Schlafmodus

Ende April ist Schluss mit Corona. Viele werden sich weiter mit Post-Covid-Symptomen herumschlagen müssen, die psychosozialen Folgen für Kinder und Jugendliche lassen sich nicht annähernd abschätzen, es wird weitere Neu-Infektionen geben, aber die Corona-Warn-App wird abgeschaltet. Hat dieses Tool je richtig funktioniert? Plötzlich wurde eine Begegnung mit erhöhtem Risiko angezeigt, und dann begannen die Fragen und Zweifel. Sei’s drum, die Pandemie ist vorbei, das Leben geht weiter wie vor vier Jahren. In der Corona-Zeit traten die Mängel unseres (marktwirtschaftlich organisierten) Gesundheitssystem deutlich zu Tage. Es fehlt an Personal, die Fallpauschalen setzen falsche Anreize, die Produktion vieler Arzneimittel und Vorprodukte in Asien birgt immense Risiken. Derzeit fehlen über 400 Medikamente in Deutschland, etwa Systral, das ich nach einem Mückenstich in einer Apotheke besorgen wollte. Deutlich schlimmer: Fiebersaft für Kinder war nicht zu bekommen. Dass es in absehbarer Zeit auch keine wirksamen Antibiotika mehr geben wird, passt ins Bild; die Entwicklung dieser Medikamente rechnet sich nicht für die Pharmaindustrie. 

Das Gesundheitssystem gehört wie Wohnen und Bildung oder der öffentliche Nah- und Fernverkehr zur Daseinsvorsorge des Staates. Wie sehr es bei der Deutschen Bahn hapert, haben die meisten schon einmal erlebt und können ein paar Dönkes oder ungeheuerliche Geschichten erzählen. Täglich transportiert der Staatskonzern 10,2 Millionen Fahrgäste. Nicht auszudenken, was passieren wird, wenn die Bahngewerkschaft EVG ihre Drohung wahr macht und zu wochenlangen (!) Streiks ihrer Mitglieder oder einzelner Berufsgruppen aufruft. Das Chaos wäre total! Den alltäglichen Wahnsinn eines heruntergekommenen Verkehrssystems schilderte kürzlich in der Süddeutschen Zeitung Holger Gerts und nennt auch Ross und Reiter für die Misere, die uns noch Jahrzehnte begleiten wird: „Und wesentlich verantwortlich für den Zustand der Bahn sind die Bundesverkehrsminister – in den für die Verkehrswende wegweisenden Jahren 2009 bis 2021 waren das, in der Reihenfolge ihres Auftretens, Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt, sehr kurz Christian Schmidt, Andreas Scheuer. Alle von der CSU, alle aus Bayern, es sind alle sehr selbstbewusste, für Kritik kaum empfängliche Super-Egos, wie sie die CSU seit Jahren und Jahrzehnten in beachtlicher Schlagzahl respektive Taktung hervorbringt.“ (21.04.23) 

Vor gewaltigen Herausforderungen steht gleichfalls der neue Regierende Bürgermeister Kai Wegner in Berlin, der erst im dritten Wahlgang in sein neues Amt gewählt wurde. Dass die Koalition der CDU mit der SPD nicht alle Sozialdemokraten begeistert, ist bekannt; aber am Ende hat es für „Kais missglückte Krönung“ (Tagesspiegel) gereicht – 86 Abgeordnete stimmten für ihn, genauso viele Stimmen haben die beiden Parteien zusammen. Natürlich schüttete die AfD wieder einmal Öl ins Feuer und behauptete, nur mit einigen ihrer Stimmen sei Wegner gewählt worden. Klären lassen wird sich das nie, der Schaden für CDU und SPD ist groß, bissige Kommentare ließen nicht auf sich warten. „Die Premiere der neuen Hauptstadtregierung missrät zum Schmierenstück. Beschädigt sind nun schon vor dem Start beide Koalitionäre.“ (Stuttgarter Zeitung, 28.04.23) ) Kai Wegner und Franziska Giffey, die neue Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe, werden nicht einen Tag Schonfrist bekommen. Glück auf! 

Frühlingserwachen

Ideale Projektionsfläche: der Raum mit den Sonnenblumen in der Ausstellung „Van Gogh Alive“ ist selten leer. © Rolf Hiller

Allein im Museum? Nicht wenn „Van Gogh Alive“ zu erleben ist. Weltweit 8,5 Millionen Menschen sollen die Ausstellung gesehen haben, die clever gemacht ist. An einem Dienstagvormittag ist die Show unweit der Müllverbrennungsanlage im Frankfurter Westen schon gut besucht. Die meisten Besucher:innen verweilen im größten Raum, sitzen auf dem Boden oder haben es sich auf Sitzsäcken bequem gemacht und sind mittendrin im Flow der Bilder, die mehrere Projektoren an die Wände und auf den Boden werfen. Die Situation ist sehr entspannt und lässig, ganz anders als in einem „richtigen“ Museum. Do what you like. Manche versinken in der Bilderflut oder lesen die kurzen erklärenden Texte. Ein Junge ist auf seinem Handy im Krieg, ein anderer kaum in der Lage, ein paar Sekunden ruhig zu liegen. Zumindest haben auch die beiden schon einmal von Vincent van Gogh (1853 – 1890) gehört, der heute ein Popstar wäre, zu Lebzeiten aber kaum ein Bild verkaufen konnte, immer wieder tiefste Krisen durchlitt und sich schließlich auf einem seiner geliebten Felder umbrachte.

Natürlich gehört zu Van Gogh Alive ein Raum mit Sonnenblumen und Spiegeln für Fotos & Selfies, im „Drawing Room“ sind an diesem Morgen alle Plätze besetzt; die Ausstellung wurde gerade verlängert. „Ich kann die Tatsache nicht ändern, dass sich meine Bilder nicht verkaufen. Aber die Zeit wird kommen, in der die Menschen erkennen werden, dass sie mehr wert sind als das Geld für die Farbe, die ich darin verwendet habe.“ Dass sein Bild „Verger avec cyprès“ 2022 für 117,2 Millionen Dollar verkauft wurde, hätte Vincent van Gogh nicht zu träumen gewagt. Der große Durchbruch blieb auch dem Pianisten Ahmad Jamal verwehrt, der am Sonntag gestorben ist und bis ins hohe Alter noch unterwegs war; leider habe ich ihn auf seiner letzten Tour in Deutschland verpasst. Ich höre mir sein Debütalbum „Ahmad Jamal Plays“ aus dem Jahr 1955 an, das irgendwelche Marketingstrategen hochtrabend in „Chamber Music of the New Jazz“ umbenannt haben, sicherlich nicht im Sinne des Künstlers.

Die letzten beiden Wochenenden im April werden bestimmt nicht im Zeichen eines unbeschwerten Frühlingserwachens stehen. Wieder gestreikt wird bei der Deutschen Bahn und an einigen Flughäfen; zudem hat die sog. Letzte Generation Aktionen in Berlin angekündigt, um auf die drohende Klimakatastrophe hinzuweisen, die zwei der drei Parteien der aktuellen Bundesregierung nicht sonderlich beunruhigt. Ob die spektakulären Proteste eher kontraproduktiv sind, wird sich weisen. Der gesunde Menschenverstand müsste auf der Seite der Letzten Generation stehen. Jede:r weiß, dass die Erderwärmung längst schon bei uns angekommen ist. Heute etwa kommentiert die FAZ: „Der Klimawandel verändert das Leben auch in Europa, auch schon jetzt und auch schneller als befürchtet. Noch vor wenigen Jahren hätte wohl niemand damit gerechnet, dass auch hierzulande einmal das Wasser knapp werden könnte. (…) Bäume statt Asphalt ist die Devise der Zeit, sonst wird das Wasser knapp.“ (21.04.23)  Wer wollte da widersprechen?

Compression

So kommen Autos aus der hydraulischen Presse: Skulptur von César im Centre Georges Pompidou. © Karl Grünkopf

Heute Morgen wurde im Radio ein Stück von Michel Petrucciani gespielt, der nur 36 Jahre alt wurde. Der Jazzpianist hatte die Glasknochenkrankheit, war nur einen Meter groß und zählt trotzdem auf seinem Instrument zu den besten Musikern seiner Generation. Zufällig kommen wir auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris an seinem Grab vorbei. Er liegt ganz in der Nähe von Frédéric Chopin, vor dessen Ruhestätte viele frische Blumen stehen. Der riesige Friedhof scheint selber zu sterben; sehr viele Grabstätten sind in einem schlechten Zustand, modern vor sich hin. Ein düsterer Ort zum Innehalten. In Gedanken ziehen noch einmal die Tage voller Eindrücke & Erlebnisse vorbei, die wir mit ziemlich besten Freunden über Ostern in Paris verbrachten. Das Fest ist in Frankreich nicht so kommerzialisiert wie in Deutschland – zum Glück.

Samedi geht’s gleich ins Centre Georges Pompidou, das die Berliner Bausenatorin in spe, Franziska Giffey, ungemein inspirierte – aus dem brach liegenden Internationalen Congress Centrum (ICC) könne man doch ein Kulturzentrum nach dem Pariser Vorbild machen. Oha! Aus dem gestrandeten Raumschiff im Berliner Westen, das sich hermetisch gegen seine Umgebung verschließt, wird nie und nimmer ein Ort der Kultur und Begegnung. Wir schauen uns die Kunst der Moderne an. Ganz besonders beeindruckt mich die Arbeit „Compression“ aus dem Jahr 1960 von César Baldaccini, der Autos zu einem kompakten Quader pressen ließ. Er sieht sich in der Tradition von Duchamp, Gesellschaftskritik war seine Sache nicht. Trotzdem gemahnt „Compression“ an unsere Müllberge, die letztlich irgendwo im Globalen Süden landen.

Heutzutage würde César sicher E-Roller in die Schrottpresse schmeißen, die ab Herbst in Paris übrigens verboten sind. Erstaunlich. Nur 7 Prozent haben sich an der Abstimmung beteiligt; davon waren 89% gegen die Roller. Sonderlich gestört haben mich die Dinger nicht. Auffällig hingegen, wie viele Fahrräder inzwischen in der Stadt unterwegs sind. War’s der Muskelkater vom Hüpfen in der Yogastunde oder der Respekt vor Treppen mit großem Gepäck: Noch nie ist mir aufgefallen, wie wenig Rolltreppen oder Fahrstühle es in der Metro im Vergleich zu deutschen U-Bahnen gibt. Komfort kostet Energie, und da ticken Frankreich und Deutschland anders. In der Bundesrepublik werden die letzten drei Atomkraftwerke morgen endgültig heruntergefahren, die Grande Nation verfügt über 56 Meiler, die derzeit aber nicht alle am Netz sind. Auch in Osteuropa werden munter weitere Atomkraftwerke geplant. Die Uranbrennstäbe kauft man bei den Russen, allen Boykott-Beteuerungen zum Trotz. 30.000 Generationen müssen sich Umweltministerin Steffi Lemke zu Folge mit unserem Atommüll herumschlagen. Export ausgeschlossen!

The Charm of Spring

Eine Gruppe Ovaherero-Frauen wird im Lars Kraumes Film „Der Vermessene Mensch“ von der „Deutschen Schutztruppe“ in die Wüste getrieben ©️ Studiocanal GmbH / Willem Vrey

Im letzten Jahrtausend bekam ich zu Weihnachten das Verve Jazz Book geschenkt; zehn Schallplatten mit zwanzig Künstler:innen, wie man heute sagt. Den Auftakt macht Ella Fitzgerald. Wie oft habe ich „April in Paris“ mit dem Count Basie Orchestra gehört, natürlich immer die gleiche Aufnahme. Bei Apple Music bekomme ich den Song in 87 Versionen. Nichts gegen die smarte, digitale Welt. Ich habe mir in diesem Tool ein eigenes ‚Radio‘ eingerichtet – und entdecke immer wieder tolle Musiker:innen, von denen ich noch niemals gehört habe. Als Einstimmung auf unsere Reise wollte ich nur „April in Paris“ hören, aber 87 Interpretationen waren natürlich im Home Office nicht zu schaffen. Nun sitzen wir in der Maschine nach Orly, und ich schreibe meinen Blog, den ich vor bald fünf Jahren täglich auf unserer „American Journey“ begonnen habe.

Der Blog ist für mich immer auch ein Moment des Innehaltens. Was habe ich in der letzten Woche gemacht, was erlebt, wo bin ich gewesen? Nicht vergessen werde ich den Film „Der Vermessene Mensch“ von Lars Kraume, sicher dagegen den großen Oscar-Gewinner 2023 „Everything Everywhere All at Once“, den es schon bei Amazon Prime für ein paar Euro gibt. Grandios gemacht & gefilmt die Reisen durch Multiversen, aber nicht meine Welt. Kraume hingegen beschäftigt sich mit dem deutschen Kolonialismus, mit den Verbrechen an den Herero im südlichen Afrika. Die „wissenschaftliche“ Legitimation sollten Anthropologen und Ethnologen schaffen und mit Darwin als Kronzeugen die Überlegenheit der weißen Rasse „beweisen“. Der Regisseur erzählt schlüssig und spannend von diesem beschämenden Kapitel der deutschen Geschichte, von der noch immer viele erbeutete Schädel in deutschen Museen künden. Eine Entschädigung haben die verbliebenen Herero von der Bundesrepublik Deutschland bis heute nicht erhalten. Eine Schande!

Wir befinden uns schon im Anflug auf Paris, wo wir mit ziemlich besten Freunden über Ostern wieder ein paar Tage verbringen, wie im Herbst 2018. Die Maschine ist gut gefüllt, niemand trägt eine Maske, der Krieg in der Ukraine ist noch weiter weg als in Berlin. Jede:r wird mit diesem Flug 548 kg CO₂ verbraucht haben, jede:r könnte wissen, dass ein Äthiopier pro Jahr nur 560 kg CO₂ emittiert und somit deutlich unter dem Wert der Klimaneutralität liegt. Wir alle wissen, was zu tun ist – hier und jetzt. Laut aktuellem ARD-Deutschlandtrend sind inzwischen 44% der Deutschen mit der Klimapolitik der Bundesregierung unzufrieden. Das sollte besonders den Grünen zu denken geben. Die Zeit der schlechten Kompromisse in der sog. Zukunftskoalition muss ein Ende haben. In unserem Hotel, einer Oase nahe dem Quartier Latin, hören wir natürlich „April in Paris“. Wir freuen uns auf den Frühling an der Seine. Ein Leben ohne Widersprüche ist nicht zu haben.