. Aber die Stimme der Vernunft findet derzeit kein Gehör! Es ist zum Verzweifeln. 

Anstand lohnt sich immer

Johannes Hegemann und Liv Lisa Fries im Film „Alles Liebe, Eure Hilde“ von Andreas Dresen © Frederic Bartier / Pandora Film

Ein bisschen Glück schadet nie bei der Berlinale. Wir konnten beim morgendlichen Booking am Rechner fast alle Filme bekommen, die wir sehen wollten, und haben nur einen echten Flop erlebt. Eine gute Bilanz für einen wieder einmal sehr durchwachsenen Wettbewerb, bei dem man sich immer wieder fragen muss, was dort Filme wie die verquaste Lovestory “Black Tea” zu suchen haben. Andererseits gab es Weltpremieren, etwa “Andrea lässt sich scheiden” von und mit Josef Hader, die in der Sektion Panorama liefen. Vielleicht schafft es Tricia Tuttle, die neue Intendantin der Berlinale, im nächsten Jahr, die Qualität des Wettbewerbs zu erhöhen und die Reihen klarer zu positionieren. “Encounters”, das Lieblingsprojekt des scheidenden künstlerischen Leiters Carlo Chatrian wird es dann hoffentlich nicht mehr geben. Bei ihrem ersten Auftritt in Berlin machte Tricia Tuttle, die zuvor das BFI London Film Festival geleitet hat, einen sehr guten Eindruck. Die Berlinale braucht dringend frische Ideen & Impulse. 

Dabei waren im Wettbewerb heuer durchaus hervorragende Filme vertreten, etwa “Sterben” (183’) von Matthias Glasner, mit Corinna Harfouch und Lars Eidinger prominent besetzt. Gleichfalls in Erinnerung bleiben “My Favourite Cake”, Glück und Leid einer kurzen Liebe im Alter, von Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha, das berührende Coming-of-Age zweier junger Frauen in “Langue Étrangère” oder der dänisch-schwedische Beitrag “Vogter”, eine dichte, packende Täter-Opfer Geschichte in einem Gefängnis. Vielleicht gewinnt aber Andreas Dresen mit “In Liebe, Eure Hilde” den Goldenen Bären 2024, der das historisch verbürgte Leben der jungen Hilde Coppi (Liv Lisa Fries) erzählt, die durch ihren Freund im Widerstand gegen die Nazis aktiv wird – und wie alle anderen der jungen Idealisten unter dem Schafott endet. Dresen hat den Stoff bewusst enthistorisiert und verzichtet auf Genre-Klischees. 

“Anstand lohnt sich immer”, sagt Drehbuchautorin Leila Stieler anschließend auf der Pressekonferenz. Ein Satz, der nachhallt und dem sich jede:r in Zeiten wie diesen stellen muss. Am 24. Februar vor zwei Jahren begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und setzte bei uns jede Menge Realitätsschocks in Gang. Inzwischen lässt sich nicht mehr ausschließen, dass die ausgepowerte Ukraine den Krieg verliert. Dann steht der nächste Realitätsschock bevor, wenn der Diktator Putin das Baltikum angreift und damit die NATO. Am 25.02.2022 notierte ich an dieser Stelle: “Gerade hat der russische Außenminister Sergej Lawrow der ukrainischen Regierung die demokratische Legitimation abgesprochen. Zynischer geht’s nicht. Nicht auszudenken, wenn der amerikanische Präsident noch Donald Trump hieße…” Es ist leider nicht auszuschließen, dass der nächste amerikanische Präsident wieder Donald Trump heißt, allen Anklagen & Prozessen zum Trotz. Zur nächsten Berlinale wissen wir mehr. Schlimmer geht’s leider immer.