Amt & Bürde

Die unerwartete Intensität der rechten Hetze isoliert „Die Bürgermeisterin“ Claudia Voss (Anna Schudt) zunehmend. © ZDF/ Martin Valentin Menke

Und täglich lockt der Corona-Test, der natürlich aus China kommt. Längst sind die Handgriffe Routine geworden. Stäbchen auspacken, mit dem Abstrich aus der Nase ins Serum, dann zwei Tropfen auf den schicken Test-Streifen. Jetzt wird’s spannend. Zeigen sich zwei Striche, bist Du positiv, färbt sich nur einer, ist alles positiv und Du hast Corona für dieses Mal überstanden. Trotz überwundener Infektion und Doppel- oder gar Dreifach-Booster ist nicht ausgeschlossen, dass man sich wieder mit einer neuen Variante infiziert. Das müssen wir schicksalsergeben hinnehmen wie die Entscheidungen des Bundeskanzlers, der sich in der Koalition und in seiner eigenen Partei zunehmend isoliert. Teile eines Hamburger Container-Terminals werden – mit massiver Unterstützung von Olaf Scholz – an den chinesischen Staatskonzern COSCO vertickt, der schon an 13 europäischen Häfen, darunter Antwerpen und Rotterdam, beteiligt ist. Müssen wir derzeit nicht alle schmerzhaft erfahren, dass die kritische Infrastruktur niemals zur Disposition stehen darf?

Nun also endlich wieder negativ. Die Corona-Tage lassen sich in der Erinnerung kaum mehr voneinander unterscheiden. Am Anfang Bed-Office, dann Home-Office, ein paar gymnastische Übungen, nach der Mittagspause wieder an den Rechner – tagaus, tagein. Abends schauen wir im Heimkino Filme und stoßen einmal völlig überraschend auf „Die Bürgermeisterin“, ein TV-Drama im ZDF. Normalerweise gucken wir fast gar kein Fernsehen, und TV-Dramen schrecken besonders ab. Ein Vorurteil! Denn dieser Film erzählt mit ruhiger Hand, wie eine ehrenamtliche Ortsbürgermeisterin unter Druck gerät, als in ihrem Stadtteil ein Flüchtlingsheim entstehen soll. Claudia Voss (großartig: Anna Schudt) wird dafür verantwortlich gemacht, obwohl sie nur ausführen muss, was der Landkreis beschlossen hat. Das rechte Bürgertum und der rechte Mob arbeiten Hand in Hand und setzen der Bürgermeisterin und ihrer Familie offen und versteckt zu, bis sie am Ende ihrer Kraft sind. 4,2 Millionen Zuschauer sahen dieses überzeugende TV-Drama, das noch bis zum 14.10.23 im ZDF verfügbar ist.

Wie dicht der Film von Christiane Balthasar (Regie) und Magnus Vattrodt (Buch) an der Realität ist, belegt die anschließende Reportage „Engagiert und attackiert – Wenn Politiker zur Zielscheibe werden“. Die Zahlen sind erschreckend. „Zerstochene Reifen, Hass-Nachrichten, Morddrohungen: Mehr als die Hälfte der Bürgermeister in Deutschland hat das bereits erlebt. Immer häufiger werden sie zur Zielscheibe“, schreibt das ZDF auf seiner Homepage zu der Doku von Lisa-Marie Schnell (bis 17.10.24 in der ZDF-Mediathek). Von 11.500 Bürgermeister:innen (davon 8.000 übrigens im Ehrenamt) haben das 57% schon erlebt; 19% erwägen deshalb, sich aus der Kommunalpolitik zurückzuziehen. Was Wunder, dass sich nur drei von ihnen vor der Kamera äußern wollten, u.a. Belit Onay. Den OB von Hannover erreichte nach seiner Wahl vor drei Jahren ein niederträchtiger Shitstorm. Es ist vieles, sehr vieles faul in deutschen Landen. Zumindest aber sind hierzulande unsere nächsten Verwandten im Tierreich recht fein artig – anders als in Indien. „Neu-Delhis Affenbande spielt verrückt“ titelt der Tagesspiegel. Morgen werden wir es vor Ort erleben. Namaste!

Positiv

Striche lügen nicht. © Rolf Hiller

Nun hat das Virus auch mich erwischt. Am Montag war ich noch negativ, tags drauf auf der Rückfahrt abends fühlte ich mich schlapp & schlapper, aß zu Hause noch Nudeln mit Mangold und fiel sofort ins Bett. Das Bistro im ICE war wieder einmal geschlossen – dieses Mal gab’s keine Beleuchtung. Vorsichtshalber hatte ich schon alle Termine am letzten Wochenende abgesagt; nun wurden die Verabredungen für diese Woche gestrichen. Das ist selbstverständlich; mir ist nicht nachvollziehbar, warum 10% aller Berufstätigen mit positivem Test zur Arbeit gehen. Zum Hausarzt habe ich mich allerdings nicht bemüht; das machen inzwischen die wenigsten Infizierten mit nur leicht grippalen Symptomen. Die Zahlen der Corona-Warn-App spiegeln deshalb nicht mehr annähernd die wahre Verbreitung der neuen Omikron-Variante wider, gegen die meine zweite Booster-Impfung aus dem Juli kaum wirkt. Es wird höchste Zeit, dass auch hierzulande ein flächendeckendes Abwasser-Monitoring eingeführt wird, was in vielen anderen europäischen Ländern längst passiert ist.

Durch unsere positiven Tests hat eine Selbstisolierung begonnen; wir verlassen kaum noch unsere Wohnung. Mit Skrupeln und Maske, versteht sich, die nötigsten Einkäufe machen? Darf man das überhaupt? Eine Recherche im Netz verschafft Klarheit: „Wer in Quarantäne oder Isolation geht, bleibt zu Hause und verlässt die Wohnung nicht – auch nicht zum Einkaufen.“ (rbb24.de) Ein Selbsttest genüge nicht zur Freitestung. Hält sich da jemand dran? Zum Glück lässt sich in digitalen Zeiten fast alles von zu Hause erledigen. Der Job, die noch notwendigen Besorgungen für unsere Reise nach Indien nächste Woche, die schon zweimal der Pandemie zum Opfer fiel. Einmal waren die Zahlen dort besonders hoch, im Frühjahr war es umgekehrt. Bis nächste Woche sind wir hoffentlich erst einmal durch mit dieser Infektion. Sicher ist das nicht. Freunde von uns – auch viermal geimpft – erkrankten fast zur gleichen Zeit wie wir, hatten über 39 Grad Fieber, hartnäckigen Husten und fühlen sich schlapp und kraftlos. Das macht diese Virusinfektion so unheimlich – man weiß nicht, wann und wie schlimm sie uns trifft und welche Folgen sie haben kann. Schätzungen gehen von einer halben Million Patient:innen mit Long Covid in Deutschland aus.

Die volkswirtschaftlichen Folgen der Pandemie lassen sich seriös noch überhaupt nicht abschätzen. Das gilt nicht minder für die Konsequenzen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, die uns im Herbst und Winter ganz unmittelbar treffen werden. Die Energiekosten gehen durch die Decke, die Inflation ist auf dem höchsten Stand seit 70 Jahren. Ein Sondervermögen von 200 Milliarden Euro, vulgo neue Schulden, sollen die schlimmsten Folgen der schlimmsten Krise der Bundesrepublik, in die das Land gerade taumelt, mildern. Strukturell ändern diese Mittel überhaupt nichts an der Abhängigkeit von fossilen Energien. Der Umbau der Energieversorgung wird noch Jahre dauern. Auf diesen Winter folgt der nächste. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es in Deutschland zu Unterbrechungen der Stromversorgung kommt. In weiten Teilen der Ukraine sind Strom und Wasser nur stundenweise verfügbar; viele Menschen verlassen ihre Heimat. In der Nähe von Wismar wurde ein Heim für ukrainische Flüchtlinge abgebrannt. Es ist eine Schande!

Sicherheit ist nirgends

„Das Ereignis“ mit der eindrucksvollen Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei ist eine kongeniale Verfilmung der literarischen Vorlage von Annie Ernaux. © Prokino

Schöne neue Welt. Wir freuen uns über den Literaturnobelpreis für die Französin Annie Ernaux, stöbern bei Prime Video von Amazon – und finden dort „Das Ereignis“, eine kongeniale Adaption ihres Werkes aus dem Jahr 2000. Der Film von Audrey Diwan mit der grandiosen Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei wurde im letzten Jahr bei den Filmfestspielen in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet; im Wettbewerb der Berlinale sind Beiträge von solcher Wucht und Qualität leider nicht mehr zu erleben. Von einem Moment auf den anderen ändert sich das Leben einer jungen Frau. Sie ist ungewollt schwanger; auf Abtreibung steht in Frankreich 1963 eine Gefängnisstrafe. Diese Lage schildert Annie Ernaux in ihrer autofiktionalen Verdichtung auf 104 Seiten. Trotz ihrer Sympathie für den BDS interessiert mich diese Autorin. In einer nahe gelegenen Buchhandlung bekomme ich das letzte vorrätige Buch von Annie Ernaux und lese den schmalen Band „Das andere Mädchen“ in einem Rutsch.

Die Erfahrung, dass plötzlich alles ganz anders ist, machen wir derzeit alle. Eine glühende Wagner-Verehrerin musste während der Premiere der „Götterdämmerung“ wegen aufflammenden Fiebers fluchtartig die Berliner Staatsoper verlassen, meine Yoga-Stunde fiel wegen Corona aus, einen Geschäftspartner hat es erwischt – die Pandemie ist mit einer neuen Virus-Variante zurück, die Zahlen steigen rasant. Nun ist die Redakteurin dieser Zeilen positiv. Unsere Hausarztpraxis ist wegen Krankheit geschlossen, aber PCR-Tests werden ohnehin nicht mehr kostenlos gemacht, d.h. die in der Corona-Warn-App angezeigten Werte dürften deutlich höher liegen. Was tun? Ruhe bewahren und Masken tragen im öffentlichen Raum. Das machen wir schon immer, und unsere Freundin, die es ziemlich erwischt hat, hat sich vorgenommen: „Ich werde NIE wieder ohne FFP2 Maske irgendwo hin gehen. Vier Mal geimpft, ich dachte, ich bin auf der sicheren Seite. Ich schäme mich wirklich.“

Wenn es doch „nur“ die Pandemie wäre? Wohin man schaut, es türmen sich die Probleme. Der Ukrainekrieg dauert nun fast schon acht Monate, es kommen mehr Flüchtlinge nach Deutschland als 2015/2016, die Wirtschafts- und Energiekrise wird eine Sozialkrise auslösen, die Inflation ist da, die Rezession kommt, gleichzeitig werden händeringend Fachkräfte gesucht, und es werden zu wenig Wohnungen gebaut. Was denn noch? Durch die Wahl in Niedersachsen gerät die Ampel noch weiter unter Druck. Es passt noch weniger zusammen, als es beim Start vor einem Jahr zusammengepasst hat. In den Worten der Süddeutschen Zeitung: „Als FDP-Chef Christian Lindner nun seine Treue zur Koalition mit ’staatspolitischer Verantwortung‘ begründete, da dachte man an Eheleute, die es nur der Kinder wegen miteinander aushalten.“ (10.10.22) Zumindest scheint es eine Zukunft für das Neun-Euro-Ticket zu geben. Das brachte zwar ökologisch fast nichts, ist sozial unausgewogen, hat aber die Mobilität im bundesweiten Tarifdschungel des ÖPNV vereinfacht. Wenigstens das ist sicher.

Passion eines Dorfes

Die Geschichte ist bekannt und berührt immer wieder: Kreuzabnahme bei den Passionsspielen in Oberammergau © Birgit Gudjonsdottir

Wie vom Navi geplant, treffen wir pünktlich in Oberammergau ein. Wie von der Wetter-App angekündigt, beginnt es ebenso pünktlich zu regnen. Alles ist in dem kleinen bayerischen Dorf mit 5.400 Einwohner:innen bestens organisiert. Der Transfer im vollen Bus vom Parkplatz in den Ort klappt reibungslos. Im Dauerregen durch die Menschenmengen zum Festspielhaus. Bei der Einlasskontrolle werde ich mit meinem Stockschirm, den ich mir im Hotel geliehen hatte, zurückgewiesen und muss ihn in einem Gepäck-Container deponieren. Wir drängen uns unter dem kurzen Dach vor unserem Eingang – und sind endlich drin in der riesigen Halle, die über 4.500 Plätze bietet. Natürlich gibt es die üblichen Probleme bei Großveranstaltungen – die Frauen stehen in langen Reihen vor der Toilette. Eine scheint es besonders eilig zu haben, sie entert das Männerabteil mit dem Ruf „Ist eine Kabine frei?“ und gelobt „Ich gucke nicht, ich gucke nicht.“ Vorsorge aber ist in Oberammergau unbedingt von Nöten. Das Passionsspiel dauert fünf lange Stunden mit einer dreistündigen Pause nach der Hälfte der Zeit.

Wir sitzen hervorragend in der Mitte einer endlos langen Reihe auf Stühlen mit einem kleinen Polster. Trotzdem haben wir Decken & Kissen dabei und sind ansonsten ausgerüstet wie für eine winterliche Expedition. Ich stoße mit den Knien an den Vordersitz und fühle mich wie fixiert – das wird eine lange Passion. Ein frischer Wind ist zu spüren, denn hinter der Bühne ist es offen, wahrscheinlich um die vielen Mitwirkenden und die Tiere einzulassen. Die Atmosphäre ist einmalig, und längst sind die Passionsspiele eine weltweite Marke. Neben uns sitzt eine Familie, die eigens aus Hawaii angereist ist und – man höre & staune – das Münchner Oktoberfest nicht kennt. Die Aufführung, die einst 8 Stunden dauerte, ist ein Gesamtkunstwerk der ganz besonderen Art. Erwachsene dürfen nur mitmachen, wenn sie seit mindestens zwanzig Jahren in Oberammergau leben. Um so erstaunlicher, dass die Schauspieler:innen, die Sänger:innen, das Orchester und der Chor tatsächlich aus dem Dorf kommen und beileibe nicht wie eine Laienspielschar agieren.

Wir rätseln bei einer deftigen Mahlzeit im Wirtshaus, ob es eine spezielle Oberammergau-DNA gibt; es ist schier nicht nachvollziehbar, dass ein kleines Dorf solch ein kreatives Potenzial besitzt. Immerhin werden die Passionsspiele seit 1680 alle 10 Jahre aufgeführt, immerhin begeistert sich ein ganzer Ort für diese gemeinsame Sache. Viele stellen ihre Job- und Urlaubsplanung darauf ab und sind mächtig stolz, dabei sein zu dürfen. Fast ein Viertel der Einwohner:innen von Oberammergau war heuer bei den über 100 Veranstaltungen aktiv, die fast eine halbe Million Menschen aus aller Welt anzogen. Herausheben aus diesem Gesamtkunstwerk muss man Christian Stückl (61), der als Spielleiter seit 1986 im Amt ist und in seiner Zeit viele Neuerungen durchsetzen konnte. Die Faszination der Passionsspiele in Oberammergau, deren Gewinn bei der Gemeinde bleibt, ist ungebrochen; und wir waren nicht die einzigen, die heuer zum ersten Mal kamen. Liegt es daran, dass unsere Zukunft ungewisser denn je ist? „Erstmals wurde das Passionsspiel 1634 als Einlösung eines Gelübdes  nach der überstandenen Pest aufgeführt.“ (Wikipedia) Die Corona-Warn-App signalisierte nach dem Besuch in Oberammergau eine Begegnung mit erhöhtem Risiko. Schon geht die Rede von einer neuen Herbstwelle.