Die erste Reise

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Über den Dächern von Kloster: Blick vom Turm der Lietzenburg heute Morgen. © Karl Grünkopf

Glück gehabt! Seit dem 25. Mai dürfen Touristen wieder nach Mecklenburg-Vorpommern reisen. Wir fahren also am Montag nach Hiddensee, einen Tag später als im letzten Jahr bereits gebucht, aber in diesem Jahr ist sowieso vieles anders. Es gibt keine Fähre ab Stralsund, und wir fahren nicht mit dem Zug an die Küste. Mit dem Auto cruisen wir ganz entspannt nach Schaprode auf Rügen, parken dort und setzen über auf unsere Sehnsuchtsinsel. An Bord gelten strikte Regeln: unter Deck ist Maskenpflicht, draußen sind die Abstandsregeln einzuhalten – auch die Crew hält sich daran. Mit Zwischenhalt in Neuendorf erreichen wir den Ort Kloster, schnappen uns einen Wagen und karren das Gepäck auf die Lietzenburg. Die „Sturmhöhe“ (unsere Wohnung ganz oben) ist uns wohl vertraut; heuer müssen wir die Betten selbst beziehen.

Am ersten Abend auf der autofreien Insel gehen wir traditionell ins „Wieseneck“ zum Essen, und wir Berliner kommen aus dem Staunen nicht heraus. Die Kellner tragen Handschuhe & Masken, zuerst müssen wir die Personalien hinterlassen, dann werden laminierte und zuvor desinfizierte Speisekarten gereicht; auf dem Tisch gibt es keine Salz- und Pefferstreuer. „In Meck-Pom ist alles etwas strenger“, meint der Restaurant-Chef. Gut so! Nach dem Laissez-faire letzte Woche gelten auf Hiddensee die Regeln in der C-Zeit eben nicht bloß pro forma. Auch im größten Supermarkt in Vitte. Zu zweit mit einem Einkaufswagen ist nicht zulässig, wir müssen beide einen schieben, kommt die deutliche Ansage vom Kassen-Wart. Das nehmen wir gerne hin, denn ansonsten ist unser Leben auf der Insel fast wie immer, ohne Einschränkungen.

Gestern Abend gab es ein „ARD extra: Die Corona-Lage“ zum Thema Urlaub. In einem Beitrag sehen wir, wie türkische Luxus-Resorts sich auf die ersehnten Touristen vorbereiten, wenn sie denn bald kommen: Desinfektionsteams bei der Arbeit. Sicherheit für die Gäste als oberste Maxime. Das Hotel als Variante des Krankenhauses. So wollen wir nicht Urlaub machen. In den Flugzeugen soll eine strikte Maskenpflicht gelten; dabei wird es keinen Abstand von 1,5 m geben, obwohl auch hier die Klimaanlage keine Sicherheit garantieren kann.  Warum ist in der Luft möglich, was in den Theatern und Konzerthäusern untersagt ist? Schlüssig & nachvollziehbar ist das nicht. Gewisse Lebensrisiken müssen wir eben in Kauf nehmen. Heute Abend eröffnet das „Inselkino“ auf Hiddensee mit  „Fisherman‘s Friends“ – immer zwei Stühle nebeneinander mit ausreichend Platz darum. Ich habe die Karten persönlich bei der Kurdirektorin Vanessa Marx bestellt. No risk but fun!

Den letzten beißen die Hunde

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Nicht systemrelevant: ein Reisebüro hat dicht gemacht. © Karl Grünkopf

Oft bin ich an dem kleinen Reisebüro vorbeigelaufen; nun ist das „Babylon“ leer. Wieder ein Laden weniger in unserem Kiez. Daran werden wir uns gewöhnen müssen, auch daran, dass der stationäre Einzelhandel schrumpft. Selten sehe ich Kundschaft in den kleinen Boutiquen, die sich ihre Hinweise auf die erlaubte Anzahl der Kunden eigentlich sparen können – es kamen schon vor der C-Krise zu wenige. 3 Millionen Menschen arbeiten im Tourismus, die wenigsten sind systemrelevant wie die „Lufthansa“, die jetzt mit Milliarden vom Staat vor der Insolvenz gerettet werden soll.  Das „Babylon“ hat im letzten Jahr sicher keine Dividenden ausgeschüttet und dürfte auch keine Tochtergesellschaften auf den Cayman Islands unterhalten haben.

Restaurants haben bestimmt bessere Chancen als winzige Reisebüros, sofern sie sich an die strikten Vorgaben halten, die nach der Wiedereröffnung letzte Woche gelten. Wir sind gespannt und gehen das erste Mal nach zwei Monaten wieder essen. Zur Sicherheit habe ich vorher reserviert, denn früher hätte man an einem Feiertag keinen Platz bekommen. Das Lokal ist gut besucht, aber es hätte noch genug freie Plätze gegeben. Wir schreiben unsere Kontaktdaten auf – „wenn Sie möchten“. Ansonsten ist alles wie immer, nur dass fast alle Kellner Masken tragen, allerdings nicht im Gesicht, sondern unter dem Kinn: ein lustiges Bartlätzchen. Wir bestellen wie immer (!) und sind erstaunt, wie lässig in diesem Restaurant die C-Regeln interpretiert werden. Fahrlässig! „Das Leben mit Corona wird ein Leben mit dem Risiko werden“, schreibt die Süddeutsche Zeitung vom Tage. Das Essen war gut wie immer; wir werden dieses Restaurant dennoch erst einmal nicht mehr besuchen.

Einen zweiten Lockdown können wir uns nicht leisten. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHT) rechnet mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr um 10%. Es droht weltweit die schlimmste Rezession seit 1929; selbst Queen Elisabeth dürfte sich daran nicht mehr erinnern. In Zeiten wie diesen grassieren natürlich aberwitzige Phantasien. Gerade deutsche Rapper überbieten sich derzeit mit ihren Wahnvorstellungen. Von Tunnelsystemen bis New York geht die Rede, von „kinderbluttrinkenden Superreichen“ (Kollegah), von Zwangs-Impfungen mit Chip-Implantation, von lückenloser Kontrolle und Weltherrschaft. Das Netz eignet sich leider bestens dafür, noch jeden Unfug zu verbreiten. Krankzinnigheid. So heißt auf Niederländisch Wahnsinn.

Chancen

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Tritt nicht vor Autos auf: Helge Schneider beim Konzert im Amphitheater Hanau 2019. © Karl Grünkopf

In Zeiten wie diesen wird gerne ein Wort von Winston Churchill zitiert. „Verschwende nie eine Krise, sie gibt uns Gelegenheit, große Dinge zu tun.“ Groß sind bis jetzt erst einmal die wirtschaftlichen Konsequenzen des Lockdown: die Wirtschaftsleistung geht dramatisch zurück, die Steuereinnahmen brechen ein – die Krise kommt erst noch. Allenthalben wird aber die Digitalisierung gefeiert. Video-Konferenzen sind praktisch & ökologisch, Home-Office eigentlich auch, aber die Begeisterung hält sich in Grenzen, zumal wenn Eltern parallel zur Arbeit auch noch Kinder und Jugendliche betreuen müssen. Warum nicht noch stärker auf die Digitalisierung setzen und eine Tracing-App einführen, mit der sich Infektionen verfolgen lassen; das habe ich bereits in meinem Beitrag vom 10.04. befürwortet.

Die Pflicht zur Installation einer solchen App ist politisch nicht durchsetzbar, aber man könnte mit Belohnungen locken: Wer die Tracing App installiert, darf seine Persönlichkeitsrechte wieder voll und ganz in Anspruch nehmen. Man könnte unter der Voraussetzung, dass jede*r dieses Tool nutzt und eine Maske trägt, die Abstandsregel reduzieren und damit Live-Veranstaltungen, offene Kinos und mehr Gastronomie ermöglichen, so dass sich das Geschäft auch rechnet. Ob die Besucher*innen  dann wirklich kommen, steht dahin. Einer Umfrage des Marktforschungsunternehmens McKinsey zufolge will ein Drittel der Befragten weniger kulturell unterwegs sein; 26% möchten sogar ganz auf solche Anregungen verzichten.

Ob Helge Schneider sich doch darauf einlassen könnte, vor einem Publikum mit Masken aufzutreten? Es wäre ihm und uns zu wünschen. In einem auf Facebook veröffentlichten Video gab der „Auftreter“ jedenfalls bekannt: „Ich muss eines schon mal klarstellen: Ich trete nicht auf vor Autos, ich trete nicht auf vor Menschen, die anderthalb Meter auseinander sitzen müssen und Mund-Nasen-Schutz tragen.“  Was nach dieser Pandemie sein wird, lässt sich nicht abschätzen, wohl aber, dass wir uns noch einen Lockdown nicht werden leisten können. „Die Maßnahmen während der ersten Welle“, schrieb De Standaard aus Brüssel, „können wir während einer zweiten, dritten oder vierten Welle aber nicht wiederholen. Einen neuen Shutdown stehen wir emotional und finanziell nicht durch.“ (11.05.20) Freuen wir uns also auf die Spiele der Fußball-Bundesliga vor leeren Rängen. Spooky!

 

Que Sera, Sera

 

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Ein Theaterereignis: Sandra Hüller als „Hamlet“ im Schauspielhaus Bochum. In diesem Jahr wurde sie mit dem Gertrud-Eysold-Ring und dem Theaterpreis Berlin ausgezeichnet. © JU Bochum

Hamlet oder Hitchcock – das war keine Frage. Eigentlich haben wir uns zur Eröffnung des Berliner Theatertreffens verabredet, das heuer als „Special Edition“ nur im Netz stattfinden kann. Dann werden wir schwach und lassen James Stewart und Doris Day den Vortritt: herrlich wieder einmal „Der Mann, der zuviel wusste“. Tags drauf beweisen wir mehr Charakter und schauen uns die hochgelobte Bochumer Inszenierung des „Hamlet“ von Johann Simon an, mit der umwerfenden Sandra Hüller in der Hauptrolle. Wir sind beeindruckt, werden aber vom abgefilmten Theater wieder nicht in den Bann gezogen – trotz Beamer und gutem Ton. Streaming von Bühnenereignissen ist und bleibt ein Verlust: für die Künstler*innen und ihr Publikum.

Hoffnung ist leider nicht in Sicht. Nach dem rigorosen Shutdown überbieten sich die Ministerpräsident*innen in „Lockerungsorgien“. Um 0 Uhr öffneten am Montag die ersten Friseursalons, mit den weiterhin geltenden Hygiene- und Abstandsregeln scheint fast alles wieder möglich – nur kein Kino, Konzert und Theater. Anders als die Bundesliga ist die Kultur eben nicht  systemrelevant, obwohl allein die 600 Sommerfestivals im Lande für viele Regionen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor sind. Autokinos und Museen (Einlass nur per Voranmeldung) sind zumindest ein Anfang, aber eine richtige Lösung für Bühnen, Konzerthäuser und Clubs ist nicht in Sicht. Müssen wir irgendwann unterschreiben, auf eigenes Risiko eine Live-Veranstaltung zu besuchen, ein Plexiglas-Visier tragen und eine Zusatzversicherung abschließen? Schöne, neue Welt.

Derweil sind unsere Gesundheitsämter heillos überfordert, mit dem Virus Infizierte zu betreuen. Unserem „Mann in den besten Jahren“ (s. Beitrag vom 1.Mai 2020)  geht es inzwischen zum Glück wieder besser, aber seine Erfahrungen mit dem deutschen Gesundheitssystem sind ernüchternd. „Vier verschiedene Sachbearbeiter,“ schrieb er gestern,  „wollten meinen Fall jeweils neu aufnehmen. Nie haben die Personen von sich aus gefragt, ob ich zufälligerweise Angehörige habe (die zum Beispiel zur Schule gehen). Tests seien für meine Familienmitglieder grundsätzlich nicht vorgesehen. Und zur medizinischen Begleitung eines Covid-19-Erkrankten sieht sich ebensowenig irgendjemand imstande. Die Hotline, die man bei Atemnot anrufen kann, ist leider nicht durchgehend besetzt. Frustrierende Einblicke ins Behördenwesen haben wir alle gewonnen. Sollte die Zahl der Infizierten tatsächlich mal stark steigen, weiß ich nicht, wie ruhig alle Betroffenen mit dieser Ausnahmesituation umzugehen in der Lage sein werden.“ Das Robert-Koch-Institut stellt per sofort seine täglichen Pressekonferenzen ein und setzt damit seinen erratischen Kurs konsequent fort, als sei die C-Krise zu Ende. Dabei ist weiter nichts mehr normal im Staate Deutschland.

Würde des Menschen

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„Die Würde des Menschen ist ein absoluter Wert.“ (Wolfgang Schäuble) © Karl Grünkopf

Heute ist der Tag der Arbeit, der Wonnemonat Mai beginnt. Inzwischen sind über 10 Millionen Menschen in Kurzarbeit, in der Gastronomie sogar 93% aller Mitarbeiter*innen. Für diese Branche sieht es besonders düster aus. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man ein Restaurant unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln rentabel betreiben kann. Werden Scheiben aus Plexiglas im Restaurant so selbstverständlich wie Masken im Supermarkt? Urlaub können wir in diesem Jahr voraussichtlich nur in Deutschland machen, was für viele Reisebüros das Ende bedeuten wird. Denn sie verdienen ihr Geld mit den Flug-Reisen ins Ausland, die es wohl heuer nicht geben dürfte. Was den globalen CO²-Ausstoß senkt, ist für Unternehmen wie die Lufthansa eine Katastrophe: eigenen Angaben zufolge macht das Unternehmen 1 Mio. Euro Verlust. Pro Stunde!

Die Kanzlerin mit dem „naturwissenschaftlichen Politikverständnis“ (FAZ) bittet weiter um Geduld und warnt vor zu schnellen Lockerungen der Beschränkungen; die Bürger*innen sind mit ihrer Arbeit zufrieden. Die polnische Zeitung Rzeczpospolita spekulierte kürzlich bereits über eine fünfte Amtszeit von Angela Merkel. Am Ende geht sie auch aus dieser Krise als Gewinnerin hervor: Friedrich Merz ist medial abgetaucht, und die Aktien von Armin Laschet sind im freien Fall. Einzig Wolfgang Schäuble (77) kann es sich erlauben, andere Akzente zu setzen. In einem viel beachteten & bemerkenswerten Interview im Berliner Tagesspiegel gab der Bundestagspräsident, der selbst zur Hochrisikogruppe zählt, zu bedenken: „Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ (26.04.20)

Schäuble stößt damit eine Diskussion an, der wir uns nicht verschließen dürfen: Wie gewichten wir die Grundrechte in einer Pandemie. Die Entwicklung eines Impfstoffs wird dauern, das Durchimpfen der Bevölkerung dann noch einmal länger, eine zweite Welle im Herbst/Winter ist durchaus möglich. Das Corona-Virus sollte man/frau jedenfalls nicht unterschätzen. Nun gibt es den ersten Fall in unserem weiteren Umfeld: ein Mann in den besten Jahren und bei bester Gesundheit ist mit heftigen Symptomen erkrankt und warnt in einer Mail eindringlich: „Jedenfalls kann ich Dich bzw. Euch nur altväterlich bitten, dringend auf Eure Gesundheit zu achten. Dieses Virus ist eben doch nicht so cool, wie Jair Bolsonaro behauptet.“ Corona ist für mich nicht bedrohlicher, aber konkreter geworden. Am Sonntag muss ich mit dem ICE nach Frankfurt fahren. „Leben ist immer lebensgefährlich.“ (Erich Kästner)