Das Ende naht

Ganz großes Theater: „Eurotrash“ von Christian Kracht. Regie: Jan Bosse mit Angela Winkler und Joachim Meyerhoff in der Berliner schaubühne. © Fabian Schellhorn

Bis auf den letzten Platz ist das Theater gefüllt. In der schaubühne müssen alle Besucher:innen während der Vorstellung eine FFP2-Maske tragen; und es gilt die 2G-Plus-Regelung. Man muss also einen tagesaktuellen Negativ-Test vorweisen, oder man ist geboostert. Ohne Planung geht gar nichts in der Kultur, aber das Publikum nimmt diese Umstände in Kauf – schließlich stehen Angela Winkler und Joachim Meyerhoff auf der Bühne. Knapp zweieinhalb Stunden (ohne Pause) dauert das Theaterereignis, das den komplexen Roman „Eurotrash“ von Christian Kracht schlüssig verdichtet. Dieses Kunststück ist dem Regisseur Jan Bosse und Bettina Ehrlich gelungen. Sie haben die autofiktionale Mutter-Sohn-Geschichte geschickt reduziert, den Personen allerdings auch viel von ihrer Komplexität genommen. Angela Winkler gibt eine kapriziöse alte Dame, nicht ein tabletten- und alkoholsüchtiges Wrack, das vom Leben zerstört wurde. Joachim Meyerhoff ist ein freundlicher Sohn, der die Wahnvorstellungen seiner Mutter geduldig erträgt. Ihre Fahrt auf dem Schiff der Erinnerungen & Obsessionen endet nicht bei den Zebras in Afrika, sondern in der Psychiatrie.

Diese Lesart kann man gelten lassen. Nach der Vorstellung gibt es standing ovations. Wir fühlen uns ein bisschen wie vor der Pandemie. Ein solcher Abend aber macht noch keinen Sommer. Sollte das Kurzarbeitergeld nicht länger gezahlt werden, droht in der Veranstalterbranche eine Kündigungswelle. „‚Mehr als drei Viertel der Veranstaltungsunternehmen werden im März ihre Mitarbeiter kündigen mangels Kurzarbeit‘, teilte Jan Kalbfleisch von der Bundesvereinigung Veranstaltungswirtschaft mit.“ (dpa) Während in Berlin (noch) großzügige Regelungen gelten, werden in Hessen Veranstaltungen quasi im Stundentakt storniert, weil nicht mehr als 250 Besucher:innen erlaubt sind, ungeachtet der Raumgröße. Das Moka Efti Orchestra im Großen Saal der Alten Oper Frankfurt (2.400 Plätze) rechnet sich da ebenso wenig wie die Pferdeshow Cavalluna in der Frankfurter Festhalle (knapp 9.500 Sitzplätze). Während hierzulande einer Branche der Garaus gemacht wird, wollen Dänemark und England alle Corona-Beschränkungen wieder aufheben.

Was tun? Solange Branchen quasi mit einem Tätigkeitsverbot belegt sind, müssen sie weiter unterstützt werden durch Kurzarbeitergeld und Betriebsmittelzuschüsse. Sonst droht ein Kahlschlag mit volkswirtschaftlichen Konsequenzen. Immerhin hängen an der Veranstalterbranche rund 1 Million Existenzen. Ob dieses Business dann noch einmal auf die Beine kommt, darf bezweifelt werden. Nicht jedes Geschäftsmodell lässt sich ins Netz verlagern. Ein Konzert, eine Show, ein Opern- oder Theaterabend ist ein einmaliges Erlebnis, dessen Besonderheit eben nicht im Stream erscheint. Womöglich ist diese Emphase nicht mehr zeitgemäß. Mir ist es jedenfalls nicht egal, ob ich Kultur analog oder digital erlebe – es ist ein Unterschied ums Ganze. Zum Glück!

Wegducken gilt nicht

„Omikron ist eine Chance.“ (Christian Drosten) © Pixabay

Vor dem Treffen ist erst mal ein Test dran. Wir sind am Abend mit Freunden zum Essen verabredet und gehen wie immer zur Apotheke umme Ecke, um dort zur Sicherheit einen Schnelltest machen zu lassen. Routine. Wird ja bestimmt wieder negativ sein. Zum ersten Mal aber lesen wir: „positiv“, und plötzlich ist alles ganz anders – die Situation muss neu bewertet werden. Wir sagen die Einladung, auf die wir uns alle so gefreut haben, natürlich ab und checken, wo wir einen PCR-Test machen können. Geld regiert die Welt. Wir finden ein Testzentrum, das stolze Preise aufruft, dafür aber noch am gleichen Tag das Ergebnis schickt – zum Glück liegt keine Infektion vor. Einer Ansteckung werden wir aber nicht entgehen, vertraut man der Einschätzung der Experten. Derzeit gehen die Zahlen durch die Decke, und sie dürften deutlich höher liegen als gemeldet. Nicht jede:r lässt sich mehrfach in der Woche testen, nicht jede:r spürt bei einer Infektion Symptome.

In einem langen Interview – Headline „Omikron ist eine Chance“ – hat sich der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité im Tagesspiegel (16.01.22) zu Wort gemeldet. „Das Virus muss sich verbreiten, aber eben auf Basis eines in der breiten Bevölkerung verankerten Impfschutzes.“ Explizit erteilt er „Durchseuchungsanhängern“ eine Absage, verweist aber beim Reizthema Impfpflicht auf die Politik. Diese Antwort ist genauso klug wie seine mediale Zurückhaltung – es gibt in der Pandemie schon genug Vielsprecher. Auf die Frage, ob „wir jemals wieder so leben wie vor der Pandemie“ gibt sich Drosten übrigens sehr zuversichtlich. „Ja, absolut. Da bin ich mir komplett sicher. (…) Wir werden noch ein paar Jahre Masken in bestimmten Situationen tragen müssen.“ Wenn’s weiter nichts ist. Beim nächsten Interview müsse man aber bestimmt über Long Covid sprechen. Die Folgen der Pandemie werden uns noch sehr lange beschäftigen.

Aller guten Dinge sind drei, vielleicht gilt das ja auch bei der CDU, bei der Friedrich Merz bekanntlich zum dritten Mal antritt, um Vorsitzender der arg gebeutelten Partei zu werden. Eine Herkulesaufgabe. Ohne eine schonungslose Bestandsaufnahme der Ära Merkel wird das nicht gelingen. Die einst mächtigste Frau der Welt hat in ihrer Zeit als Vorsitzende ihrem Kanzlerinwahlverein einiges zugemutet und den konservativen Markenkern der Partei nach ihrem Gusto geschliffen. Wird Merz ein Neuanfang gelingen, oder bleibt auch er ein Mann des Übergangs? Zumindest hat der 66-Jährige die Lage der CDU vor der letzten Bundestagswahl in der Süddeutschen Zeitung knallhart auf den Punkt gebracht: „Kein Programm, kein Kandidat, keine Strategie, keine Kommunikation, keine Agentur, nichts.“ Die Abrechnung mit Angela Merkel hat begonnen. Was wäre wohl den Mainzer Närrinen und Narrhalesen bei ihrer Fassenacht uff de Gass‘ dazu eingefallen? Der Rosenmontagsumzug fällt in diesem Jahr „coronabedingt“ aus. Helau.

Unsicherheit

Ein Konzertraum mit einer ganz besonderen Atmosphäre: der Piano Salon Christophori in Berlin. © Rolf Hiller

Es dauert eine Weile, bis wir alle drin sind. Die Impfnachweise werden wie gewohnt digital auf den Smartphones kontrolliert, Namen und Adresse schreibe ich dann aber analog auf einen Notizzettel. Im Piano Salon Christophori ist vieles anders als an anderen Orten, wo Konzerte mit Kammermusik und gelegentlich Jazz stattfinden. In einer Fabrikhalle findet sich ein Sammelsurium unterschiedlicher Dinge, die nach einem geheimen Plan geordnet sind: Gehäuse und Teile von alten Flügeln, Bilder, Schallplatten und Fundstücke aller Art, die eine einzigartige Atmosphäre in diesem nüchternen Funktionsbau schaffen. Miriam Helms Åliens (Violine), Alexey Stadler am Cello und der Pianist Robert Neumann spielen Mendelssohns Klaviertrio Nr. 1 und nach der Pause das zweite Klaviertrio von Schostakovich. Dieses Werk entstand 1944 und ist (auch) ein schmerzhaftes Andenken an einen Freund, der mit 41 Jahren überraschend starb. Das Trio, das sich übrigens beim Festival Krzyżowa Music kennengelernt hat, spielt überwältigend.

Noch immer gebannt verlassen wir den Piano Salon – zurück in unsere allherrschende Unsicherheit.über den Stand & Fortgang der Pandemie. Die täglichen Zahlen sind bedrückend, die politische Bewältigung der Krise ist es nicht minder. Ist die Ampel-Koalition wirklich erst einen Monat im Amt? Längst ist die Aufbruchstimmung verflogen. Das leidige Thema Impfpflicht irritiert und nervt gleichermaßen. Der Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist natürlich dafür, verhält sich aber „neutral“; das scheint auch die Position von Olaf Scholz zu sein. Beide scheuen eine eigene Gesetzesvorlage – weil es dafür keine Kanzlermehrheit gibt. Bekanntlich ist mit der FDP, die in der Regierung derzeit den Ton angibt, eine Impfpflicht nicht zu haben. Die FAZ diagnostiziert ein „Kuddelmuddel“: „Der wahre Grund, die Abstimmung innerhalb der Fraktionen ‚freizugeben‘, sind weder Gewissensfragen noch Orientierungsschwierigkeiten. Der Kanzler hat in der Sache einfach keine eigene Mehrheit. Die FDP lief ihm von der Fahne. Christian Lindner machte keine Anstalten, die Reihen im Sinne von Scholz zu schließen.“ (13.01.22)

Ob ein bisschen Poesie aus dem Parlament helfen würde? Plötzlich macht ein befremdlicher Vorschlag die Runde: der deutsche Bundestag solle einen Verseschmied oder eine Verseschmiedin bestellen. Die stellvertretende Vizepräsidentin des Parlaments, Katrin Göring-Eckhardt, hat diese Schnapsidee begeistert aufgenommen. Nun dräut ein neues Ampel-Biedermeier, inspiriert sicher von der amerikanischen Lyrikerin Amanda Gorman, die zur Amtseinführung von Joe Biden pathetische Worte deklamierte – zum Glück auf Englisch. Vielleicht hätte der oder die hiesige Politpoet:in in der aktuellen Verunsicherung einen Filmtitel von Alexander Kluge moduliert: In Gefahr und größter Not bringt die Laviererei den Tod. Apropos Kino. Die Berlinale, das größte Publikumsfestival der Welt, soll in diesem Jahr im Zeichen von Omikron wieder stattfinden. Mit Masken- und Testpflicht nach aktuellem Stand und noch mehr Geld vom Bund. Wir haben es ja (noch).

Moleküle & Viren

Venedig ohne Touristen in dem Film-Essay „Moleküle der Erinnerung“ von Andrea Segre. © Film Kino Text

Ausverkauft! Bei windigem Regenwetter steht die Generation 60plus geduldig vor einem Kiez-Kino umme Ecke. Sie alle wollen „Moleküle der Erinnerung“ von Andrea Segre sehen, einen Film-Essay, der sich viel, allzu viel vornimmt. Es gilt 2G mit Abstand im Kino und permanente Maskenpflicht. Eigentlich wollte sich der Regisseur auf Spurensuche nach seinem Vater begeben, der in Venedig geboren wurde, dann aber die Lagunenstadt verließ. Ein Schweiger mit angeborenem Herzfehler, zu dem der Sohn nie ein Verhältnis entwickeln konnte, auch nicht posthum in diesem Film mit den schönen Worten und Bildern. Während der Dreharbeiten kam dann Corona dazwischen, und das Leben in Venedig fast zum Erliegen. Segre macht auch das zum Thema, und die Jahrhundertflut 2019 und verschneidet alles mit privaten und beliebigen Sequenzen – in einem Wort: 68 Minuten können sehr lang werden.

Corona ist eben allgegenwärtig, doch der normale Betrieb muss weiterlaufen, auch in einem Krankenhaus. In einer Klinik habe ich einen geplanten Termin. Dass ich fast den halben Tag draußen vor der Station auf mein Bett warten muss, längst vergessen. Immer wieder höre ich die gleichen Fragen, etwa nach Voruntersuchungen, die doch im gleichen Haus gemacht wurden. Am häufigsten werde ich gefragt, ob ich bewegliche Zahnprothesen habe. Auf meinen vorsichtigen Hinweis, das sei doch längst bekannt, gibt die brave Schwester unumwunden zu: „Wir sind mit der Digitalisierung noch nicht so weit“. Es gibt die guten, alten, deutschen Akten wie eh und je, die ich als Bote in eigener Sache schon einmal unter den Arm nehmen darf. Eine Momentaufnahme des digitalen Rückstands im deutschen Gesundheitssystem.

Per Zufall stoße ich in 3sat auf einen Film, der zur Situation passt. Die Protagonistin wird auch mit einem Bett durch ein Krankenhaus geschoben und schaut auf Neonlampen über ihr an der Decke. Niemals hätte ich diesen Skandalroman gelesen, weil ich neue Skandalromane hasse. „Feuchtgebiete“ (2008) von Charlotte Roche war ein Skandälchen, weil Helen (Carla Juri) ihre Sexualpraktiken & Regressionen offen und manchmal recht unappetitlich auslebt. Der Film (u.a. mit Meret Becker und Edgar Selge) zieht sich, soll aber nicht so plakativ wie der Bestseller auf Schock-Szenen setzen. Man könnte dass Verhalten von Helen als regressiven Schrei nach Liebe deuten, die sie als Kind von ihren ambivalenten Eltern (Trennung, Versöhnung, Trennung … ) nie erfahren hat. Marcel Reich-Ranicki fand den Roman „sehr eklig“ und „literarisch wertlos“. Wer mag dem letzten Großkritiker seiner Zunft da widersprechen.