Die Vergangenheit vergeht nicht

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Eintrag über Auschwitz in „Der Neue Brockhaus“ (1957). In der Ausgabe von 1963 hat sich am Text nichts geändert, den Annette Hess ihrer Lesung voranstellt.

„Mein Großvater war Polizist“, erzählt Annette Hess. Sie stellt ihren Roman „Deutsches Haus“ bei Hugendubel vor. Kann die beste deutsche Drehbuchautorin („Weißensee“, „Kudamm“) auch literarisch schreiben? Sie kann es nicht. Sie schreibt schnörkellos, zielt auf Effekte ab und ihre beiden Textproben sind eineindeutig  – zu wenig für gute Literatur. Dabei treibt sie ein Thema um, das viele Familien beschäftigt: das Schweigen darüber, was der gute Opa im 2. Weltkrieg gemacht hat. Ihrer war fünf Jahre lang in Polen, einer von mir war bei der Waffen-SS im sog. Feld und starb in Russland. Das sei ja die anständige SS gewesen, wurde erzählt – und ansonsten wie in vielen Familien geschwiegen. Ich habe meinen Großvater nie kennengelernt, er soll ein sympathischer und humorvoller Lehrer gewesen sein. Was wäre wohl aus mir im Tausendjährigen Reich geworden?

Warum beschäftigt mich diese Lesung weiter? Wie funktioniert unser Gedächtnis? Schon hat das Wunderwerk seine Arbeit getan und die vielen Eindrücke der letzten Woche eingeordnet. Anregend amüsante Abende in Oper und Schauspiel, das großartige Programm „Vergesst Winnetou. Karl May – ein schräges Leben“ des großartigen und verkannten Ilja Richter im plüschigen Berliner Schlosspark-Theater, aber am meisten begeistern mich die beiden Konzerte der hr Bigband beim Deutschen Jazzfestival. Ganz besonders das abenteuerliche Programm „The Big Amithias – Allgäu meets India“, konzipiert vom Trompeter Matthias Schriefl, ist eine unerhörte Sensation!

Und Hessen? Dort wird am Sonntag gewählt, nicht in Deutschland. Um den Dauer-Wahlkampf hierzulande zu beenden, gibt es nur eine vernünftige Lösung: nur einen Termin für die Bundestagswahl und die Landtagswahlen. Dann hätte sich die Dieselkanzlerin ihren peinlichen Vorschlag sicher verkniffen, einfach die Grenzwerte für Stickstoffoxid zu erhöhen; dann wäre das hypernervöse Gezerre um die GroKo kein Thema. Die Grünen könnten nolens volens die großen Gewinner in Hessen werden, obwohl sie seit knapp 5 Jahren mit der CDU regieren und für Verkehr und Umwelt zuständig sind. Es ist etwas faul im Staate Deutschland. Nicht nur da!

Cadeaux

 

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Einkaufen als Erlebnis im Pariser Kaufhaus „Le Bon Marché“.

Kaum ist der letzte Blog online, erreicht mich die Nachricht aus dem Büro Kassel: der Obelisk bleibt doch in der sog. Documenta-Stadt. Das Kunstwerk von Olu Oguibe soll in der Treppenstraße wieder aufgebaut werden. Ende gut, alles gut? Natürlich nicht, denn der Ruf der Documenta hat durch diese überflüssigen Querelen weiteren Schaden genommen.

Wir aber sind in Paris, in unserem herrlichen Hotelzimmer: ohne Flatscreen, Minibar und Klimaanlage. Was für ein wunderbarer Anachronismus! W-Lan gibt’s aber, und ich kann den Druck des Uni-FRIZZ WS 2018 freigeben. Wir haben eine Mission zu erfüllen und sind verabredet mit den unsrigen Freunden aus Berlin, die unweit eine kleine Wohnung haben. Erst die Kunst, dann der Stoff. Im Gänsemarsch geht es durch das neue Louis Vuitton Museum an Egon Schiele und Jean-Michel Basquiat vorbei, die beide keine dreißig wurden. Tags drauf bei der Picasso-Ausstellung im Musée d’Orsay ist es natürlich nicht besser. Man wird sich an das gar nicht smarte Gedrängel im Museum gewöhnen müssen oder geht gleich in eine Bar. Im Serpent à Plume – eine mondäne Mixtur aus Café, Bar und Shop – sind wir mit dem Inhaber verabredet. Ich habe ihm eine Flasche Mise en Abyme Vodka (www.abyme.de) mitgebracht, der bei jungen Franzosen in Berlin sehr beliebt ist und vielleicht in das sehr exklusive Angebot passt. Zum Dank bekomme ich eine Anstecknadel mit dem Logo des Gesamtkunstwerks Serpent à Plume, die No. 153 um genau zu sein.

Wie im Fluge vergehen die anregend-entspannten Tage mit den Unsrigen – das prächtige Paris zeigt sich bei Kaiserwetter von seiner schönsten Seite. Was Wunder, dass ihre Präsidenten regelmäßig die Bodenhaftung verlieren. Das gelingt den Spezis in Bayern & Berlin allemal auch. Als wir in Tegel landen ist München grün, die SPD dort nicht länger Volkspartei und die CSU wird weiter regieren, demütig angeblich. Selten so gelacht! Die GroKo würden derzeit noch 39% wählen.

Mission Abyme

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Einkaufen ohne Obelisk: Ich war nicht der einzige, der fotografierte, was nicht mehr zu sehen ist.

Und Kafka? Was war denn mit Kafka in Prag? Er wird inzwischen wie ein Popstar vermarktet. Hätte er das erleben müssen, er hätte stante pede Felice Bauer geheiratet und wäre mit ihr auf die Cook-Islands ausgewandert. Wohin denn auch sonst?

Da möchte ich auch noch unbedingt hin, aber jetzt bin ich erst einmal im Büro Kassel. Ein Gespräch mit der Druckerei steht an – die Papierpreise werden Ende des Jahres zum dritten Mal angehoben, und wir geraten alle buchstäblich unter Druck. Einige Hersteller haben dicht gemacht, andere produzieren lieber Verpackungsmaterial, insgesamt wird weniger Papier für Magazine und Zeitungen angeboten. Diese Umstrukturierung der Branche hat Konsequenzen für die Druckereien und Verlage gleichermaßen. Nach dem aufschlussreichen Gespräch fahre ich zum Königsplatz. Ich will mit eigenen Augen sehen, was nicht mehr zu sehen ist: der Obelisk des Künstlers Olu Oguibe wurde nämlich auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung in einer Nacht- und Nebelaktion abgebaut. Die sog. Documenta-Stadt hat sich erneut bis auf die Knochen blamiert!

Das gelingt der Deutschen Oper zum Saisonstart auch ganz hervorragend. Ein Werk von Alban Berg wird der Willkür eines sog. Regisseurs geopfert. Wozzeck ist ein rundlicher Angestellter der Senatsverwaltung und grillt am Wochenende gerne, wenn er nicht gerade in der Deutschen Oper singen muss. Das kann Johann Reuter jedenfalls besser als spielen; man nimmt ihm die Rolle des Opfers, des Erniedrigten und Betrogenen, der zum Täter wird, nicht im geringsten ab. Macht eh‘ nichts, denn der Regisseur Ole Anders Tandberg lässt Bergs großartige Oper am norwegischen Nationalfeiertag in einer Kantine spielen, mit Fähnchen und Trachten. Warum nur? Warum nur darf so einer so einen Mist auf die Bühne bringen?

Eine Woche liegt das Debakel zurück, wir sind im Hôtel Des Grandes Écoles in Paris erwacht. Geheimtipps, die man verrät, sind keine mehr, aber ich mache es trotzdem (www.hotel-grandes-ecoles.com). Und was ist mit der Mission??? Das Projekt Abyme steht erst später auf dem Programm.

Ritt nach Prag

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Spektakulärer Blick auf die Burg bei der Gymnastik.

Pferdewechsel in Dresden, d.h. S und ich zuckeln weiter mit dem abgeranzten EC Richtung Budapest. Die Sitze sind tausendfach durchgesessen, das Abteil eng und stickig. Dafür gibt’s Internet. Hilft aber nichts, die Reise ist lang & leer, irgendwie dösen wir ein und sind plötzlich in Prag. Endlich steht mal wieder ein 3MW an, ein 3-Männer-Wochenende, dessen Höhepunkt noch immer das beliebte Auspunkten ist. Einer steht im Tor, die anderen beiden Männer dürfen nur aus der Luft schießen oder kicken. Aber um Fußball oder Gewinnen geht es gar nicht beim 3MW; es geht um Zeit zusammen sein, erfüllte Zeit mit  Gesprächen, Erinnerungen und Vergewisserungen. Ich bin immer noch müde vom Jetlag, schlafe manchmal beim Gehen ein und wache im Morgengrauen auf.

Dann Früh-Gymnastik mit dem spektakulären Blick auf die Burg. Golo Mann hat zu recht einmal bemerkt, diese Wohnung biete die schönste Aussicht in ganz Europa. Früher war hier  die Botschaft der DDR untergebracht, jetzt residiert dort das Goethe Institut, das B noch bis Ende des Monats leitet. Zusammen mit seiner Frau auf den „authentic“ Wochenmarkt. Abgesehen von einigen Touris fast nur Tschechen zu treffen, wie B lakonisch feststellt. Vielfalt ist anderswo. Aber vor dem Besuch des großartigen & großzügigen Giraffengeheges im wunderschönen Zoo ist noch ein Mittagsschlaf von Nöten. Tags drauf verlassen wir beschwingt die Goldene Stadt mit dem gleichen elenden EC Richtung Berlin. Wir sitzen dieses Mal nicht am Fenster sondern in der Mitte – kürzer wird die Reise nicht.

Nach 24 Stunden Frankfurt komme ich am Dienstag wieder in Berlin an: Premiere „Vive la Vie“ von Katherine Mehrling & Band in der „Bar jeder Vernunft“.  Zuvor gastierte die Truppe übrigens in New York, was schon für sich genommen eine Leistung ist. Mit ihrer grandiosen Hommage an Piaf, Madonna und die lange Zeit vergessene Jazzsängerin Inge Brandenburg, mit ihrer unglaublichen Bühnenpräsenz begeistert sie in der Bar alle & jeden, auch die Kritikern Ute Büsing vom Info-Radio: „Katharine Mehrling mit Band in der Bar, das muss geschaut und gehört werden!“ Mit „She“ verbeugt sie sich natürlich noch vor Charles Aznavour bei den Zugaben, der am Tag zuvor gestorben war und dem sie einst Aug‘ in Aug‘ gegenüberstand. Nichts wie hin zu La Mehrling!