Krzyżowa

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Höchst intensive Generalprobe von Olivier Messiaens „Quatuor pour la fin du temps“ bei Krzyżowa Music 2019.

Hinter der polnischen Grenze beginnt wieder die knapp 70 km lange Ruckelpiste, wie vor drei Jahren, als wir zum ersten Mal zu Krzyżowa Music fuhren. Auch Google Maps hatte uns diese Strecke vorgeschlagen, und wir machen natürlich immer, was Google Maps vorschlägt, und nehmen stillschweigend-resigniert in Kauf, dass unsere Daten vertickt werden. Das System leitet uns zuverlässig & pünktlich nach Świdnica, wo uns die Freunde bereits erwarten. Wir wohnen in einem sehr schönen, alten Gästehaus in Blickweite zur berühmten Friedenskirche. Unter strikten Auflagen durften schlesische Protestanten nach dem Westfälischen Frieden dieses Fachwerkgebäude im damaligen Schweidnitz errichten. Innerhalb eines Jahres musste die Kirche für immerhin siebentausend Menschen fertiggestellt werden – unvorstellbar für Berliner Besucher aus der Jetztzeit!

Zur Einstimmung auf unsere Reise habe ich Freya von Moltkes „Erinnerungen an Kreisau. 1930 – 1945“ gelesen. Die Frau von Helmuth James Graf von Moltke schildert das wechselvolle Leben der Familie in Zeiten, die man wohl nur mit „Verhaltenslehren der Kälte“ (so der Titel des berühmten Buches von Helmut Lethen) bewältigen kann. Zwei Tage nach der Ermordung ihres Mannes, der eine prominente Rolle im konservativen Widerstand gegen die Hitler-Diktatur spielte (Kreisauer Kreis), ist Freya von Moltke schon wieder „ganz heiter“ auf der Heimreise von Berlin. Nach einem russischen Bombenangriff beobachtet sie mit Stahlgewitter-Augen ein Opfer: „Schön und voller Weisheit wirkte das sterbende Kind: es röchelte, die Mutter weinte, der Pfarrer tröstete.“ Nachdenklich unterbreche ich die Lektüre, die einmal mehr belegt, dass wir wurden, die wir sind.

Aus dem Moltke-Schloss in Kreisau wurde 1998 eine Internationale Jugendbegegnungsstätte, und es lag eigentlich nahe, an diesem Ort ein Festival für junge Musiker zu gründen. Viviane Hagner, die Geigerin, und Matthias von Hülsen, der passionierte Organisator, hatten diese großartige Idee. Heuer feierte Krzyżowa Music schon den fünften Geburtstag, und der Zauber dieses ganz besonderen Festivals nimmt die Besucher*innen noch immer gleich gefangen. Wir können nämlich junge Musiker aus aller Welt nicht nur in Konzerten erleben, sondern in den Proben verfolgen, wie sie ein Werk zusammen erarbeiten, wie sie ihre Interpretation suchen. Gebannt hören wir die Generalprobe von Olivier Messiaens „Quatuor pour la fin du temps“, das er als deutscher Kriegsgefangener 1941 in Görlitz vollendete. Die physische und emotionale Anspannung der jungen Musiker*innen ist enorm – nach dem Werk ringen die Geigerin Miriam Helms Ålien, Pablo Barragán (Klarinette), Alexey Stadler (Violoncello) und Yannick Rafalimanana am Klavier förmlich nach Luft und Fassung; wir sind ebenso tief getroffen. „Kreisau“, erzählt Matthias von Hülsen in einem Interview (FR, 15.08.19), „ist kein Ort, an dem Sie im Elfenbeinturm musizieren können. Dazu ist seine historische Bedeutung und Ausstrahlung viel zu gewichtig.“ Übermorgen jährt sich der deutsche Überfall auf Polen zum achtzigsten Mal. Die Wehrmacht verwüstete Städte und Dörfer und ermordete 6 Millionen Menschen. Zu Recht werden wieder Forderungen nach Reparationen laut, deren moralische Berechtigung wohl niemand bestreiten kann. Auch darum ist Krzyżowa Music so wichtig. Dziękuję!

Auf dem Lande

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Die weltbesten Pflaumen sind geerntet und lagern nun im Kühlschrank. Foto: Rolf Hiller

Pflaumenzeit. Natürlich sind unsere die besten der Welt, und wir fahren frohgemut zur Ernte ins Naturschutzgebiet Nuthe-Nieplitz, unweit von Beelitz. Wir haben einen Baum auf einer Streuobstwiese gepachtet, mit der einst ein Golfplatz verhindert werden konnte. Die Wiese ist vollkommen verdörrt – nach einem weiteren viel zu trockenen Sommer. Dennoch trägt unser Baum reichlich Früchte, und mit acht Händen füllen wir geschwind unsere Kisten; am Ende haben wir knapp 50 kg geerntet und eine Belohung verdient. In früheren Jahren kehrten wir immer in der „Landlust“ in Körzin ein, doch heuer ist alles anders. Das gute Restaurant existiert noch immer, aber die Betreiber mussten ihr Konzept ändern: kein Personal mehr nirgends. Die Inhaber machen notgedrungen alleine weiter. Sie kocht, er macht den Service, es gibt nur zwölf Plätze und ein Menü auf Bestellung. Zumindest hat die „Landlust“ (noch) nicht dicht gemacht wie die vielen Gasthöfe etwa im Odenwald.

LEID UND HERRLICHKEIT
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Der Regisseur Salvador Mallo (Antonio Banderas) entdeckt per Zufall ein Porträt von sich selbst. © CONSTANTIN FILM

Tags darauf gehen wir endlich, endlich mal wieder ins Kino. Leid und Herrlichkeit, der neue Meisterfilm des Spaniers Pedro Almodóvar muss es sein. Diese autofiktionale Reflexion einer künstlerischen Schaffenskrise führt einen Regisseur auch zurück in seine Kindheit auf dem Lande, wo er mit seinen Eltern in einer Höhle leben musste. Von der Mutter geliebt & gefördert, findet er seinen Weg und wird ein erfolgreicher Filmemacher. Mit leichter Hand erzählt Almodóvar, und wir verfolgen gebannt, wie ein Künstler aus zufälligen Erinnerungen & Wiederbegegnungen die Geschichte seines Lebens wieder entdeckt. „Leid und Herrlichkeit“ zählt zu den großartigen Kino-Erlebnissen dieses Jahres, ein Film, den wir gerne auf der Berlinale gesehen hätten. Die internationale Premiere war natürlich wieder in Cannes.

Im „Orfeo“, meinem Frankfurter Kino umme Ecke, freue ich mich sehr über den Trailer zu „Leid und Herrlichkeit“. Ich schaue einen Dokumentarfilm an: Raumstadt Nordweststadt. Von der Vision zur Wirklichkeit . Enno Echt & Hagen Gottschalck stellen einen Stadtteil von Frankfurt vor, der vor gut 50 Jahren auf Ackerland entstand – und dessen Konzeption noch heute überzeugt und funktioniert. Denn die Planer gingen vom Menschen aus, wollten ein Miteinander ermöglichen; die Wege der Fußgänger und Autos wurden entflochten.  Die sog. Nordi ist inzwischen zu einem Stadtviertel mit vielen Bäumen & Wiesen geworden, die Bewohner lieben ihr Quartier, es gibt keine sozialen Spannungen wie in anderen Trabantenstädten, obwohl sich die Bevölkerungsstruktur sehr gewandelt hat. Inzwischen mischen sich ältere, deutsche Bewohner fast zu gleichen Teilen mit Menschen, die einen migrantischen Hintergrund haben. „Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen“, sagt eine junge Frau nach dem Film, „aber ich habe mich noch nie so wohl gefühlt wie in der Nordi.“ Ob es im Jahr 2070 solch ein Kompliment für die Planer der Tristesse im Europaviertel oder auf dem Riedberg geben wird? Ich halte dagegen!

Deutschlandreise

Der ICE  ist rappelvoll. Die Freunde von der Deutschen Bahn fahren ohne Vorwarnung mit einem Wagen weniger, und es gibt das übliche Geschiebe & Gedränge. Am Hamburger Hauptbahnhof ist der Teufel los, und wir sind froh, als wir bei Neumann‘s in der Langen Reihe sitzen. Wetter & Passanten wechseln rasch, aber ein Umzug erweckt unsere Aufmerksamkeit. Angeführt von einem älteren Mitarbeiter des Straßenamtes mit einem rot-weißen Wimpel passiert ein seltsamer Zug die Kreuzung. Halbnackte Ledermänner mit Piercings und Tiermasken ziehen übermütig bellend um die Häuser, derweil wir über den Verlust der Intimität nachdenken. Neulich, berichtet uns der Freund,  habe er Herr und Sklave mit Hundemaske in einer Szene-Location gesehen – der Tiermensch demütig auf allen Vieren angekettet unter dem Tisch. Wie erklärt man solche Szenen einem Kinde?

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Tim Rodig live im Hamburger Stadtpark.

Abends bleiben wir von solchen Irritationen zum Glück verschont. Eine der vielen Cousinen feiert einen sog. Runden Geburtstag im Stadtpark. Wir lieben solche Feste und können gar nicht genug Darbietungen bekommen. Stets noch erfahren wir Neues aus einem Leben, das als Nonne hätte verlaufen können und sich kurz auch mal der Agitation überraschter Hafenarbeiter verschrieben hatte. Einen Coup landete die fidele Jubilarin mit dem kurzfristig abgemachten Gig von Tim Rodig . Womöglich habe ich den Tenorsaxophonisten schon einmal erlebt; er war mit Roger Cicero († 24.03.2016) und Stefan Gwildis on tour. Doch der ist inzwischen in kleiner Besetzung unterwegs, erzählt Tim, eine große Band sei zu teuer. Der Kuchen wird kleiner, auch für so einen souveränen & versierten Saxophonisten, der für uns locker einige Jazz-Standards & Latin-Grooves spielt.

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Nils Wogram, Joe Sachse und Feliks Büttner beim Finale in der Nikolaikirche in Rostock.

Bereits am Donnerstag bin ich wieder in Hamburg und will am Tag, da sich Woodstock zum 50. Mal jährt, entspannt umsteigen und nach Rostock fahren. Zeit genug habe ich eingeplant. Dass wir mit 130 Minuten Verspätung ankommen würden, hatte ich indes nicht erwartet. Also mit fliegenden Schößen per Taxi zur Nikolaikirche, wo ich tatsächlich noch vor einem denkwürdigen Konzert eintreffe. Der Gitarrist Joe Sachse hatte mich eingeladen und begrüßt mich freudig per Handschlag. Er wird an diesem Abend wieder mit dem großartigen Posaunisten Nils Wogram ein Duo-Konzert geben. Die sehr gut besuchte Kirche bietet für ihre Dialoge einen passenden Rahmen – mal übernimmt der eine, mal der andere die Initiative. Da verstehen sich zwei Musiker intuitiv, und ganz besonders horche ich auf, wenn Sachse die Gitarre in seiner unnachahmlichen Art expressiv und perkussiv spielt. „Helmut ‚Joe‘ Sachse“, lesen wir auf seiner Homepage. „verdankt seinen Zweitnamen dem legendären Jimi Hendrix.  Und das sicher nicht nur, weil er dessen gleichlautenden Hit gern und oft gespielt hat.“ Weil mir sein Album „If 69 was 96“ (mit Pinguin Moschner!) so gut gefällt, wollte ich den Meister heuer noch im Konzert erleben: und das war aller Mühen wert, zumal ich noch nie gesehen habe, wie während eines Konzerts ein Gemälde entsteht. Kein Problem für den dritten im Bunde: den Maler Feliks Büttner. Thanks Joe!

Grüezi mitenand

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Die Gedenkstelle im Frankfurter Hauptbahnhof für den heimtückisch ermordeten achtjährigen Jungen.

Wieder einmal komme ich am Frankfurter Hauptbahnhof an, aber diese Ankunft ist anders. Zwischen Gleis 8 und Gleis 7 stehen Menschen und blicken still und ratlos auf Blumen, Kerzen, Grüße, Teddys und andere Spielsachen; Security ist in der Nähe. Helfen und verstehen kann keiner. In der letzten Woche wurde ein kleiner Junge vor einen einfahrenden ICE gestoßen und starb. Seine Mutter konnte sich auf einen Weg zwischen den Gleisen retten, eine ältere Dame die unvermittelte Attacke des heimtückischen Täters abwehren. „Mehrmals über den Tag“, notiere ich am 29. Juli in mein Leuchtturm-Notizbuch, „denke ich an die arme Frau. Wie wird, wie kann ihr Leben weitergehen?“ Am nächsten Tag gehe ich noch einmal an die Gedenkstelle; wieder halten Passanten inne, ein Kamerateam befragt eine Frau. Ich sehe mir noch einmal den Gruß der Eritreischen Gemeinde Frankfurt an – und zögere, ob ich mir jetzt ein Eis kaufen darf.

Das Leben geht weiter, immer weiter. Ich kaufe mir eine Kugel bei Häagen Dazs für 3 € und bin plötzlich wieder im Engadin, wo wir mit Freunden einige anregende & unbeschwerte Tage verleben, in einer Idylle, die von unserer Zivilisation immer mehr bedroht wird. Die Gletscher schmelzen, die Pisten werden planiert, auf den herrlichen Wegen müssen die Wanderer vor den Kampf-Bikern auf der Hut sein, Sankt Moritz ist ein teures Pflaster ohne Flair, das sich sog. Normalverdiener schon längst nicht mehr leisten können; viele Anwesen & Wohnungen werden wenig genutzt und stehen meist leer. Wie Mallorca ist das Engadin trotzdem vom Tourismus nicht kaputt zu kriegen – immer wieder sind wir von der atemberaubenden Schönheit dieser Landschaft fasziniert.

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Das Engadin behauptet seine atemberaubende Schönheit gegen die Zivilisation. Foto: Gitti Grünkopf

Mich fasziniert auch das Modell Schweiz, diese erstaunliche Verbindung von Eigensinn und Erfolg. Ganz besonders gefällt uns das Feuerwerk zum Nationalfeiertag am 1. August. Wir steigen auf den Berg und blicken über den beleuchteten See nach Sankt Moritz Bad, wo die Raketen und Leuchtkörper gezündet werden sollen. Hier und da knallt und leuchtet es ein bisschen, aber kurz nach 22 Uhr gehen die Lichter am See schon wieder aus. Das war’s dann auch – poetisch und nicht martialisch wie Silvester in Deutschland. Theodor W. Adorno hätte es bestimmt gefallen. Er soll Feuerwerke geliebt haben und kam sommers immer in die Schweiz. Am 6. August 1969 ist er dort in Visp gestorben – an gebrochenem Herzen, wie immer wieder kolportiert wird. „Nur wenn das, was ist“, resümierte Adorno in seiner „Negativen Dialektik“ ohne Hoffnung, „sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles.“ Uf Wiederluege.

Post an Wagner

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Nach dem Fest die Tristesse: Blick aus dem Hotel auf den Bahnhofsvorplatz von Bayreuth; im Hintergrund der Grüne Hügel.

Um 5.45h klingelt der Wecker: wir fahren nach Bayreuth. Der Zug ist ausgebucht, wir haben keine Reservierung, und „es verkehrt ein Ersatz-ICE“. Oha, diese Fahrt kann wieder lustig werden. Doch wir haben Glück, finden zwei Plätze und reisen entspannt, natürlich mit Maria Ossowski. Die ARD-Kulturkorrespondentin gibt an diesem Morgen im Inforadio Tipps für Bayreuth-Anfänger. Wir waren zwar schon im Festspielhaus, aber bei den Festspielen noch nie und sind natürlich für Hinweise einer Expertin dankbar. Wir wollen die viel beachteten „Meistersinger“ in der Inszenierung von Barrie Kosky erleben, die immerhin sechseinhalb Stunden dauert. Rasch im Hotel eingecheckt, zwei Plätze im Bus zum Grünen Hügel gebucht, dann ist Power-Napping angesagt.

Ohne Kontrollen kommt niemand ins Festspielhaus. Erst müssen wir unseren Perso einer Polizei-Kontrolle vorlegen, dann mit dem Ticket bei jedem Einlass; so will man den Schwarzmarkt ausschalten. Wir besorgen uns noch Sitzkissen und nehmen unsere großartigen Plätze genau in der Mitte im Festspielhaus ein. Das „jüdische, schwule Känguru“ (Kosky über Kosky) hat den ersten Aufzug der „Meistersinger“ in die Villa Wahnfried verlegt und deutet mit dieser spektakulären Eröffnung schon an, was er im Schilde führt: er möchte den „Fall Wagner“ (Nietzsche) neu verhandeln. Die letzten beiden Aufzüge spielen denn auch in der Kulisse des Gerichtssaals der Nürnberger Prozesse – Richard Wagner hätte auch auf der Anklagebank sitzen müssen. Das hervorragende Programmheft zeigt minutiös den fanatischen Antisemitismus und Nationalismus in seinem Werk, kurzum es gibt nicht den großen Künstler und den unerträglichen Hetzer, den guten und den bösen Richard Wagner.

“Mein Leben ist ein Theaterstück, geschrieben von mir“, behauptete er und hat sich stets mit der Figur des Hans Sachs identifiziert. „Ist jemand hier, der Recht mir weiß, der tret‘ als Zeug‘ in diesen Kreis!“ wird vor dem letzten Aufzug auf den Vorhang projiziert. Wir treten nicht in diesen Kreis, sind von der Inszenierung vollkommen überzeugt, nicht aber von der handlungsarmen und schwerfälligen Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“, wiewohl Michael Volle (Hans Sachs) und Klaus Florian Vogt (Walther von Stolzing) zu recht gefeiert werden. Dann wollen wir nur noch raus aus der Schwüle ins Freie und  finden im „Weihenstephan“ draußen zwei Plätze. Wir verlassen das Restaurant gegen Mitternacht, weiter herrscht reges Treiben im Vorgarten. Herrlich international, multikulturell & bunt ist Bayreuth während der Festspiele. Richard Wagner und Adolf Hitler hätte das pure Grauen erfasst. Gut so!