Reiseglück

Lok a.D. auf der Insel Langeoog. © Karl Grünkopf

Wer viel mit der Deutschen Bahn unterwegs ist, weiß es sehr wohl zu schätzen, pünktlich und ohne Probleme ans Ziel zu kommen. Einen Ersatzfahrplan während eines Streiks habe ich bisher noch nie genutzt. Immer wieder schaue ich auf die App, ob der ICE wirklich fahren soll. Am Vortag meiner Fahrt von Hannover nach Berlin war der Zug ausgebucht, und mir schwante nichts Gutes. Was würde passieren, wenn er hoffnungslos überfüllt wäre oder gar nicht erst startet. Angeblich passiert das bei Normalbetrieb im Schnitt sechsmal pro Tag. Wenn nicht genug Fahrgäste von sich aus wieder aussteigen, räumt die Bundespolizei kurzerhand den Zug. Auf dieses Erlebnis muss ich noch ein bisschen warten. Der ICE kam pünktlich in Hannover an, erreichte das Ziel vor der Zeit und war nur durchschnittlich besetzt. Die meisten Kund:innen des Staatskonzerns trauten dem Ersatzfahrplan nicht. Bis Montagabend wird der längste Streik der Gewerkschaft der Lokomotivführer noch dauern und einen volkswirtschaftlichen Schaden von 1 Milliarde Euro anrichten. 

Dagegen nehmen sich die Boni des Konzernvorstands für lächerliche Ziele geradezu läppisch aus. Dass diese Sonderzahlungen vom Aufsichtsrat genehmigt wurden, in dem auch Arbeitnehmervertreter sitzen, verschweigt Claus Weselsky, der Chef der Spartengewerkschaft mit gerade einmal 40.000 Mitgliedern, natürlich geflissentlich. Die gemütliche Inselbahn auf Langeoog zwischen Hafen und Ortskern gehört nicht zur Deutschen Bahn, fuhr aber an einem Tag trotzdem nicht. Wegen eines Sturmtiefs musste der Schiffsverkehr eingestellt werden; das Leben auf der autofreien Insel schien noch gemächlicher zu verlaufen. Im ruhigen Gleichmaß der Tage – zum Glück außerhalb der Saison – fügen wir uns in den Rhythmus der Insel. Die meisten Restaurants machen Winterpause; die wenigen geöffneten bieten abends warme Küche allenfalls bis 19 Uhr. 

Trotz Internet sind wir der verrückten Welt ein gutes Stück entrückt. In Hamburg haben uns die Kinder eines Cousins noch Geschichten aus dem ganz normalen Wahnsinn an deutschen Gymnasien erzählt. Mathe unterrichtet ein Student, der nur Teile seines Fachs beherrscht, die Lateinlehrerin sucht Vokabeln bei Google, und der schräge Comedian von der Kneipe gegenüber versucht seine Fähigkeiten im Stand Up zu vermitteln. Besser irgendein Angebot ohne pädagogische Minimalkenntnisse als gar kein Unterricht scheint die Devise zu sein, nicht bloß in Hamburg. Da kommt das überraschende Ergebnis einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wie gerufen. 2035 droht demnach eine Lehrerschwemme an deutschen Grundschulen. Eine andere aktuelle Untersuchung dürfte dagegen niemanden überraschen: Wie in der Katholischen gibt es auch in der Evangelischen Kirche sexualisierte Gewalt. Hier wie dort wird die Aufklärung hintertrieben und behindert. Beide Kirchen haben in den letzten Jahren Millionen Mitglieder verloren. So schaffen sich diese Glaubensgemeinschaften selbst ab. 

Störungen

                                       © Immo Schulz-Gerlach auf Pixabay

Die erste Fahrt nach Frankfurt in 2024 lässt sich gut an. Der ICE ist mäßig besetzt, die Bordgastronomie ist geöffnet. Bis Erfurt also eine Fahrt, die keine Wünsche offenlässt. Dann bleiben wir dort im Bahnhof verdächtig lange stehen; irgendwann kommt doch eine Durchsage – Signalstörung auf dem vor uns liegenden Streckenabschnitt. Nach einer Stunde geht es weiter mit einem Umweg über Würzburg. Kann passieren, passiert immer häufiger, weil die Infrastruktur des Schienennetzes in Deutschland schon lange in keinem guten Zustand mehr ist. Wie so oft und nicht bloß bei der Deutschen Bahn hapert es an der Kommunikation. Tags darauf wird in ganz Hessen Extremwetter erwartet; reihenweise fallen S-Bahnen und Züge aus. Wir stehen am Gleis und warten. Plötzlich wird auf der Anzeigetafel still & leise ein Gleiswechsel angezeigt – alle rennen los. Das wäre gar nicht nötig gewesen, denn der Regionalzug steht noch lange im Bahnhof. Irgendwann vermeldet der Lokführer eine Störung, er wisse nicht, wann es weitergehe. 

Dass es sog. Störungen im Betriebsablauf geben kann, wissen Vielfahrer natürlich aus leidvoller Erfahrung. Jede Reise ein kleines Abenteuer. Dass es mit der Kommunikation hapert, ist ein Skandal. Und doch so typisch für die aktuelle Lage hierzulande. Plötzlich fallen uns die beschaulichen Merkel-Jahre auf die Füße. Krisen, wohin man schaut: Bauernproteste, marode Schulen, Straßen und Schienen, Mangel an bezahlbaren Wohnungen, eine bedingt einsatzfähige Bundeswehr, Geldnöte in einem der teuersten Gesundheitssysteme der Welt, eine verschlafene Wende in der Energie- und Umweltpolitik. Das alles soll eine Koalition stemmen, die sich schon lange nicht mehr grün ist und – wie so viele – unterschätzt hat, “wie ernsthaft die Bedrohungen für unsere Demokratie inzwischen geworden sind.“ (Thomas Haldenwang). Das Unwort des Jahres ist nicht vom Himmel gefallen, von der ”Remigration” war sogar schon im Bundestag die Rede. 

Zumindest formiert sich jetzt die Mitte der Gesellschaft gegen die AfD und namentlich gegen den Faschisten Björn Höcke. Eine Petition “Wehrhafte Demokratie: Höcke stoppen” haben fast eineinhalb Millionen Menschen unterschrieben. Ziel der Aktion: die Bundesregierung, das Parlament oder der Bundesrat sollen beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Grundrechtsverwirkung für Björn Höcke stellen. Dagegen werden nun mit Gründen Bedenken erhoben: man müsste der AfD politisch Paroli bieten, das Verfahren in Karlsruhe könnte Jahre dauern. Das eine darf das andere nicht ausschließen, darauf wies eindringlich ein Leser:innenkommentar von Ceebee am 13.01.24 auf taz.de hin: “Ich finde eine Diskussion darüber, ob wir besser dieses oder jenes gegen die Faschisten unternehmen, müßig. Wir sollten Alles gegen sie tun. Petitionen, persönliche Konfrontation, Massendemonstrationen, Verbotsanträge etc etc., es muss von allen Seiten kommen und es muss massiv sein!” In Zeiten wie diesen tut ein Abend mit der Dresdner Kabarettistin Anna Mateur so gut, die mit ihrem grandiosen Programm ”Kaoshüter” im Neuen Theater Höchst in Frankfurt begeisterte. Am besten haben mir ihre surreal überdrehten Geschichten gefallen, die sie zwischen ihre Songs streut. Sie und ihre beiden Buddies an der Gitarre haben nur ein Tagesvisum bekommen, verrät sie verschmitzt; dann wird es keine Probleme mit ihrer Remigration nach Dresden geben. Das Lachen bleibt mir im Halse stecken.  

Wut

Wut ist immer ein schlechter Ratgeber. © Gerd Altmann auf Pixabay

Kann jemand besser Wut ausdrücken als die Schauspielerin Hannah Herzsprung? Sie spielt, als würde sie gar nicht spielen. Mit dem Film “4 Minuten” von Chris Kraus hatte sie 2006 ihren Durchbruch. Hannah Herzsprung ist dort in der Rolle einer hochbegabten Pianistin zu sehen, die wegen Mordes im Gefängnis sitzt. Insgesamt 60 Auszeichnungen bekam der Film, erfahren wir bei der Premiere der Fortsetzung “15 Jahre” im Kino International. Der Regisseur Chris Kraus ist an diesem Abend nicht dabei und deutet in einem verlesenen Brief extrem schwierige Bedingungen bei dieser jahrelangen Produktion an. Seine Partnerin Uta Schmidt – im Leben wie im Beruf – hat es als Editorin immer wieder geschafft, die Produktion zu retten. Sie starb im November mit 58 Jahren, und Chris Kraus wollte ohne sie nicht zur Premiere nach Berlin kommen. “15 Jahre” erzählt die verschlungene Geschichte der Pianistin Jenny von Loeben nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis und wird wieder getragen von der grandiosen Hannah Herzsprung. Sie hält Film wie Plot zusammen und wird nach 144 niemals langen Minuten mit Standing Ovations gefeiert. 

Wer wollte die Wut einer jungen Frau nicht verstehen, die fünfzehn Jahre unschuldig im Gefängnis verbrachte. Wenn sich individuelle Wut kollektiv artikuliert, wird es aber gefährlich. Nicht auszudenken, hätte Wirtschaftsminister Robert Habeck in der letzten Woche versucht, die Fähre in Schüttsiel (Schleswig-Holstein) zu verlassen. Dass die Bauern sich trotz hoher Subventionen (mehr als 40% ihrer Einnahmen kommen aus öffentlichen Töpfen) gegen die Kürzung der Zuschüsse beim Agrardiesel wehren und Straßen blockieren, kann man gerade noch nachvollziehen. Wenn aber Protestler zum Mob werden, ist eine rote Linie überschritten. Aufgestachelt von rechten Scharfmachern attackierten Bauern in Brandenburg Fahrzeuge des Rundfunk Berlin Brandenburg. Die Saat geht auf, wenn bis in die Mitte unserer Gesellschaft hinein die Sender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Staatsmedien diffamiert werden. 

Die AfD, die eigentlich für die Abschaffung aller Subventionen ist, nutzt jede Möglichkeit, um Stimmung gegen die Ampel, gegen “das System” zu machen. In “Prantls Blick” vom 07.01.24 zitiert Heribert Prantl aus einem zynischen Text des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels: “Das wird immer einer der besten Witze der Demokratie bleiben”, heißt es in “Die Dummheit der Demokratie”, “dass sie ihren Todfeinden die Mittel selber stellte, durch die sie vernichtet wurde. Die verfolgten Führer der NSDAP traten als Abgeordnete in den Genuss der Immunität, der Diäten und der Freifahrkarte. Dadurch waren sie vor dem polizeilichen Zugriff gesichert, durften sich mehr zu sagen erlauben als gewöhnliche Staatsbürger und ließen sich außerdem die Kosten ihrer Tätigkeit vom Feinde bezahlen. Aus der demokratischen Dummheit ließ sich vortrefflich Kapital schlagen.“ Der durch das Recherchenetzwerk CORRECTIV aufgedeckte “Rechtsextreme Geheimplan gegen Deutschland”* lässt mir den Atem stocken. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, hat sich dazu eindringlich geäußert: “Man hat sich sehr in seinem komfortablen Privatleben eingerichtet und man nimmt nicht hinreichend wahr, wie ernsthaft die Bedrohungen für unsere Demokratie inzwischen geworden sind.“ Sage nur niemand, er habe nichts gewusst! 

Perfect Days

Perfect Days gibt’s derzeit nur im Kino in dem wunderbaren Film von Wim Wenders mit Koji Yakusho in der Hauptrolle. © 2023 MASTER MIND Ltd

Einmal sagt die Besitzerin eines kleinen Restaurants in dem wunderbaren Film “Perfect Days” von Wim Wenders: “Warum kann nicht alles so bleiben, wie es ist.” Oder wie es einmal gewesen ist, als die Welt vermeintlich noch in Ordnung war. Gewissenhaft erledigt ein Toilettenmann in Tokio seinen Job; sein Leben & seine Tage verlaufen in ruhigem Gleichmaß. Meisterhaft erzählt der Regisseur diese Geschichte ohne Längen, obwohl fast nichts passiert in den zwei Stunden. Koji Yakusho spielt diesen Toilettenmann, als würde er gar nicht spielen. Gebannt verfolgt das Publikum seinen fast immergleichen Alltag, den Wenders immer wieder neu erzählt. Aufstehen, Bett machen, rasieren, Kaffee aus dem Automaten, in den Lieferwagen, auf der Fahrt zur Arbeit alte Kassetten hören (der Titelsong stammt von Lou Reed), Mittagspause im Park, mit einer analogen Kamera Bilder vom Blätterdach eines Baumes machen, ohne durch die Linse zu schauen, etwas essen gehen, im Bett noch in einem Buch lesen, einschlafen. Hirayama von “The Tokyo Toilet” redet wenig und wenn überhaupt sehr bedächtig.  

Natürlich passiert noch ein bisschen mehr im Leben dieses Philosophen, der unerschütterlich in sich ruht – ein moderner Diogenes. Dass solch ein Leben gelingen könnte in Zeiten wie diesen zieht das Publikum sanft in seinen Bann. “Perfect Days” schauen wir uns im gut besuchten Delphi an, für viele das schönste Kino Berlins. In diesem Gebäude fand die erste Ausstellung der Berliner Secession statt, hier stellte der norwegische Maler Edvard Munch 1902 seine damals schockierenden Bilder seelischer Zustände aus. Sein Debüt in Berlin wenige Jahre zuvor hatte einen handfesten Skandal ausgelöst. Die Ausstellung wurde nach wenigen Tagen geschlossen und machten den Maler berühmt. Glücklich wurde er aber nie. “Ich habe gleichwohl das Gefühl”, notierte er, “dass alle Lebensangst eine Notwendigkeit für mich ist ebenso wie die Krankheit. Ohne Lebensangst und Krankheit wäre ich wie ein Schiff ohne Steuer.” 

Diogenes oder Munch. Wir sehnen uns alle nach Perfect Days und müssen bloß die Nachrichten hören und bekommen Lebensangst. Die Konsequenzen des Klimawandels sind mit Händen zu greifen; fast das ganze Bundesland Niedersachsen steht unter Wasser. Die Kämpfe um die knapper werdenden staatlichen Mittel eskalieren. Der Wirtschaftsminister Robert Habeck, immer offen für Gespräch und Reflexion, wurde von aufgebrachten Bauern am Verlassen einer Fähre gehindert. Die Zustimmung für die Unterstützung der Ukraine schwindet, die Umfragewerte der AfD steigen. Das Ansehen der Ampelkoalition ist im freien Fall, Scholz’ Beliebtheit sinkt immer weiter. Der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland bröckelt, weltweit sind Populisten, Autokraten und Diktatoren auf dem Vormarsch. Keine Perfect Days nirgends. Immanuel Kant, dessen 300. Geburtstag am 22. April ansteht, soll dennoch und wie hier schon vor zwei Jahren das letzte Wort behalten: “Drei Dinge helfen, die Mühseligkeiten des Lebens zu tragen: Die Hoffnung, der Schlaf und das Lachen.“