Die Aerosole der Anderen

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Safety first beim Check-In am Flughafen; auch daran werden wir uns gewöhnen müssen. © Wimpi Enterprise

Endlich mal wieder ins Konzert. Im „Pianosalon Christophori“ im Berliner Wedding steht ein Beethoven Abend auf dem Programm, und wir haben noch Karten ergattern können. In der alten Halle spielen hervorragende Musiker*innen, die (noch) nicht im Rampenlicht des Konzert-Business stehen. Die Atmosphäre im Salon ist lässig und gleichzeitig konzentriert – man kann die Musik sehr direkt erleben, auch in Corona-Zeiten. Beim Eintritt müssen wir Masken tragen, die Abstandsregel wird befolgt; trotzdem kommen 75 Gäste in den Genuss von vier frühen Klaviersonaten, die Daniel Heide spielt.

Derweil wir dieses erste Konzert seit langer Zeit ganz besonders genießen, ist der Lebensfreund auf der Heimreise von Neu-Delhi nach München – endlich. „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“, sang einst der Barde Reinhard Mey. Das gilt schon längst nicht mehr. Der Check-In, angeblich die gefährlichste Phase einer Flugreise, dauert vier Stunden. Teils noch zusätzlich vermummt, dazu mit Maske, Gesichtsvisier und blauen Capes geschützt, mutet die Szene gespenstisch an – unterwegs in geheimer Mission. Viele legen die Schutzutensilien auch während des achtstündigen Flugs nach München nicht ab – und sie haben recht. Nicht bloß der Virologe Christian Drosten, dessen Podcast ich nach Wochen wieder einmal höre, ist in großer Sorge, dass wir das Corona-Virus unterschätzen und im Herbst eine zweite Welle droht. Wie schnell es gehen kann, erleben gerade die Menschen aus dem Kreis Gütersloh; da ist schon wieder Lockdown, und sie sind in einigen anderen Bundesländern persona non grata.

Diese Gefahr droht indes überall. Wir fahren abends zum Schwimmen an den Berliner Schlachtensee – es ist herrlich wie immer dort. In den wenigen Buchten drängen sich junge Menschen wie eh und je, die wohl die Lockerung der Kontaktbeschränkungen nicht richtig verstanden haben: von Abstand keine Spur. Diese Lässigkeit ist fahrlässig! „Während die erste Welle in Europa unter Kontrolle zu sein scheint“, schreibt die Zeitung „La Vanguardia“ aus Barcelona (23.06.20), „breitet sich das Virus in Amerika, im Nahen Osten und in Südasien rasant aus: Weltweit 183.000 Neuinfektionen an nur einem Tag sind ein beunruhigender Rekord.“ Leugnen nützt nicht, Vorsicht allein hilft. Zumindest hat ein brasilianisches Gericht den Präsidenten Jair Bolsonaro („Corona ist ein Grippchen“) dazu verdonnert, in der Öffentlichkeit im Hauptstadtbezirk Brasilia eine Maske zu tragen. Ein Maulkorb wäre noch besser gewesen.

Wieder

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Theater heute: Vor dem Deutschen Theater in Berlin erleben Besucher*innen auf Distanz „Die Pest“ in einer gelungenen szenischen Verdichtung. © Rolf Hiller

Wenn die Fahrgäste keine Masken tragen würden, wäre alles wie immer. Der ICE nach München über Leipzig und Frankfurt ist am Sonntag gut gebucht. Zur Sicherheit steige ich schon am Berliner Hauptbahnhof ein, im Laufe der Fahrt füllt sich der Zug immer mehr. Wie im Flugzeug sitzen zum Teil Wildfremde direkt nebeneinander; viele hocken lieber auf dem Boden in den Eingängen. Offensichtlich verzichtet die Deutsche Bahn darauf, ihre Züge doch nur mit der Hälfte der Passagiere fahren zu lassen – in den letzten Monaten sind auch bei diesem Unternehmen Verluste in Milliardenhöhe aufgelaufen. Niemand sollte indes dem Glauben verfallen, diese Pandemie sei schon überwunden.

Wären wir am Dienstag nach Mallorca geflogen, dann hätten wir nebeneinander sitzen können; aber die Freunde vom Deutschen Theater dürfen keine Abweichung von der Vorschrift dulden. Bei der Bestuhlung draußen vor dem Deutschen Theater in Berlin gelten die Corona-üblichen Sicherheitsabstände. Egal, Hauptsache wieder echtes Theater und kein fades Streaming. Gespielt wird „Die Pest“ von Albert Camus, der Text der Stunde. Geschickt hat der Regisseur András Dömötör den Roman gerafft und verdichtet. Der Schauspieler Božidar Kocevski setzt die lakonische Schilderung mit sparsamen Mitteln um – und beeindruckt um so mehr. Am Schluss feiern die Menschen ihr Überleben, doch der Arzt Rieux „wusste, was dieser frohen Menge unbekannt war und in den Büchern zu lesen steht, dass der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet.“

Nicht anders wird es mit Corona sein. Mit diesem Virus werden wir leben müssen und immer auf der Hut sein – auch beim Yoga. In unserem kleinen Raum sind nur noch fünf Matten fixiert, die nach der Übung desinfiziert werden. Alles neu und ungewohnt, dennoch lässt sich Yoga live mit der Meisterin überhaupt nicht mit dem digitalen Surrogat bei Zoom vergleichen! Corona stellt unser gewohntes Leben in Frage und auf den Prüfstand. So futtern die Deutschen ein gutes Kilo Fleisch pro Woche. Wir alle wissen, was wir tun, und haben schon einmal von den Sklaven aus Osteuropa gehört, die in den Fleischfabriken schuften und sich abends in Massenunterkünften von ihrer Maloche erholen sollen. „Eigentum verpflichtet“, empört sich die „Neue Ruhr Zeitung“ vom Tage. „Sein Gebrauch soll zum Wohle der Allgemeinheit dienen. So einfach, so glasklar steht es im Grundgesetz. Clemens Tönnies, Milliardär, Großwildjäger, Bußgeld-Trickser und Chef eines Unternehmens, in dem Menschen zu Dumpinglöhnen Tiere schlachten, entbeinen und zerlegen, schert sich offenbar einen feuchten Kehricht um die Verpflichtungen, die ihm das Grundgesetz auferlegt. Er ist der Typus eines Feudal-Unternehmers, dem es nur um eines geht: die Vermehrung seines Reichtums, koste es was es wolle.“ Mahlzeit!

Verlierer & Gewinner

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Sarkasmus statt Perspektive. © Die Schmiere

„Eine Absenkung der Umsatzsteuersätze vom 1. Juli an ist absoluter Wahnsinn“, befindet Harald Elster, der Präsident des Steuerberaterverbands, obwohl seine Zunft davon ordentlich profitieren dürfte. Über neue Jobs können sich auch EDV-Spezialisten freuen; und die Abmahnvereine gehen schon in Position. In zweieinhalb Wochen müssen Rechnungswesen und Warenwirtschaftssysteme umgestellt werden, Preise neu kalkuliert und Verträge angepasst werden. Die Bundesregierung lässt sich die bis zum 31.12.20 befristete Absenkung der Mehrwertsteuer von 19 auf 16% (bzw. von 7 auf 5%) 20 Milliarden Euro kosten – und hofft auf den „Wumms“ ihres gewaltigen Konjunkturpakets, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie abzufangen. Der Erfolg bleibt abzuwarten. Denn die „Menschen draußen im Lande“, wie Politiker*innen es gerne formulieren, blicken besorgt in eine bange Zukunft. Viele haben Angst, über 7 Millionen sind in Kurzarbeit und müssen mit weniger Geld auskommen.

Sicher werden auch nicht alle Einzelhändler und Gastronomen die Mehrwertsteuersenkung  an ihre Kunden weitergeben – wer wollte es ihnen verdenken. Denn diese Branchen sind von der Krise besonders betroffen. Die Innenstädte verzeichnen deutlich weniger Besucher, Restaurants & Kneipen lassen sich unter Beachtung der Abstands- und Hygieneregeln nicht einmal kostendeckend führen. Die Kleinen sterben still, die Großen werden alimentiert. Die Lufthansa muss mit staatlichen Krediten in Höhe von 9 Milliarden Euro vor der Insolvenz bewahrt werden – und will jetzt trotzdem noch 26.000 Jobs streichen. Im letzten Jahr hat Europas größte Airline noch mit einem bereinigten Betriebsergebnis von 2 Milliarden abgeschlossen. Wie geht dem? Hat die Corona-Pandemie wie im Zeitraffer gnadenlos die Strukturprobleme eines Konzerns bloßgelegt wie bei Galeria Karstadt Kaufhof? „Wir werden in eine Rezession ungeahnten Ausmaßes kommen. Der Lockdown wird zum Shockdown. Ausgang ungewiss.“ Das hatte ich bereits am 10. April notiert und würde mich zu gerne eines Besseren belehren lassen.

Unverschuldet hat der Lockdown dagegen die Veranstalter  getroffen – noch immer gibt es keine Perspektiven für eine Branche, die auch wirtschaftlich von großer Bedeutung ist. In der Ausgabe 06/20 von FRIZZ Das Magazin für Frankfurt & Vordertaunus schildert Ralf Scheffler, der Inhaber der Batschkapp, er müsse womöglich zusehen, „(…) wie mein Lebenswerk an die Wand gefahren wird – und zwar ohne eigenes Verschulden.“ Dieser 1976 gegründeten Frankfurter Institution ergeht es wie der „Schmiere“: Das legendäre Kabarett will am 9. September seinen 70. Geburtstag feiern. Nach den derzeitigen Regeln darf die Prinzipalin Effi Rolfs auf den 92 Sitzplätzen ganze 9 Paare oder 12 Einzelpersonen platzieren. Da hilft auch keine Mehrwertsteuersenkung.

 

So nah, so fern

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Wo bitte geht‘s zur Kunst? Der Maler Torsten Schlüter weist hier auf seine Ausstellungen hin. © Karl Grünkopf

„Der Sommer auf der Insel Hiddensee war für viele aus der Hippie-, Künstler- und Jugendszene der Inbegriff der Freiheit. (…) Die Republikflucht auf Zeit hatte begonnen.“ Voller Freude stoße ich auf diese Sätze in meiner Urlaubslektüre „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ (Suhrkamp) von Steffen Mau. Der Soziologe an der Berliner Humboldt-Universität analysiert  in seinem lesenswerten Buch die „gesellschaftlichen Frakturen“ Ostdeutschlands und unterfüttert seine Erkenntnisse mit persönlichen Erfahrungen. Mau wuchs in der Plattenbausiedlung Lütten Klein in Rostock auf, streut aber keine persönlichen Anekdoten über Hiddensee ein. Noch immer zehrt „dat söke Länneken“ vom alten Mythos, noch immer lebt die Insel von ihrer Geschichte als Künstlerkolonie. Gerhart Hauptmann hatte hier seinen Sommersitz, Asta Nielsen und Ringelnatz zieren Postkarten, Maler*innen wie Henni Lehmann sind vom Licht fasziniert; Torsten Schlüter öffnet seinen 34. Kunstgarten übrigens am 30. Juni.

Entschleunigung ist auf Hiddensee keine Marketingfloskel, kaum sind wir auf der Fähre wird die Reise gemächlicher. Auf der Insel sind wir dann nur zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs. Heuer ziehen die Tage noch ruhiger dahin, denn es gibt wg Corona kaum Veranstaltungen. Immerhin kommen wir das erste Mal seit der Berlinale überhaupt ins Kino. Das wollen wir uns nicht entgehen lassen. Von den vielen geplanten Filmen sind zwei geblieben: „Fisherman‘s Friends“ und „Das perfekte Geheimnis“. Das Zeltkino bietet nur noch 30 Plätze, der Ablauf (Personalien angeben) ist genau geregelt und wird zur Eröffnung vom ehrenamtlichen Bürgermeister Thomas Gens überwacht, der tagsüber auf seinem Kutter Fischbrötchen verkauft. Er wurde im letzten Jahr mit 55% der Stimmen wiedergewählt; Vorwürfe gegen ihn wegen einer vermeintlichen Stasi-Vergangenheit konnten nicht abschließend geklärt werden.

Obwohl es nur ein paar Kilometer bis zum Festland sind, wirkt das Leben auf der Insel seltsam entrückt. Wir erleben keinen Ansturm von Touristen über Pfingsten. Zwar werden die Verhaltensregeln wg der Corona-Pandemie hier genauestens befolgt, aber ansonsten bekommen wir nicht viel mit von der Welt. Alles scheint weiter entfernt, obwohl wir natürlich die Nachrichten hören und die FAZ und den Tagesspiegel bekommen. Ähnlich muss es den Menschen einst auf dieser Insel gegangen sein – sie hatten ihr Leben hier und die Nachrichten waren schon überholt, als sie eintrafen. Das gilt heute natürlich so nicht mehr, aber doch scheint alles weiter weg zu sein: das Chaos in Amerika, die Wirtschaftskrise, das Konjunktur-Paket. Heute morgen dann eine Meldung von hohem Symbolgehalt: die Lufthansa wird im DAX von der Deutsche Wohnen ersetzt. Draußen zwitschern die Vögel.