Alarmzustand

Nichts hat sich verändert, vieles ist anders auf der Insel. © Karl Grünkopf

Blitzschlag! Kurz nach dem Start kommen wir in ein Gewitter und werden getroffen. Der Stewart beruhigt die Fluggäste, das komme immer mal wieder vor – kein Grund zur Beunruhigung. Die Kapitänin pflichtet ihm bei, allerdings könne die Elektronik oder Hydraulik Schaden genommen haben. Ob wir weiter nach Palma fliegen können, werde noch entschieden. Safety first! Wir müssen zurück zum BER und in eine andere Maschine umsteigen. Da kommt Laune auf. Beim Einstieg in das neue Flugzeug freut sich aber eine Mitreisende wie Bolle: „Zwei Flüge für einen Preis.“ Wer wollte ihr da widersprechen. Schließlich ist es für uns ein kleines Wunder, dass wir überhaupt reisen können in Zeiten der Pandemie.

Eigentlich wollten wir wieder auf unsere Sehnsuchtsinsel Hiddensee, aber touristische Reisen dorthin sind noch nicht wieder möglich. Glücklicherweise war die Traumwohnung im Naturschutzgebiet von Cala Mondragó noch frei. Voraussetzung: ein aktueller negativer PCR-Test. Den hatten wir schon im Gepäck, als wir im letzten Moment bemerken, dass ich im Testzentrum meinen Führerschein statt des vorgeschriebenen Personalausweises vorgelegt hatte. Was tun? Es einfach versuchen oder ändern lassen. Safety first. Ich schreibe ans Testzentrum und bekomme umgehend mein Ergebnis mit den richtigen Daten. Ob das jemand bemerkt hätte? Auf jeden Fall werden Test und Einreiseformular vor dem Start und zweimal nach der Landung kontrolliert. Puh!

Nach dem Ende des Alarmzustandes, gewissermaßen die spanische Variante der deutschen Notbremse, läuft das Leben auf Mallorca fast wieder normal, wenn es auf der Insel auch spürbar leerer ist als bei früheren Aufenthalten. Draußen besteht die generelle Pflicht zum Tragen einer Maske (es muss aber keine medizinische sein), aber das nehmen alle klaglos hin. In alle Geschäfte geht‘s ohne Test & Anmeldung und nur mit Maske, ebenso in die sog. Außengastronomie; natürlich dürfen die Gäste in den Restaurants am Tisch den Mund-Nasen-Schutz ablegen. Leo, unser Autovermieter, will mich am Flughafen als erster Mensch seit über einem Jahr mit Handschlag begrüßen – ich lasse es bei einer Verbeugung, obwohl wir beide den ersten Pieks bereits hinter uns haben. Darauf werden Kinder & Jugendliche von 12 bis 15 Jahren in Deutschland noch länger warten müssen. Es fehlt der Stoff, heute soll das Vakzin von BionTech für sie in der EU zumindest zugelassen werden, aber es fehlen weiter Daten über Nebenwirkungen bei dieser Altergruppe. Aus der Ferne wirkt die übliche Kakophonie über dieses Thema noch absurder.

Trügerisch

Am Montag war die Welt für Annalena Baerbock noch in Ordnung.

Stell‘ dir vor, es ist Wahlkampf und alle sind lieb miteinander. Dieser Eindruck vermittelte sich bei einem Polit-Talk diese Woche, zu dem das rbb Inforadio und die Süddeutsche Zeitung Annalena Baerbock (Die Grünen) und Olaf Scholz (SPD) eingeladen hatten. Der Talk plätscherte gemütlich vor sich, als wolle man:frau schon einmal das gemeinsame Miteinander nach der Wahl üben. Im großen und ganzen waren sich Baerbock und Scholz, die beide um ein Direktmandat in Potsdam kämpfen, einig. Sicher hätten Angela Ulrich (Inforadio) und Stefan Braun (SZ) entschiedener nachgefasst, wären zwei News dieser Woche schon am Montag bekannt gewesen. Franziska Giffey (SPD), die ihren umstrittenen Doktortitel seit einiger Zeit schon nicht mehr trägt, ist als Familienministerin (endlich) zurückgetreten; Annalena Baerbock steht wegen verspätet an den Bundestag gemeldeter Sonderzahlungen plötzlich ganz erheblich unter Druck.

Zum Markenkern der Grünen zählen besonders hohe moralische Ansprüche an sich und andere. In der Sache ist das „blöde Versäumnis“ (Baerbock), dass sie erhaltene Sonderzahlungen inkl. Erfolgsboni erst Ende März gemeldet hat, eine Lappalie. Aber im Wahlkampf bleibt von solchen Fehlern immer etwas hängen und wird sich sicher negativ bei den nächsten Umfragen auswirken. Noch spannender ist die Frage, wie Die Grünen mit diesem „blöden Versäumnis“, das die Partei beim Kampf um die Macht zurückwirft, umgehen wird. Wusste Robert Habeck davon, als er Annalena Baerbock vor vier Wochen den Vortritt ließ und sie die erste Kanzlerkandidatin der Grünen wurde. Hätte er womöglich die besseren Chancen? Wie wird die Basis der Partei reagieren? Häme & Spott werden über sie in den sog. sozialen Netzwerken verbreitet; es rollt eine Kampagne gegen Baerbock, die sie erst einmal durchstehen muss. Ausführlich beschäftigte sich etwa der Leitartikel der FAZ vor zwei Tagen mit der beruflichen Vita der Kandidatin, um ihr nonchalant Provinzialität zu bescheinigen.

Vor dieser allherrschenden Aufgeregtheit gerät in den Hintergrund, dass die Inzidenzen in Deutschland weiter sinken und die Impfzahlen erfreulich steigen. Friede, Freude, Eierkuchen, bald ist Somma und Herdenimmunität. Schön wär’s! „Wenn Christian Drosten recht hat – und das hat er ziemlich oft -„, schreibt der Tagesspiegel, „werden sich fast alle, die sich nicht impfen lassen, infizieren.“ (19.05.21) Was tun? Da ein Impfzwang politisch nicht durchsetzbar ist und eine vierte Welle der Pandemie im Herbst niemand ausschließen kann, bleibt nur die Hoffnung, dass (fast) alle doch noch mitmachen. Längst ist es im ÖPNV und in den Fernzügen üblich, eine Maske zu tragen, und das Personal macht zum Glück kein Fass auf, wenn jemand nur mit einer medizinischen auf den langen Fahrten unterwegs ist. Nach meiner Ankunft am Berliner Südkreuz machen wir rasch noch einen PCR-Test. Morgen eröffnet in Venedig die Architekturbiennale als richtige Veranstaltung unter dem Motto: How will we live together? Sicherlich eine der Fragen des Jahres.

Drinnen & Draußen

Alle Gewächshäuser seit Monaten dicht – trotz Corona-Test. © Rolf Hiller

Fieber!!! Selbst furchtlose Menschen schreckt in Zeiten der Pandemie, wenn sie sich plötzlich grippig fühlen. Ich fröstele, bin wacklig auf den Beinen, heiß ist der Kopf. Rasch ist ein Selbsttest beschafft, und wir studieren genauestens die Instruktionen. Natürlich kommt das Set aus China. Also das Wattestäbchen von „Gongdong“ vorschriftsmäßig benutzt, dann die Probe in die kleine Teststation – und warten. Wenn nach 15 Minuten zwei Striche zu sehen sind, könnte eine Infektion mit dem tückischen Virus vorliegen. Zum Glück ist nur ein Streifen zu sehen, aber ich lasse ein paar Tage später zur Sicherheit noch einen Schnelltest machen – auch negativ. Damit lässt sich etwas anfangen. Also buchen wir für den Abend ein Zeitfenster im Botanischen Garten Berlin; zuvor muss allerdings die Schlussredakteurin dieses Blogs noch einen Schnelltest machen. Unweit unserer Wohnung ist eines dieser Lounge-Test-Zentren, wo es avanti dilettanti zur Sache geht, und der Rubel rollt. Sinnigerweise fährt nach der allzu lockeren Prozedur ein auffälliger weißer BMW vor. Echt krass! Wer testest eigentlich die Test-Zentren?

Auf mit negativen Tests im Gepäck zum Spaziergang durch den Botanischen Garten. Ein frischer, grauer Frühlingstag, nur ein knappes Dutzend Besucher:innen ist auf dem weitläufigen Gelände unterwegs. Natürlich müssen die schönen, alten Gewächshäuser seit Monaten geschlossen bleiben, und es gibt einige Baustellen. Warum die sog. Bundesnotbremse nicht zwischen drinnen und draußen unterscheidet, warum jeder Park voller sein darf als Zoos oder Botanische Gärten, bringt die allherrschende Absurdität unseres Lebens derzeit auf den Punkt. Aber wir machen (fast) alle brav & schicksalsergeben mit, die Zahlen sinken, und diese Maßnahmen sind ja bis Ende Juni befristet. In die allgemeine Unübersichtlichkeit passt die Nachricht, dass Söder Markus als Erster in Bayern die Priorisierung bei den Impfungen aufgehoben hat. Das hat ihm wieder eine Schlagzeile gebracht, schafft aber nicht mehr Impfstoffe in die Praxen und Zentren.

Die Konsequenzen dieser Entscheidung, der schon Baden-Württemberg und Berlin gefolgt sind, hat die Neue Osnabrücker Zeitung beleuchtet: „Deutschland hat endlich den Impfturbo eingeschaltet, doch Tausende versuchen, sich vorzudrängeln. Es wird getrickst und gelogen, oder es werden gar Dokumente gefälscht, wie Behörden berichten. Dieser Kampf um den Impfstoff offenbart, wie wichtig die strenge Einhaltung der Priorisierung gewesen ist. Bitter, dass das Problem der Vordrängler kaum vollständig in den Griff zu bekommen ist. Denn oft lassen sich die Angaben über Beruf, Schwangerschaft der Schwester oder den Pflegebedarf der Oma nicht zweifelsfrei überprüfen. Lieber schnell impfen, lautet da die richtige Devise. Wer jedoch beim Betrügen erwischt wird, sollte dafür büßen.“ (12.05.21) Im Zweifel sind mir die Impf-Drängler noch lieber als die Impf-Verweigerer. Egoisten sind beide!

Freiheiten

Auf dem Todesstreifen entstand eine Kirschblütenallee. © Rolf Hiller

Auf zur japanischen Kirschblüte mitten in Berlin. Wo einst der Todesstreifen war, lassen sich im Frühjahr viele Menschen von einer ganz besonderen Allee verzaubern. Initiiert von einem japanischen TV-Sender fanden sich viele Spender:innen, um die Anpflanzung von japanischen Kirschbäumen auf dem Mauerstreifen zu ermöglichen. Unterhalb der S-Bahn-Station Bornholmer Straße beginnt der Weg unter den blühenden Bäumen, in deren Licht eine ganz besondere poetische Stimmung entsteht. Auf dem Weg dorthin durchschreiten wir gewissermaßen deutsche Geschichte. Eingelassen sind auf dem Bürgersteig die zentralen News des 9. November 1989, als plötzlich die Grenze zwischen der DDR und der BRD fiel und ein schier endloser Menschenstrom nach West-Berlin aufbrach. Zwar gibt es noch zwei weitere Kirschblütenalleen auf dem Mauerweg (in Teltow stehen über tausend Bäume), aber am sinnfälligsten ist für mich das Symbol der Freiheit an diesem Ort.

Heute sehnen sich alle Deutschen nach ihren gewohnten Grundrechten, deren Einschränkung – zumindest für Genesene und zweifach Geimpfte – juristisch nicht länger zu halten ist. Für diese Gruppen werden die Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen aufgehoben – was die Gesellschaft noch einmal vor große Herausforderungen stellt, wenn damit weitere Vorteile einhergehen, wenn etwa nur diese Gruppen in Restaurants, Kinos oder Theater dürfen. Die Süddeutsche bringt es treffend auf den Punkt: „Es wird verdammt bitter, wenn Hunderttausende junger Menschen abends allein in ihren Einzimmerbuden hocken müssen, während viele Ältere, geimpft und sicher, tun und lassen können, was sie wollen: Einkaufen ohne nerviges Geteste. Tanzen bis drei Uhr morgens im Partykeller. Wieder die Kreuzfahrtschiffe stürmen.“ (04.05.2021) Die sozialen Folgen dieser Pandemie sind noch nicht abzuschätzen. Anders als bei der längst vergessenen Hongkong-Grippe um 1960 stehen dieses Mal zum Glück Impfstoffe zur Verfügung, die zuletzt an junge Menschen mit guten Immunsystemen gehen. Sie schultern deshalb einen großen Teil der Corona-Folgen: Schul- und Kitaschließungen, kaum Kontakte zu Gleichaltrigen, Digital- statt Präsenzunterricht an den Unis, keine Auslandssemester.

Dass die Impfgegner und -verweigerer und die Corona-Leugner unverantwortlich handeln, steht nicht zur Diskussion. Erschüttert höre ich von einem Mann auf einer Intensiv-Station: Corona im Endstadium. Das Virus zerfrisst die Organe, in Auffangbeutel zerfließt ein Mensch, der ganze Organismus kollabiert. Die Ärzte sind machtlos. Jede:r, der sich nicht impfen lässt, nimmt solche Schicksale billigend in Kauf. In der aktuellen, medial völlig überhitzten Situation sollte man die Frage nach einer Impfpflicht in einer Pandemie tunlichst nicht stellen. Angesichts der enormen sozialen & ökonomischen Folgen von Corona gehört dieses Thema allerdings auf die Tagesordnung, wenn wieder die sog. Normalität zurückgekehrt ist. Zu dieser neuen und sicherlich anderen Normalität wird die jährliche Impfung gegen Corona gehören, denn das Vakzin schützt nur ein Jahr. Das muss dann eine neue Bundesregierung organisieren, womöglich unter Führung der Grünen, die laut ARD DeutschlandTrend klar vor der CDU liegen; ihre Kanzlerkandidatin führt ebenfalls deutlich. Annalena Baerbock muss sich derweil auch mit den Nebenwirkungen ihrer neuen Rolle zurechtfinden: sie steht unter Polizeischutz und wird in den (a)sozialen Netzwerken in übelster Weise verunglimpft.