Die Siebengescheiten

Ein Menetekel nicht nur für Frankfurt: Das Grandhotel „Hessischer Hof“ und „Jimmys Bar“ müssen dichtmachen. © Anja Weigand-Döring

Die Langeweile hat bereits am ersten Spieltag begonnen. Der FC Bayern München fegte Schalke 04 mit 8 : 0 vom Platz; das Ergebnis hätte sogar leicht zweistellig ausfallen können. Interessant in der Bundesliga ist nur noch, wer absteigen muss, und da sind die Schalker, die durch Landesbürgschaft von NRW vor der Pleite gerettet wurden, allererste Wahl. Zuschauer waren in München, wo man/frau derzeit auch auf einigen öffentlichen Plätzen Masken tragen muss, nicht zugelassen. Die Großkopferten des Vereins verfolgten bräsig allein das Spiel – ohne Masken, obwohl man direkt nebeneinander saß. Gelegentlich ist immer noch von der Vorbildfunktion des Sports die Rede, aber das scheint nicht für die Führung der Bayern zu gelten. Peinlich!

Nicht weniger peinlich und ohne jeden Instinkt ist das schamlose Taktieren von ver.di. Sage & schreibe 4,8% mehr Lohn fordert die Gewerkschaft in einer Zeit, da die Krise immer konkreter zu spüren ist. Die Lufthansa will dauerhaft 150 Maschinen am Boden lassen, aus der Automobilindustrie sind bedrohliche Meldungen zu vernehmen, der Zulieferer Conti schließt ganze (rentable) Werke, kurzum viele Menschen bangen um Job & Zukunft. Niemand macht den vielbeschworenen Helden*innen des Frühjahrs, die etwa in Kitas, Krankenhäusern und Pflegeheimen schuften, eine Gehaltserhöhung streitig, aber im Öffentlichen Dienst arbeiten fast fünf Millionen Menschen, oft sehr kommod und kündigungssicher. Durch Warnstreiks die Gesellschaft ohne eigenes Risiko in Geiselhaft zu nehmen, ist in Corona-Zeiten besonders perfide, aber das ficht den selbstgerechten ver.di-Boss Frank Wernecke nicht an.

Vielleicht ist er ja schon einmal im „Hessischen Hof“ abgestiegen, als er in Frankfurt war. Das Grandhotel mit langer Tradition und in bester Lage unmittelbar an der Messe muss schließen. Wie ein Menetekel liest sich diese Meldung – wer braucht noch Hotels, wenn Touristen und Messebesucher ausbleiben. Diese Gäste sind ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in einer Stadt wie Frankfurt: sie besuchen natürlich auch Restaurants, kaufen ein und gehen in Konzerte. Bereits jetzt klagen viele Geschäfte & Lokale in der Innenstadt über spürbar weniger Frequenz, bereits jetzt mussten viele kleine Shops schließen. Die Folgen der Pandemie sind immer deutlicher zu spüren und werden sich in den Wintermonaten noch verstärken. Die Warnstreiks von ver.di deuten eine bedenkliche Entsolidarisierung der Gesellschaft an. Die Zukunft des „Corona-Wunderlands“ (Die Welt) Deutschland steht auf dem Spiel.

Gewinner

Eine Ausstellung der Boros Foundation mit ganz aktueller Kunst findet ab September im Berghain statt, dem berühmtesten Club der Welt. Das Banner stammt von dem thailändischen Künstler Rirkrit Tiravanija. © Karl Grünkopf

Das Berghain in Berlin ist ein Gesamtkunstwerk und gilt als der bekannteste Club der Welt. Natürlich bleibt auch diese Location in Zeiten der Pandemie für Party-People geschlossen, aber womöglich entwickelt sich aus einem Kunst-Projekt ein ganz neues Geschäftsmodell. Derzeit zeigt die Boros Foundation in dem alten Heizkraftwerk ganz aktuelle Kunst von Künstler*innen, die in der Hauptstadt leben und arbeiten. Die ersten Tix gehen weg wie warme Semmeln und wir sind froh, überhaupt noch einen Slot zu bekommen. Wann kommt ein „normaler“ Mensch schon ins Berghain? Der riesige Bunker mit seinen verschlungenen Treppen & Räumen und den Hinweisen auf seine einstige Funktion in der DDR fasziniert auch ohne Kunst. Womöglich wird der Club nach der Pandemie tagsüber als Baudenkmal öffnen, ehe nachts dann die Parties abgehen. Für Unmut in der Berliner Kunstszene sorgte die finanzielle Unterstützung dieses Projekts durch den Senat, der schlappe 250.000 Euro springen ließ.

Gewinnen möchte jede*r, und das Ritual nach Wahlen ist sattsam bekannt. Die Kommunalwahl in NRW am letzten Wochenende haben Die Grünen gewonnen, aber auch der Kandidat für den CDU-Vorsitz Armin Laschet erklärte sich rasch zum Sieger, obwohl seine Partei 3,2% im Vergleich zur letzten Wahl verlor. Dass sich auch die SPD durch ihren Ko-Vorsitzenden Nobert Walter-Borjans zum Gewinner (minus 7,1%) erklärte, grenzt an Realitätsverleugnung oder ist pure Verzweiflung. Einst holten die Genossen in Nordrhein-Westfalen satte Mehrheiten; heute freuen sie sich über 24,3% – eine Verbesserung im Vergleich zu den Europawahlen. Vom Kandidaten-Wumms eines Olaf Scholz – derzeit der beliebteste SPD-Politiker – war an Rhein und Ruhr gar nichts zu spüren.

Zumindest Zeit gewonnen hat die Stadt Frankfurt: auf der Zeil soll Karstadt erst Ende 2024 endgültig dicht gemacht werden (mehr dazu im Blog „Tote Stadt“ vom 14.08.20). Sollte es allerdings stimmen, dass der Eigentümer Signa dafür am Opernplatz höher bauen darf, macht die Stadt ein ganz schlechtes Geschäft. Das Hochhaus wird stehen, und die Probleme auf der Zeil bleiben. Eine Reurbanisierung dieser öden Einkaufsmeile durch die Städtischen Bühnen, wie es jetzt allenthalben angeregt wird, wäre eine echte Chance für Frankfurt. Markus Fein, der neue Intendant der Alten Oper für Frankfurt – so nennt sich das Konzerthaus neuerdings – ist jedenfalls voller Optimismus: „Ich glaube, der Gewinner der Krise wird nicht das Internet sein mit seinen digitalen Ersatzangeboten, sondern das Live-Konzert.“ Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Back to Live

Furioses Finale einer erfolgreichen Tour: viel Beifall für die Junge Deutsche Philharmonie in der Kulturkirche St. Elisabeth. © Gitti Grünkopf

Was für eine Begeisterung & Erleichterung am Ende einer kurzen Tour! Alles war gut gegangen auf der Reise durch Deutschland, und die Junge Deutsche Philharmonie aus Frankfurt spielt ein furioses Finale in der Kulturkirche St. Elisabeth in Berlin Mitte. Anfangs ist freilich keine Musik zu hören – das „Zukunftsorchester“ nähert sich der 7. Sinfonie von Ludwig van Beethoven nicht musikalisch. Wir erleben eine „Sinfonie der Stille“ und bekommen sogar Ohrstöpsel, um uns ganz auf Action Painting, Physical Theatre und Videos einzulassen. Spannend & unerhört. Nach der Stille geht das Orchester unter dem englischen Dirigenten Joolz Game furios zur Sache. Schneller haben wir die Siebte noch nie gehört, und besonders im Allegretto fehlen die abgründigen Nuancen. Lang anhaltender Applaus für die Musiker*innen, die das Werk auswändig und stehend gespielt haben.

Back to Live. Explizit unter diesem Fanal stand das Konzert von Helge Schneider tags zuvor. Der Veranstalter machte alles richtig: strikte Kontrollen am Eingang inkl. Scanner, Masken-Pflicht auf dem Weg zu den durchnummerierten Plätzen, kein Alkohol auf dem Gelände, nur 25% der 22.000 Plätze der Berliner Waldbühne durfen verkauft werden. So viele bekommt der Entertainer mit den dadaistisch-skurrilen Ansagen, der mit dem Gitarristen Henrik Freischlader und seinem 10-jährigen Sohn Charles am Schlagzeug unterwegs ist, aber nicht voll. Die Stimmung ist gut, aber nicht ausgelassen; das liegt sicherlich zum guten Teil an der zu großen Freilichtbühne. Der Weg zur Normalität ist noch weit, und die Veranstalter beklagen immer wieder zu Recht, dass die Politik ihnen keine Perspektiven aufzeigt und sie mit Desinteresse straft.

Am Mittwoch gab es in Berlin eine Großdemo der Veranstaltungsbranche; eigenen Angaben zu Folge macht sie 130 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr, ist damit der sechstgrößte Player im Markt und hat rund 1 Million Menschen in Lohn und Brot. Während die TUI schon wieder ein Milliardendarlehen vom Staat bekommen hat, stehen die Veranstalter mit leeren Händen da – und weiterhin ohne Zukunftsperspektive, was noch viel bitterer ist. Um so hoffnungsfroher stimmt, dass der Frankfurter Jazzkeller wieder für 34 Gäste geöffnet hat. Der ewig optimistische Inhaber Eugen Hahn hat in ein Luftfiltergerät und Schutzwände aus Plexiglas investiert; der Laden war voll am letzten Wochenende. Das Frankfurter Schauspiel eröffnet heute Abend die neue Spielzeit: sinnigerweise steht „Wie es euch gefällt“ von Shakespeare auf dem Programm. 160 der insgesamt 700 Plätze dürfen derzeit besetzt werden. In NRW wären es mit der Schachbrett-Belegung 350. Dort wird am Sonntag gewählt; eigentlich nur Kommunalwahlen, aber es werden die ersten Corona-Wahlen sein.

Schach der Pandemie

Ein glanzvoller Auftakt in eine ungewisse Saison: die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko müssen vor dreiviertel leeren Rängen spielen. © Rolf Hiller

Endlich dürfen sie wieder spielen, aber alles ist anders in Zeiten der Pandemie. Wir können erst eine halbe Stunde vor dem Konzert in die Berliner Philharmonie und werden mit einem neuen Farbleitsystem zu unserem Block geführt. Bevor wir an unsere Plätze gebracht werden, bekommen wir noch ein Blatt zur Angabe unserer Personalien; selbstverständlich sind alle maskiert. Erst wenn die Musiker*innen die Bühne betreten haben, darf das Publikum die Masken ablegen. Es gibt keine Pause und keinen gastronomischen Service. Und wir haben Platz: nur ein Viertel der 2.250 Plätze darf belegt werden.

Dann endlich beginnt das langersehnte Konzert. Die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko eröffnen diese ganz besondere Saison mit „Verklärte Nacht“ von Arnold Schönberg in der Fassung für Streichorchester. Im Anschluss dann gleich Johannes Brahms‘ 4. Symphonie. Selten haben wir so ein konzentriertes Publikum erlebt – kein Mucks ist zu hören, wie gebannt verfolgen wir die traumschöne, vielschichtig nuancierte Musik, die man wahrer nicht spielen. Am Ende kommt noch einmal der Dirigent allein auf die Bühne; Krill Petrenko wirkt sichtlich gelöst und verbeugt sich nach allen Seiten. Ein verheißungsvoller Auftakt, der indes nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Konzerte mit so wenig zugelassenem Publikum sich nie & nimmer rechnen. Die Verluste wären kleiner, wenn die Gäste im Abstand von einem Meter in der sog. Schachbrettplatzierung sitzen dürfen. Das ist in Nordrhein-Westfalen erlaubt und wurde soeben mit Bravour bei den Salzburger Festspielen erprobt.

Wir werden mit dieser Pandemie leben müssen, und wir lernen jeden Tag dazu. Vor zwei Tagen zitierte „Bild“ den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bei einem Auftritt in Bocholt mit den Worten: „Man würde mit dem Wissen von heute, das kann ich ihnen sagen, keine Friseure mehr schließen und keinen Einzelhandel mehr schließen. Das wird nicht noch einmal passieren.“ Es bleibt zu hoffen, dass die Hygiene- und Sicherheitskonzepte der Veranstalter von der Politik endlich anerkannt & unterstützt werden. Jede Bahnfahrt ist riskanter als jeder Besuch eines gesetzten Konzerts oder Theaterstücks! Derzeit erhitzt die Gemüter aber mehr ein anderes Thema: die Vergiftung des russischen Regimekritikers Nawalny. Zar Wladimir gilt übrigens als exzellenter Schachspieler. Warum hat er einer Verlegung von Alexei Nawalny nach Deutschland zugestimmt? Eine bewusste Provokation? Oder kannte Putin nicht die Details? Beunruhigend ist das allemal.