Ende der Illusionen

Photo by cottonbro on Pexels.com

Alle tragen Masken in der S-Bahn. In Berlin-Südkreuz steige ich aus und fahre mit der Rolltreppe hinunter zum ICE-Bahnsteig. Ich suche mir einen verstohlenen Winkel und nehme kurz den FFP2-Schutz herunter, um meine beschlagene Brille zu trocknen. So geht Reisen heute, und es wird im Sommer nicht besser, denke ich. Die Fahrten im ICE nach Frankfurt werden jetzt immer so sein – immer mit so einer Maske im Gesicht, immer diesen Geruch in der Nase. Warum eine labberige OP-Maske gleichfalls (noch) zulässig ist, ist mir nicht nachvollziehbar. Die WHO, die in der C-Pandemie keineswegs überzeugend agierte, verbreitet, Stoffmasken würden genauso gut schützen wie die blauen Dinger für den OP. Was denn nun? Es sind diese widersprüchlichen Aussagen, die irritieren und erheblich zur „Pandemie-Müdigkeit“ – diese Wortschöpfung verdanken wir der WHO – beitragen.

Derzeit herrscht vor allem eine Pandemie-Stagnation. Zwar geht hierzulande die Zahl der Neuinfektionen (nicht aber der Toten!) zurück, aber ansonsten herrscht Frust auf ganzer Linie. Es fehlt an Impfstoff, vertraglich zugesicherte Lieferungen können plötzlich nicht eingehalten werden, es tobt eine heftige Auseinandersetzung zwischen der EU-Kommission und dem britisch-schwedischen Konzern AstraZeneca. Dieser hatte bekanntlich von der EU 338 Millionen Euro erhalten, um einen Impfstoff zu entwickeln. Weil die Engländer ihren Vertrag früher mit dem Konzern abgeschlossen haben und zudem eine Notfallzulassung erteilten, bekamen sie ihren Stoff eher; die plötzlichen Lieferprobleme sollen allein zu Lasten der EU gehen. Das alles trägt zum Frust bei und ist Wasser auf die Mühlen der Impfgegner, zumal das Vakzin von AstraZeneca in Deutschland einstweilen nur für Impflinge unter 65 Jahren empfohlen wird.

Dass der Einkauf der Impfmittel über die EU und nicht von deren Mitgliedern selbstständig erfolgte, setzte übrigens die Kanzlerin durch und pfiff ihren forschen Gesundheitsminister Jens Spahn zurück. Von ihrer Richtlinienkompetenz hätte Angela Merkel auch bei der Forcierung des digitalen Umbaus der Republik Gebrauch machen sollen. „Sie beklagt, dass nichts so recht vorangeht, bürokratisch ist und es große Defizite bei der Digitalisierung gibt – ja, wer hat denn die vergangenen 15 Jahre regiert? Schon wird gefragt, was wohl Helmut Schmidt gemacht hätte. Das sagt alles.“ (Tagesspiegel, 29.01.21) Nicht bloß Barack Obama verblüffte die mächtigste Frau der Welt & promovierte Physikerin vor knapp acht Jahren mit dem Geständnis: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Dessen Geschichte begann Wikipedia zu Folge am 29. Oktober 1969. Noch Fragen?

Abschiede

In Memoriam Eugen Hahn: Tony Lakatos (ts), Martin Sasse (p), Thomas Heidepriem (b) und Andreas Neubauer (dr) spielen im Friedwald Dietzenbach.

Über 100 Jazzfans aus aller Welt wollten bei der Trauerfeier für Eugen Hahn am letzten Freitag digital teilnehmen. Der Macher des ältesten Jazzclubs in Deutschland war kurz vor Weihnachten gestorben; fast 35 Jahre lang hat er den Frankfurter Jazzkeller geleitet und mit seiner jovialen Berliner Art geprägt. Für Momente konnte ich die Stimmung im Friedwald von Dietzenbach an diesem Nachmittag spüren – mehr ist mit einem Stream auf YouTube nicht möglich. Es fehlt die Präsenz im Augenblick, die sich am Notebook nicht einstellen kann, und bestätigt meine Skepsis gegen das Streaming. Einige Tage später sind wir auf einer Trauerfeier für eine Freundin; wir sind ganz da und nicht bloß dabei. Streaming ist ein guter Ersatz, ein Notbehelf, wird aber für mich nie eine Alternative zum realen Erlebnis sein.

Stell Dir vor, es ist Pandemie, und niemand weiß, wo wir uns anstecken (können). Verabschieden müssen wir uns von der Illusion, wir könnten eines Tages das mutationsfreudige Virus endgültig kontrollieren. Und so geht es von Lockdown zu Lockdown, inklusive verfrühter Diskussionen über eine Impfpflicht für medizinisches Personal und eine europäische Impfbescheinigung, die Privilegien verspricht. Der Alltag sieht derzeit schnöder und widersprüchlicher aus, in den Worten der Koblenzer Rheinzeitung: „Viele denken an die peniblen Hygienevorkehrungen beim Friseur, der nicht arbeiten darf, während sich die Menschen an der Supermarktkasse drängeln. Viele denken an das griechische Restaurant mit Plexiglastrennwänden zwischen dezimierten Tischen, die nicht genutzt werden dürfen, während sich die Menschen in Busse und Bahnen quetschen.“ (20.01.21)

Neues Spiel, neues Glück. Keine Zukunft haben in der CDU Friedrich Merz und Norbert Röttgen mehr, wiewohl der durch Merz repräsentierte Wirtschaftsflügel die Partei weiter beschäftigen wird. Womöglich richtet es ja der unterschätzte Armin Laschet; auch Helmut Kohl und die amtierende Kanzlerin wurden lange von den Parteigranden nicht ernst genommen. Nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wird sich die K-Frage klären, dann erst erfahren wir, ob es der Söder Markus wirklich (schon) wissen will. Seine Zukunft hinter sich hat hoffentlich auch der Ex-Präsident Twitter, der natürlich nicht der verheißungsvollen Inauguration seines Nachfolgers Joe Biden beiwohnte. Donald Trump blieb sich treu und das macht ihn weiter so gefährlich.

Zu Hause

Zu Hause am See. Andy (Charly Hübner) mit der Heimkehrerin Berit (Karoline Schuch) in der packenden Miniserie „Für immer Sommer 90“. © ARD Degeto/Manju Sawhney

Bleiben Sie zu Hause und machen Sie von dort Ihren Job. Auf diesen Satz dürften sich das Kanzleramt und die Ministerpräsident*innen noch verständigen, aber ansonsten herrscht die sattsam bekannte Kakophonie aus deutschen Landen. 15 km weg von zu Hause für Freizeitaktivitäten, nur noch 1 Gast pro Haushalt inkl. Kinder (Ausnahme Alleinerziehende), Schulen auf, Kitas zu… Wer blickt da noch durch? Passend zur allherrschenden Verwirrung, dass immer wieder Interna aus dem Kanzleramt an die Bildzeitung durchgestochen werden – womöglich sogar mit Absicht. Trotz aller Maßnahmen: die Zahlen der Neu-Infektionen und Corona-Toten sind & bleiben hoch. Die Warn-App mit Segen der Datenschützer bringt überhaupt nichts, alle Beschränkungen & Verschärfungen können die Ausbreitung des Virus nicht stoppen, zumal die Mutanten deutlich ansteckender sind.

Also treffen wir (fast) niemanden mehr und bleiben zu Hause. Erstmals seit Menschengedenken schauen wir in der Tageszeitung nach dem TV-Programm und sind überrascht, was die viel gescholtenen Öffentlich-Rechtlichen in ihren Mediatheken anbieten, etwa in der ARD die Mini-Serie „Für immer Sommer 90“ (4 x 22 Minuten). Der Film entstand bereits im letzten Jahr unter Corona-Bedingungen und erzählt authentisch & frisch im Stile eines Road-Movies die Geschichte eines Investment-Bankers (Charly Hübner), der mit dem Vorwurf einer Vergewaltigung während einer Fete vor dreißig Jahren in Meck Pom konfrontiert wird und zur Klärung in die alte Heimat fährt. Dass Geld die Welt regiert, aber nicht alles ist, fängt er langsam an zu begreifen. „Du verstehst die Leute. Die Leute verstehen Dich“, erklärt eine Freundin, die wieder nach Hause zurück gegangen ist. Am Ende des Films geht er spontan schwimmen – an der Lieblingsstelle seiner Jugend.

Nach quälend langen Wochen & Monaten wählt die Mitgliederversammlung der CDU endlich einen neuen Vorsitzenden, natürlich von zu Hause aus. Die Aussetzung der Entscheidung hat nichts gebracht, und selbst Insider haben keinen heißen Favoriten. Armin Laschet, hinter dem der CDU-Landesverband in NRW steht, der neokonservative Friedrich Merz, oder macht das Rennen doch der besonnene Außenpolitiker Norbert Röttgen. Kann einer von ihnen gar Kanzler oder werfen doch noch Jens Spahn und der Söder Markus ihren Hut in den Ring. Beide gelten dem Tagesspiegel als „Typus des Körperpolitikers, der allein mit Präsenz und Selbstbewusstsein viele Menschen beeindruckt“ (06.01.21) Der neue CDU-Vorsitzende kommt jedenfalls aus NRW, ist männlich und katholisch. Glück auf!!!

Zoff um Stoff

Das Vakzin, aus dem die Hoffnungen kommen. © BioNTech SE 2020, all rights reserved

Nach einer halben Stunde ziehe ich mir den Mantel wieder an, es ist doch frisch hier. Ich sitze im Wartezimmer einer Praxis; das Fenster steht sperrangelweit offen. So dürfte es vielen Schülern & Schülerinnen ergehen, wenn sie im Präsenzunterricht in den Schulen sitzen, so er denn überhaupt stattfinden darf und sich die Fenster öffnen lassen. Natürlich kann ich mir C-Fragen an den Onkel Doktor nicht verkneifen: Würden Sie sich impfen lassen? Wie erklären Sie sich die geringe Impfbereitschaft beim medizinischen Personal in Thüringen? Als HNO-Arzt sei er natürlich sofort bereit, die Ablehnung des Vakzins kann er sich auch nicht erklären. Am Dienstag hatte Ministerpräsident Bodo Ramelow in einem bemerkenswerten Interview im Deutschlandfunk berichtet, dass sich in seinem Bundesland nicht einmal 35% des medizinischen Personals impfen lassen wollen.

Diese Zurückhaltung irritiert. Da und dort war zu hören, man sei doch kein Versuchskaninchen, der Impfstoff nicht ausreichend getestet. Während andernorts das Serum knapp ist und scharfe Kritik an der Kanzlerin und ihrem Gesundheitsminister Jens Spahn wegen ihrer Einkaufspolitik geübt wird, gibt es in den thüringischen Krankenhäusern beim Personal zu wenig Impflinge. Eine weitere Irritation in der schier unendlichen Corona-Pandemie. Längst wirken die Krisenmanager ausgelaugt wie wir alle, wirkt ihre Politik immer erratischer. Die Regeln sehen vor, dass wir unser Haus nur mit triftigem Grund verlassen dürfen. Was aber ist triftig? In Berlin darf ein 2-Personen-Haushalt eine alleinstehende Freund*in noch (!) einladen, sie umgekehrt aber nicht besuchen. Die neuen Regeln erscheinen willkürlich und nicht durchdacht – und mindern die Akzeptanz der neuen Einschränkungen, ganz zu schweigen von der Kontrolle.

Alldieweil verzeichnet der DAX einen neuen Höchststand – also scheint es Hoffnung zu geben, denn die Investoren setzen auf die Zukunft. Trotz der bedrückenden Zahlen des RKI gibt es auch gute Nachrichten. Ein neuer Impfstoff wurde in der EU zugelassen, BioNTech wird ab Februar in Marburg einen neuen Produktionsstandort eröffnen und Donald Trump wird seine Präsidentschaft geordnet an seinen Nachfolger Joe Biden übergeben. Wer hätte das angesichts der schockierenden Bilder vom Capitol vor zwei Tagen gedacht. Doch es bleiben Fragen: Warum wurde das Symbol der amerikanischen Demokratie nicht besser geschützt? Warum glauben 30 Millionen Amerikaner Trumps Behauptung von der gestohlenen Wahl? Es ist einiges faul in den Vereinigten Staaten von Amerika. Good Luck, Joe!

Hoffnungen

Neues Jahr. Neues Glück. © Rolf Hiller

Fondue mit zwei Töpfen und Abstand – Silvester in Zeiten der Pandemie. Wir verbringen den letzten Abend eines denkwürdigen Jahres mit einer Freundin und sind um Mitternacht überrascht, wie viel doch geböllert wird. Die Leute haben das Zeug wohl gebunkert oder sich die Kracher in Polen auf den grenznahen Märkten besorgt. Nachts bleibt es ruhig; irgendjemand muss es aber noch um 4 Uhr in der Frühe krachen lassen. Grund zur Vorfreude auf das Neue Jahr besteht allemal, denn auch in Deutschland haben (endlich) die Impfungen begonnen – und damit lebhafte, teils erbitterte Diskussionen, ob und wann den Geimpften ihre Persönlichkeitsrechte wieder in vollem Umfang zustehen. Warum sollen nicht im Frühsommer Gastronomen oder Veranstalter eine Corona-Impfung verlangen? Das regelt die Vertragsfreiheit; wir kommen schließlich auch nur ins „Berghain“, wenn dort aktuelle Kunst (Gewinner) gezeigt wird.

Alle haben sich mit dem Leben in der Pandemie arrangiert. Corona-Leugner gehen nicht nur auf die Straße, sondern fahren munter Ski oder lassen es sich auf den Kanaren gut gehen. Man gönnt sich ja sonst nichts! Den Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Welle bringt „Der Standard“ aus Wien knapp auf den Begriff: „Geklatscht wird schon lange nicht mehr.“ Dabei stößt das deutsche Gesundheitssystem bald an seine Grenzen: es fehlt überall Personal, in einigen Regionen gibt es nicht mehr genügend Intensivplätze für Beatmungspatienten, die Triage droht. Um so dringender brauchen wir das Vakzin, den Impfstoff, der uns aus der Krise bringt, nachdem sich die Corona-App als „Flop mit Ansage“ (Harald Martenstein) herausgestellt hat.

Auf jeden Fall wird die Bewältigung der Pandemie teurer, sehr teuer, viel teurer als gedacht. Schwindelerregende Zahlen kursieren: die Neuverschuldung soll im nächsten Jahr um 180 Milliarden € steigen, wenn’s denn reicht, und die EU hat gar ein Rettungspaket über 750 Milliarden € verabschiedet. Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, und deshalb ist es an der Zeit, über eine Vermögensabgabe nachzudenken. Im Bundestag hat Kanzlerin Angela Merkel diese einmalige Abgabe für Spitzenverdiener und Wohlhabende strikt abgelehnt, obwohl viele von ihnen zu den Corona-Gewinnern zählen. Warum eigentlich? Weil 2021 sechs Landtagswahlen und die Bundestagswahl anstehen. Geben ist eben seliger als nehmen.