Aufregungen

Die Natur lässt sich nicht instrumentalisieren: Regenbogen über Sylt. © Karl Grünkopf

Jogi im Glück. Seine Mannschaft spielte gegen Ungarn nicht gut und kam mit einem 2 : 2 dennoch ins Achtelfinale, das am Dienstag im Wembley-Stadion gegen England ausgetragen wird. 45.000 Zuschauer:innen sind erlaubt, obwohl die Delta-Variante des Corona-Virus das Land mittlerweile in Angst & Schrecken versetzt – die Inzidenzen steigen dort wieder rapide. Kann das der Europäische Fussballverband (UEFA) eigentlich verantworten? Aber dort wie bei der FIFA zählt nur der Profit, und deshalb durfte das Münchener Stadion nicht in Regenbogenfarben angestrahlt werden – als sichtbarer Protest gegen die homophobe Politik der Regierung von Viktor Orbán, der die europäische Wertegemeinschaft ein ums andere Mal verhöhnt. Die Aufregung über die UEFA lenkt freilich davon ab, wie wir es hierzulande selbst mit schwulen Kickern halten. „Ein Profifußballer in Deutschland“, analysiert die taz, „der sich als homosexuell outet, hat seinen Marktwert auf Anhieb um 90 Prozent gemindert. Denn zum Bild dieser Sportart gehört eben auch eine nichtschwule Aura. Insofern: Wendet die Zeigefinger von Uefa und Orbán ab – und zeigt gefälligst auf euch selbst.“ (23.06.21)

Solche Aufregungen sind schnell vergessen, morgen wird wieder eine neue Sau durchs Netz getrieben. Da loben wir uns doch ästhetische Anregungen, die nun wieder möglich sind und länger nachhallen, etwa die Premiere „Das Rheingold“ in der Deutschen Oper Berlin, die nicht nur die ARD-Kulturkorrespondentin Maria Ossowski restlos begeisterte. Wegen der Pandemie kann die Neuinszenierung von Wagners „Ring“ nicht chronologisch erfolgen; „Die Walküre“, den zweiten Teil, gab es bereits im letzten Herbst zu sehen. Wir saßen (aktuell getestet) wie inzwischen gewohnt versetzt, hatten beste Sicht und mussten uns nur zum Schlussapplaus wieder „maskieren“. Das war in der Philharmonie nicht nötig, dafür durften wir nur vom Personal an die Plätze gebracht werden. Michael Wollny , der seinen zweiten Auftritt nach einer (allzu) langen Pause hatte, spielte ein grandioses Solo-Konzert, das mehr als nur 300 Zuhörer:innen verdient hätte. Der vielseitigste deutsche Jazzmusiker wird immer noch besser!

Inzwischen hat sich die Aufregung um die Amselküken vorm Fenster gelegt. Zwar schauen wir regelmäßig, aber leider ist nur noch das Erstgeborene am Leben; wir nennen es Selmi. Das füllt das Nest schon gut aus, ihm sind Flügel & Federn gewachsen, und es lässt es sich gut gehen. Selma & Selmo wechseln sich im Lieferservice ab, wobei sich die Mutter immer wieder lange ins Nest setzt, also „hudert“. Eine normale Ein-Kind-Familie, bei der sich der Nachwuchs um nichts kümmern muss. No longer Struggle for Life! Nächste Woche soll Selmi schon beginnen zu fliegen, und bald wird das Nest leer sein, in dem vor gut anderthalb Wochen noch fünf grüne Eier lagen. Dann ist unsere Küche wieder nur eine normale Küche. Gerne also wieder. Wir haben schon Kontakt zu einer Ornithologin aufgenommen.

Nachtrag zum fertigen Blog. Selmi wird niemals fliegen. Heute um 9.42h informiert uns eine Nachbarin, dass drei Krähen das Küken aus dem Nest geholt haben. Wir rennen in die Küche. Selmi ist nicht mehr da. Uns stehen Tränen in den Augen. Selma sitzt klagend im Apfelbaum. Selmo hockt auf dem Nest und starrt hinein.

Lebbe geht weider

Joachim Meyerhoff in „Das Leben des Vernon Subutex 1“ von Virginie Despentes in einer Inszenierung von Thomas Ostermeier an der schaubühne. © Thomas Aurin

Was haben Corona und Fußball gemein? Jede:r hat eine Meinung dazu, jede:r kann dazu eine Geschichte erzählen; allerdings gibt die Pandemie derzeit natürlich mehr her. Letzte Woche waren wir zu einer Geburtstagsfeier in Brandenburg eingeladen, bei der schon wieder 70 Personen erlaubt waren! Wie früher üblich streckt mir ein Gast seine Hand entgegen – und ich schüttele sie, wie das eben immer so war. Seit über einem Jahr habe ich das nicht mehr getan und wollte es mir ganz abgewöhnen. Die anderen Hände der munteren Runde erwidere ich mit einer leichten Verbeugung. Zwar sinken die Inzidenzen derzeit erfreulich, aber die Pandemie ist noch längst nicht vorüber; das Virus und seine tückischen Varianten werden nie wieder verschwinden. Aber bald brauchen wir keine Testzentren mehr, mit denen sich einige eine goldene Nase verdient haben. Einer hat in Offenbach seine vier gut laufenden Restaurants endgültig dicht gemacht, Stationen für Schnelltests eröffnet; angeblich ist er jetzt Millionär.

So wendig ist Vernon Subutex nicht. Er muss seinen Plattenladen in Paris aufgeben, verliert seine Wohnung und laviert sich irgendwie durch. Joachim Meyerhoff, in seiner ersten großen Rolle an der schaubühne, spielt diesen Absteiger erstaunlich zurückhaltend und gelassen; sein Schicksal wird ausgestellt, berührt aber nicht einen Moment. Der Regisseur Thomas Ostermeier hat diesen französischen Romanbestseller von Virginie Despentes aus dem Jahr 2015 auf die Bühne gebracht und verliert sich oft in dessen Verzweigungen. Wir erleben in vier langen, allzu langen Stunden die schonungslose Bestandsaufnahme einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich zynisch eingerichtet hat im Job wie im Leben, in der Drogen genauso dazugehören wie Pornographie. Im Theater fügt sich dieses düstere Panoptikum nicht zu einem Reigen; die Szenen, häufig unterbrochen von Live-Musik, stehen für sich. Womöglich ist dieser Ansatz sogar schlüssig: es gibt keinen Zusammenhalt, keine Hoffnung mehr. Dem Publikum (aktueller Schnelltest, Schachbrett-Platzierung im Saal, Maskenpflicht) ist’s gerade recht. Vor dem geordneten „Auslass“ gibt es für dieses Kaleidoskop herzlichen Beifall.

Nach der Heimkehr vom ersten Theaterabend des Jahres schauen wir sofort nach unserer Amsel vor dem Küchenfenster. Selma „kennt“ uns inzwischen und brütet seelenruhig weiter. Am Montag dann schlüpft das erste Amselchen – ein vollkommen hilfloses, kleines Tierlein mit riesigen Augen, die wohl nicht mehr wachsen, und sichtbaren Herzschlägen. Wunder der Natur! Tags drauf ist das nächste winzige Vöglein da, dann ist das fünfte Ei verschwunden, und am Mittwoch hat Selma schon drei Küken zu versorgen. Plötzlich fehlt der Nachzügler, das vierte Ei liegt noch immer im perfekt getarnten Nest. Vielleicht bringen Selma und ihr schwarz gefiederter Gatte Selmo immerhin zwei Küken durch, die erst nach 18 Tagen fliegen können und insgesamt nur eine Chance von 30% haben, das erste Jahr zu überleben. Wenn es nicht klappt, legt sie wieder Eier (bis zu drei Mal im Jahr). „Lebbe geht weider“, sagte der Frankfurter Fußballphilosoph Dragoslav „Stepi“ Stepanović einmal, als seine Eintracht knapp den Titel verfehlte. Wer wollte ihm da widersprechen?

Perspektiven

Fenster zum Hof: im Kräuterkasten brütet jetzt eine Amsel. © Rolf Hiller

Selma who? Wir haben eine neue Mitbewohnerin. Sie kam nicht aus dem Internet, sondern aus der Luft und hat sich ihr Nest direkt vor unserem Fenster gebaut. Immer wenn wir in die Küche gehen, schauen wir sofort nach unserer Amsel. Sie ist überhaupt nicht schreckhaft und hat sich bei uns gut eingelebt. Dann und wann verlässt sie für kurze Zeit ihren Brutplatz, der um die Mittagsstunde besonders heiß wird. Dann atmet Selma mit offenem Mund, manchmal glauben wir ein leises Stöhnen zu vernehmen. Was Wunder, Selma brütet seit über zwei Wochen fünf Eier aus. Bald müssen die Kleinen schlüpfen; dann werden wir wohl ihren Herrn Gemahl Selmo kennenlernen. Die Idylle im Hof erinnert mich an ein Wort des Philosophen Theodor W. Adorno, dass „südliche Länder wolkenlose Tage kennen“, von denen ausgehe, „nicht sei alles verloren, alles könne gut werden.“ Nichts ist gut. Die Klimaerwärmung geht unerbittlich weiter, das Eis in der Arktis schmilzt immer schneller, dem deutschen Wald geht es zunehmend schlechter, das Wasser wird auch hierzulande knapp.

Trotzdem sind wir wieder geflogen und beruhigen unser schlechtes Gewissen mit einer „Ablasszahlung“ bei atmosfair. Auf meinem Hin- und Rückflug nach Mallorca habe ich 556 kg CO₂ verbraucht und 13 € für Klimaprojekte gespendet. Zum Vergleich: die Pro-Kopf-Jahresemission beträgt in Äthiopien 560 kg. Viele Inseln im Pazifik sind vom Untergang bedroht. Wir wissen, was wir tun, und handeln wider besseres Wissen. Unser Lifestyle ist das Problem. Sage nur niemand, er hätte das nicht gewusst. „Weniger ist mehr“ hieß der Blog letzte Woche. In den Worten von Erich Kästner: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“.

So düster die Perspektiven langfristig sind, so optimistisch ist aktuell die Stimmung angesichts sinkender Inzidenzen und steigender Impfquoten. Das normale Leben kehrt endlich zurück. Gestern hatte ich meine erste Yoga-Stunde seit dem 22. Oktober letzten Jahres. Die Cafés und Restaurants sind draußen voll, allenthalben wird getan und geplant. Das Summer Special der Berlinale mit Open-Air-Veranstaltungen wirkt wie eine Initialzündung zurück in ein halbwegs normales Kulturleben. Heute startet die um ein Jahr verschobene Fußball-EM, und nicht weniger spannend dürfte der Parteitag der Grünen werden. Über 3.000 Änderungsvorschläge zum Wahlprogramm stehen auf der Agenda, und sicherlich wird die Basis die schlechte Performance ihrer Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck ins Visier nehmen. Das Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt war bescheiden, das Umfragehoch ist passé. Willkommen in der Wirklichkeit!

Weniger ist mehr

Bahnen ziehen ohne Quallen: das Piscina Municipal in Cala d‘Or. © Karl Grünkopf

Nie habe ich mehr Quallen in „unserer“ Bucht gesehen. Diesen Satz schrieb ich am 13.07.19 in das Gästebuch unseres traumschönen Quartiers auf Mallorca. So schlimm war es heuer nicht, aber wieder hatte ich eine Begegnung der brennenden Art im Wasser. Was tun? Rasierschaum auf die Wunden, einwirken lassen und mit einer Scheckkarte in eine Richtung abstreifen. Am nächsten Tag ist von den Verbrennungen fast nichts mehr zu sehen & zu spüren, aber schon lange schwimmen wir nicht mehr unbeschwert weite Strecken im Meer. Dabei könnte ich nicht einmal sagen, dass es heute mehr Medusen gibt als früher, obwohl ich jetzt schon dreimal hintereinander erwischt wurde. Zum Glück haben wir eine Alternative gefunden: das Hallenbad im steril-weißen Touristenort Cala d‘Or. Wegen der Pandemie dürfen derzeit nur 8 Badegäste hinein – wir haben immer eine Bahn für uns alleine. Grandios! Und ins Meer gehen wir trotzdem täglich.

Noch immer ist die Insel angenehm leer. Also machen wir uns auf zur Caló des Moro, die als eine der schönsten Buchten Mallorcas gilt. Erstaunlich voll ist der Parkplatz um die Mittagsstunde, erstaunlich viele sind unterwegs zum „Geheimtipp“, der schon lange keiner mehr ist. Wir ersparen uns den Frust und brechen diese Unternehmung ab. Dabei ist es so einfach, dem Massenglück zu entkommen. Wir haben uns für eine Woche Räder gemietet und sind oft ganz allein unterwegs auf den kleinen Straßen durch die unendlichen Mandel- und Olivenhaine. Es ist immer wieder überraschend, wie leicht man den vielen anderen entgehen kann. Noch eindrücklicher war freilich ein Naturereignis, gegen das sich das Gewitter auf dem Hinflug wie ein Pulverplättchen ausnimmt. Von halb zehn abends bis nach vier Uhr in der Frühe wütete ein Gewitter über der Insel mit Starkregen, heftigen Windböen und tosender See. Am nächsten Morgen ist die Welt dann wieder in Ordnung: die Sonne scheint, rasch ist alles getrocknet, als sei nichts gewesen in der Nacht.

Nichts bleibt, wie es ist. Mich erreicht die Nachricht, dass Wolfgang Wagner, der Wirt der Frankfurter Apfelweinkneipe „Zu den Drei Steubern“ , gestorben ist. Noch lebhaft ist mir mein erster Besuch dort in der rappelvollen Schenke in Erinnerung. Jean und ich quetschten uns in eine Ecke, das Stöffsche floss in Strömen, dazu gab‘s Soleier oder Handkäs‘ und immer wieder barsch-herzliche Worte vom Kellner, dem heimlichen Chef der „Drei Steuber“. Wir liebten diese Erniedrigungen. Später wurde es nach einer wochenlangen Schließung wg. Krankheit schon merklich stiller, wir bekamen schon um acht Uhr ohne Mühe Plätze; unser letzter Besuch war ein Endspiel. Seit den fünfziger Jahren machte Wolfgang Wagner sein Ding – „der Mann war ohne Apfelwein nicht denkbar“ (Andreas Maier). Morgen geht‘s mit aktuellem Negativ-Schnelltest schon wieder zurück, am Sonntag leisten wir bei atmosfair einen „Ausgleich“ für unsere Flüge, und in Sachsen-Anhalt wird gewählt. Nicht nur der CDU-Vorsitzende Armin Laschet dürfte diesem letzten Stimmungstest vor der Bundestagswahl mit Bangen entgegensehen.