Verlassen

Großer Auftritt im Großen Saal der Alten Oper Frankfurt: Dianne Reeves mit der hr-Bigband unter der Leitung von John Beasley. © Alte Oper Frankfurt/Wonge Bergmann

Auf den Fahrplan der Deutschen Bahn kann man schon lange nicht mehr vertrauen; selbst die unerlässliche App hinkt den Ereignissen inzwischen oft hinterher. Dass gebuchte Züge dort nicht mehr zu finden sind, ist spooky – oder einfach nur schlechter Service. Da wird der Abfahrtsbahnhof stillschweigend geändert, da sind Sitzplatzreservierungen deshalb nicht möglich, weil der Halt entfällt. Dass hinter dem Angebot der DB eine gewaltige Logistik steht, dass die zahlreichen und bitter nötigen Sanierungen die Planungen noch weiter erschweren, verstehen die geduldigen Kunden. Dass die Kommunikation nicht klappt, ist indes nicht zu entschuldigen. Muss der Kunde prüfen, ob sich der Abfahrtsbahnhof geändert hat, muss der Kunde checken, dass der falsche Zug einfährt, ohne Ansage. Nicht minder ärgerlich, wenn die Abfahrt eines Zuges kommuniziert wird, der noch nicht einmal eingefahren ist. Wahrscheinlich gibt’s dafür noch schöne Boni vom maroden Staatskonzern.  

Verlass ist dagegen auf die Sängerin Dianne Reeves, die mit der hr-Bigband in der Alten Oper Frankfurt einen großen Auftritt hatte. Das von FRIZZ Das Magazin präsentierte Konzert im Großen Saal ist ausverkauft. Am Ende gibt es standing ovations für die Grande Dame des Jazz, die auf eine eindrucksvolle Karriere zurückblicken kann, und die Band unter der Leitung von John Beasley. Er schreibt raffinierte Arrangements, und die glänzend besetzte Band findet sofort zu Dianne Reeves, als würden sie häufig zusammen auf der Bühne stehen. Sie ist eine Entertainerin im besten Sinne des Wortes, hat den Abend im Griff und es überhaupt nicht nötig, sich in den Vordergrund zu spielen. Wer nicht dabei war, hat etwas verpasst, muss sich aber nicht grämen – bei ARTE Concert kann man diesen Abend in der Alten Oper Frankfurt noch einmal erleben (bis zum 22.07.24). 

Auszeiten wie diese sind wichtiger denn je. Man kann nicht permanent die News verfolgen. Wenn das Handy bei einem Konzert auf Flugmodus ist, erreichen uns die Eilmeldungen eben etwas später. Ihre Solidarität mit der Ukraine bekunden die herrlich schrägen Tiger Lillies im Berliner Tipi ohne große Worte; sinnigerweise heißt das aktuelle Programm des unverwechselbaren Trios “Lessons in Nihilism”. Über dem Flügel liegt die Fahne des geschundenen Landes, das endlich (!) weiter von Amerika unterstützt wird. In der Pause schauen wir doch schnell auf das Smartphone und bekommen die Eilmeldung, dass der Kongress Mittel in Milliardenhöhe für die Ukraine frei gegeben hat. Ohne diese Unterstützung wäre eine Niederlage nicht abzuwenden gewesen. Europa allein ist dazu nicht in der Lage, mit großen Worten – etwa denen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron – kann ein Land einen Angriff nicht abwehren. Der Speaker des Repräsentantenhauses, der erzkonservative Republikaner Mike Johnson, begründete seinen Einsatz für die Ukraine mit den Worten, er wolle nicht auf der falschen Seite der Geschichte stehen. Würden sich doch mehr Menschen diese Maxime zu eigen machen! 

Die Koralle lacht nicht mehr

Nicht bloß die Korallenriffe am Great Barrier sind in ihrer Existenz bedroht. © Agnieszka auf Pixabay

Per Rad & S-Bahn fahren wir zum Potsdam Museum, um den Maler Karl Hagemeister (1848 – 1933) zu entdecken. In einer kleinen, feinen Ausstellung, die sich an den vier Jahreszeiten orientiert, werden einige klug ausgewählte Bilder gezeigt. Gemeinhin rechnet man Hagemeister dem deutschen Impressionismus zu, aber einige Arbeiten weisen schon darüber hinaus. Das verdankt sich seinen kräftigen, wilden Pinselstrichen, doch nutzte er nicht nur konventionelle Utensilien. “Hagemeister malte mit breiten Pinseln, aber hauptsächlich mit Hasenpfoten, die ihm ja sein Leben lang die Jagd immer beschert hatte”, schrieb Heinrich Basedow d.J. 1974. Er ging nicht in die Natur, Hagemeister war Natur. “Er kam nicht wie viele seiner Künstlerkollegen aus der Stadt in die Natur, sondern er lebte in und von der Natur.” (Wikipedia) In den späten Jahren hatte der Mitgründer der Berliner Secession endlich Erfolg mit seinen Bildern. In der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg verlor er sein ganzes Vermögen. Hagemeister starb in Werder im Havelland, wo er fast sein ganzes Leben verbracht hatte. 

Karl Hagemeister „Wellen im Sturm“ (1915)

Heute würde der Naturmensch vielleicht mit den Grünen sympathisieren und wäre schockiert, welche Schäden die rücksichtslose Ausbeutung der Natur inzwischen angerichtet hat. Über die größte Korallenbleiche aller Zeiten am Great Barrier Reef in Australien berichten die Medien. Der Grund ist uns allen bekannt: die inzwischen irreversible Erwärmung der Ozeane. Darauf weist etwa der Kieler Klimaforscher Mojib Latif immer und immer wieder hin. Für einen Tag ist er in den News, und am nächsten Tag schlagen wir seine Prognosen wieder in den Wind. Um so verwunderlicher, dass die Grünen sich auf den schlechten Deal eingelassen haben, dass nicht mehr jedes einzelne Ressort für die Einhaltung der vereinbarten Klimaziele verantwortlich ist, sondern ressortübergreifend das Gesamtziel erreicht werden muss. Nun sind die angedrohten Fahrverbote vom Tisch, und der Juniorpartner FDP lacht sich wieder mal ins Fäustchen.  

Vor der Bundestagswahl 2025 und den Wahlen in diesem Jahr (Europawahl, Landtagswahlen) bringen sich die Parteien und ihr Spitzenpersonal in Stellung, wie der Reutlinger Generalanzeiger beobachtet. “Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat versucht, sich in Szene zu setzen. Sie flog nach Israel, um die Regierung Netanjahu von einer militärischen Reaktion abzuhalten. (…) Baerbock hat die große Bühne gesucht, weil es ihr noch um etwas anderes geht. Um das eigene Profil und um die Spitzenposition bei den Grünen vor der nächsten Wahl. Doch das ging daneben. Ihr wurde nur ihr geringer Einfluss vor Augen geführt.“ (18.04.24) Sollte die Strategin der eigenen Karriere Erfolg haben, wäre das ein Grund mehr, 2025 nicht grün zu wählen. Die multiplen Krisen müssten den wackeren Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier eigentlich zu einer Ruckrede animieren. Stattdessen versammelt der frisch gebackene Suhrkamp-Autor in seinem Buch “Wir” nur Gemeinplätze wie “Eine Demokratie kann ohne den Rechtsstaat nicht bestehen.” Gottfried Benn soll einmal gesagt haben: “Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.”  

Recht aufs Leben

Mit ihrem Debüt „Morgen ist auch noch ein Tag“ ist der italienischen Regisseurin Paola Cortellesi ein Meisterwerk gelungen. © TOBIS Film

Vor den Kinos trennen sich die Welten. Die Mädels mit den meterhohen Popcorn-Eimern strömen in den Fantasyfilm “Chantal im Märchenland”, der die Kinocharts derzeit anführt. Wir interessieren uns für “Morgen ist auch noch ein Tag”. Eine Nachbarin uff de Gass’ hatte mich auf diesen Schwarzweiß-Film einer mir völlig unbekannten italienischen Regisseurin hingewiesen, der in ihrem Heimatland im letzten Jahr mit fünf Millionen Besuchern mehr Publikum als Barbie verzeichnete. Ein hochinteressantes Interview im Tagesspiegel steigert noch meine Neugier – und unsere Erwartungen werden nicht enttäuscht. Im Gegenteil, Paola Cortellesi legt mit ihrem Debüt ein Meisterwerk vor, das mit Klassikern wie “Fahrraddiebe” und “La Strada” im gleichen Atemzug genannt werden muss. Erzählt wird die Geschichte einer Frau – grandios gespielt von der Regisseurin selbst – in der Nachkriegszeit. Ihr Mann demütigt, erniedrigt und prügelt sie; ihr Leben mit drei Kindern, einem despotischen Schwiegervater und miesen Hilfsjobs ist deprimierend. Trotzdem verliert Della nie den Lebensmut, kleine Fluchten wären möglich und scheitern doch, aber am Ende gelingt ihr der Triumph einer Selbstermächtigung. Das ist ganz großes Kino, herzzerreißend und herzerwärmend. 

Könnte man die Choreografien von William Forsythe, dessen große Karriere in den 70er und 80er Jahren in Frankfurt begann, in diesen Zusammenhang stellen? Sein Ziel war es, das Ballett aus den Zwängen der Konvention zu befreien und eine neue Sprache des Tanzes zu entwickeln. Mit dem Staatsballett Berlin hat er einige Arbeiten neu einstudiert – Standing Ovations bei den durchweg ausverkauften Vorstellungen in der Deutschen Oper Berlin. “Die Komplexität der Choreografien, die sich in irrsinnigen Geschwindigkeiten samt atemberaubender Tempowechsel auf der Bühne abspielen, kann man kaum im Detail erfassen, geschweige denn mit Worten beschreiben”, brachte es Elisabeth Nehring trefflich im Tagesspiegel auf den Begriff (19.02.24) Besser als der Gesangspop von James Blake passen zu diesen neuen Tanzwelten indes die elektronischen Klänge von Thom Willems, mit dem Forsythe seit Jahrzehnten schon kooperiert. 

Zumindest einen wichtigen Etappensieg konnten die Klima-Seniorinnen aus der Schweiz in dieser Woche vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verbuchen. Ihr Heimatland wurde wegen mangelnder Initiative im Kampf gegen den Klimawandel verurteilt. Diese ganz wichtige Entscheidung wird Konsequenzen haben, auch in unserem Autoland. Nun droht der Verkehrsminister und oberste Lobbyist der deutschen Autoindustrie Volker Wissing mit einem Fahrverbot und sagt Versorgungsprobleme voraus, sollte sein Ressort gezwungen werden, jährlich 22 Mio Tonnen CO2 einzusparen. Wieder wischt der FDP-Mann ein moderates Tempolimit vom Tisch und zeigt einmal mehr, wie ernst es seiner Partei mit dem Kampf gegen den Klimawandel ist. Nach wie vor gibt es die Pendlerpauschale, werden Diesel und Dienstwagen subventioniert und die Autos hierzulande immer wuchtiger. Aus der selbst ernannten Zukunfts- ist längst eine Zoffkoalition geworden. Auch daran haben wir uns schon gewöhnt. 

Nichts bleibt, wie es ist

Die letzte Printausgabe, die an einem Sonntag erschien.

Nun sind die Zeiten vorbei, als sonntags noch eine Zeitung im Briefkasten steckte. Jetzt musste auch der Berliner Tagesspiegel seine Sonntagsausgabe einstellen – die Zustellung nur eines Blattes durch einen Träger ist selbst in der Großstadt nicht mehr kostendeckend. Damit vollzieht der Verlag eine Wende, die andere Häuser schon hinter sich haben. Die Sonntagszeitungen werden schon am Samstag zugestellt und sind im Handel noch die ganze Woche im Angebot. Längst setzen viele Verlage auf digitale Abos, die mittlerweile 50 % der verbreiteten Auflage darstellen. Ein Blick auf die Zahlen bei der IVW (Interessengemeinschaft zur Verbreitung von Werbeträger e.V.) ist sehr aufschlussreich. Der Tagesspiegel (Mo – So) in Berlin meldet eine Druckauflage von knapp 69.000 Exemplaren. Die meisten davon sind Abos, im Handel werden 5.000 abgesetzt, bei einer Remission von 10.000 Exemplaren. Mit dem digitalen Abo – es macht schon über 50% der Verbreitung aus – kommt das selbst erklärte “Leitmedium aus der Hauptstadt auf eine Verbreitung von knapp 110.000 pro Ausgabe.

Natürlich hat ein digitales Abo viele Vorteile. Es wird Energie und Papier gespart, obwohl die schöne, neue Welt keineswegs ohne Strom funktioniert. Mit 10% des weltweiten Stromverbrauchs ist laut statista die CO2-Emission des Internets inzwischen fast so hoch wie die von Japan; das Netz liegt im weltweiten Ranking auf Platz 6. Ganz vorne mit dabei die Tech-Giganten aus dem Silicon Valley, etwa Facebook, wo sich die jungen Leute schon längst nicht mehr treffen. Dort führt ein Freund, der vor über sechs Jahren gestorben ist, weiter eine digitale Existenz. Bereits vor fünf Jahren habe ich auf seiner Seite darauf hingewiesen, dass Sebastian gestorben ist. Das ficht seine sog. Freunde nicht an, die ihn diese Woche wieder zum Geburtstag gratulieren. Dass er seit Jahren nicht mehr antworten kann, scheint niemandem aufzufallen. Da nur Verwandte das Recht haben, die Löschung einer Seite zu veranlassen, wird das wohl Jahr für Jahr so weitergehen. 

Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier, und längst haben wir uns an die bedrückenden Meldungen aus dem Gazastreifen oder aus der Ukraine irgendwie gewöhnt. Nicht minder stoisch nehmen wir die Nachrichten über die Erderwärmung zur Kenntnis, als ginge uns das irgendwie nichts an. Nach dem wärmsten Februar seit Beginn der Wetteraufzeichnungen folgte der wärmste März. Das Plus liegt je nach der Bezugsgröße bei 2,9 bzw, 4 Grad über dem Vergleichszeitraum, und wir leben unbekümmert so weiter wie bisher. Die Touristiker freuen sich, und der oberste Lobbyist der deutschen Automobilindustrie sitzt in der Regierung. Volker Wissing (FDP) behauptet, ein Tempolimit, das ohne nennenswerte Einschränkungen jährlich 600 Millionen Liter Kraftstoff sparen würde, sei hierzulande nicht durchzusetzen, obwohl inzwischen die Mehrheit der Deutschen inzwischen dafür ist. “Gib Gas, ich will Spaß” trällerte Markus 1983. Lustig war das schon damals nicht,