Last Exit

Grandios! Die Band um den Posaunisten Nils Landgren improvisiert zum Film „Seven Chances“. © Alte Oper Frankfurt, Wonge Bergmann, mit freundlicher Genehmigung von Park Circus/Cohen

Guten Abend, ich bin der Nils. So lässig stellt sich einer der bekanntesten Jazzer Europas vor: der Musiker mit dem red horn ist in dieser Saison ‚artist in residence’ in der Alten Oper Frankfurt. Für diesen Abend hat Nils Landgren ein ganz besonderes Programm erdacht. Sein glänzend besetztes Quintett wird zu dem Stummfilm “Seven Chances“ von Buster Keaton improvisieren. Es wird keine Aufnahmen dieses Auftritts geben, eine Wiederholung ist nicht vorgesehen – ein wahrhaft einmaliges Konzert. “Wir als Jazzmusiker“, wird Landgren im informativen Programmheft zitiert, “müssen nicht nach Noten spielen, sondern haben einen schnellen Zugang zu dem, was wir sehen.“ Es ist faszinierend, wie kongenial die Musiker die Bilder in Klänge & Rhythmen übersetzen. Das Publikum im gut besetzten Mozartsaal verfolgt gebannt Film und Konzert; nach gut 60 Minuten gibt es begeisterten Applaus und zwei Zugaben. In bester Kintoppmanier meistert der wunderbare Buster Keaton jede noch so brenzlige Situation, heiratet just in time und kassiert am Ende ein Millionenerbe.

Einmal entkommt er mit knapper Not einer Steinlawine; so muss es den Politiker:innen mit dem Corona-Virus gehen. Ausgang ungewiss. Die Pandemie treibt die Akteur:innen gnadenlos vor sich her, kassiert Versprechungen und stellt falsche Einschätzungen bloß. „Angesichts der ‚größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg‘ (so Merkel im März 2020) war es fahrlässig, ein Mittel auszuschließen“, kommentiert die FAZ (24.11.21). Gemeint ist natürlich die Impfpflicht, wobei dieses Mittel gewiss nicht mehr die Wucht der Vierten Welle brechen wird. Neben verschärften G-Regeln wird es die politische Kaste, die sommers mit Wahlkampf beschäftigt war, wahrscheinlich wieder mit lokalen oder regionalen Lockdowns versuchen. In der Alten Oper Frankfurt saß direkt neben mir ein Zuhörer, der sich fragte, ob wir selbst mit Masken so dicht überhaupt sitzen dürften. Diese Frage stellt sich mit der nun geltenden 2G-Plus-Regel nicht mehr, d.h. Gäste des Hauses müssen geimpft oder genesen sein und einen aktuellen Test vorweisen; die Maskenpflicht entfällt dann.

Der geschäftsführende Gesundheitsminister sorgt derweil für immer neue Verärgerung. Jens Spahn, vor Jahresfrist einmal beliebter als die Kanzlerin, redet sich um Kopf und Kragen. Nach dem kommunikativen GAU vom Ende der “epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ stoßen nun seine Äußerungen über Moderna auf deutliche Kritik. Die Haltbarkeit des Vakzins läuft bekanntlich bald ab; zudem verbieten es Verträge, Moderna in Entwicklungsländer zu spenden. Konsequenz von Spahns unbedachten Äußerungen: plötzlich will kaum jemand mehr mit Moderna geimpft werden. Die Lage ist angesichts steigender Inzidenzen und Infektionen ernster denn je, und gerade deshalb brauchen wir eine abgestimmte Kommunikation der politisch noch bzw. noch nicht Verantwortlichen. Mit meinem Mainzer Kunstlehrer möchte ich dem selbstgefälligen Gesundheitsminister zurufen: Erst nachdenken, dann noch einmal nachdenken und dann den Mund halten. Dann wäre uns auch diese Entgleisung von Jens Spahn erspart geblieben: „Wahrscheinlich wird am Ende des Winters so ziemlich jeder in Deutschland geimpft, genesen oder gestorben sein.“ Es ist allerhöchste Zeit, um Verzeihung zu bitten.

Was tun?

Das Erwartbare geschieht: immer mehr Impfdurchbrüche, steigende Inzidenzen. © Mohamed Hassan / Pixabay

Erste Veranstaltung mit 2G plus. Wir sind bei Freunden in der Nachbarschaft zu einem Hauskonzert eingeladen. Voraussetzung: geimpft oder genesen und ein aktueller Schnelltest. Natürlich wird das an diesem Abend nicht kontrolliert – man kennt sich, man vertraut sich. Das ist beruhigend, denn wir hören von immer mehr Impfdurchbrüchen, teilweise mit heftigem Verlauf bei jungen Leuten, teilweise mit tragischem Ende. Der italienische Pianist Gabriele Carcano spielt drei Sonaten von Beethoven und zieht das Publikum sogleich in seinen Bann. Dieses Mal haben die guten Freunde „nur“ dreißig Gäste eingeladen; vor Corona waren es oft doppelt so viele. Nach dem Konzert gibt es traditionell Speis‘ und Trank, wie im Fluge vergehen die Stunden. Was ist solch ein Erlebnis gegen die ewigen Schalten oder die unendlichen Streaming-Angebote? Das wahre Leben.

Dessen Schattenseiten erlebe ich tags drauf wieder in einer „rollenden Petrischale“ (FAZ) namens ICE auf der Fahrt nach Frankfurt. Die Inzidenzen steigen täglich, die Leichtigkeit des Sommers ist endgültig dahin. An Warnungen der Experten hat es nicht gefehlt. Dennoch wurden die Impfzentren abgebaut – Augen zu und durch. Wer zu leichtfertig ist, den bestraft das Virus mit voller Wucht. Bis Ende des Jahres, so äußerte sich die kommissarische Bundeskanzlerin Angela Merkel, sollen noch 27 Millionen Menschen geimpft werden. Der Vorsitzende der STIKO Thomas Mertens teilt in einer Talk-Show mit, dass seine ehrenamtliche Kommission nun das Boostern doch schon ab 18 Jahren empfiehlt. Die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ wird durch ein neues Infektionsschutzgesetz aufgehoben – 3G gilt dann auch im Nah- und Fernverkehr. Endlich! Ein richtiges & wichtiges Signal, die Kontrolle wird sich organisieren lassen.

Nächste Woche werde ich etwas entspannter mit dem Zug fahren. Dank einer glücklichen Fügung habe ich kurzfristig einen Booster-Termin ergattert. Kaum 30 Minuten war ich in der Praxis, die alle Reden von der Schwerfälligkeit des deutschen Hausarzt-Modells Lügen straft; bis jetzt bin ich noch nicht einmal Patient dort. Wie bei der ersten Impfung im April klappte es wieder nur mit Glück, Hartnäckigkeit und einer gehörigen Portion Optimismus. Muss das sein in einem Land mit einem der teuersten Gesundheitssysteme der Welt, in einem Land, das angeblich so effizient organisieren kann. Diese Pandemie hat uns immer wieder eines Schlechteren belehrt, in den Worten von Malte Lehming: „Völlig überraschend geschieht regelmäßig das Erwartbare.“ (Tagesspiegel, 12.11.21) Ich werde trotz meiner dritten Impfung nur noch mit einer FFP2-Maske unterwegs sein und mich auf weitere Überraschungen einstellen. Nach dem Booster ist vor dem Booster. Wer hätte das gedacht.

Wie es uns gefällt

Aki Takase mit ihrer Band Japanic beim JazzFest Berlin 2021 in der Silent Green Betonhalle. © Camille Blake / Berliner Festspiele

Nie werden wir diese Fahrt 1976 zu den Berliner Jazztagen vergessen. Wir fuhren mit einem Käfer auf der Interzonenautobahn, nahmen die Abfahrt „Berlin. Hauptstadt der DDR“ und waren plötzlich Richtung Frankfurt/Oder unterwegs – ein Transitvergehen. Die Scheinwerfer mit der 6-Volt-Anlage schwach, die Angst groß. Was tun? Kein Fahrzeug weit und breit. Es gab keine Mittelleitplanken. Also drehten wir kurzerhand über den Grünstreifen zwischen den Fahrspuren und waren wieder auf dem richtigen Weg nach „Westberlin“. Dort waren die Verhältnisse beim Jazz übersichtlich: es gab die Berliner Jazztage in der Philharmonie und als Alternative das Total Music Meeting der Avantgarde. Einerlei welcher Strömung man anhing: es gab ein Festivalerlebnis. Das ist beim JazzFest Berlin heute anders. Es gibt diverse Spielorte in der Stadt, Konzerte finden parallel und als Live-Stream oder Video statt. So erlebte der Kritiker des Tagesspiegel ein völlig anderes Programm als wir.

Für uns war es das beste JazzFest seit Jahren, kein Konzert hätten wir verpassen wollen. Nach dem vielversprechenden Auftakt im Pierre-Boulez-Saal mit drei Gruppen wurde am nächsten Tag die Pianistin Aki Takase (endlich) mit dem Albert-Mangelsdorff-Preis geehrt. Was diese 73-jährige Musikerin auszeichnet, sind ihre Neugier und Offenheit; Routine und Wiederholung scheinen ihr ein Gräuel. Ihre Band Japanic besteht aus vier jungen Männern, und sie spielten ein grandioses Konzert, das die Zuschauer:innen gebannt verfolgten und das jeder on Demand noch einmal hören kann. Während Takase ihren ersten Auftritt in Europa und bei den Berliner Jazztagen am 05.11.81 hatte, wurde der wichtige Musiker Hannes Zerbe noch nie eingeladen! Dieses unverständliche Versäumnis machte ein Konzert der sog. Radio-Edition jetzt endlich gut – das Hannes Zerbe Jazz Orchester spielte wie entfesselt im Kleinen Sendesaal des RBB und gab liebend gerne drei Zugaben. Den Abschluss im Kuppelsaal des Silent Green machte für uns Sylvie Courvoisier Trio. So darf’s gerne weitergehen im nächsten Jahr.

Eine Erinnerung ans JazzFest Berlin erreichte mich heute Nacht von der Corona-Warn-App. Am 5. November gab es eine Begegnung mit erhöhtem Risiko. Das kann nur beim Konzert von Aki Takases Japanic passiert sein. Die Betonhalle im Silent Green war voll besetzt. Dass dieser Spielort früher ein Krematorium war, mutet angesichts der dramatisch steigenden Inzidenzen makaber an. Was läuft in Deutschland, in Mitteleuropa derzeit bei der Eindämmung der Pandemie schief? Politiker:innen sollten sich mit Prognosen, Versprechungen (keine Impfpflicht) und Statements zurückhalten, um die allenthalben beklagte Kakophonie zu beenden. Darüber hinaus gibt es hierzulande eine schlecht funktionierende Bürokratie. Um einen Termin für eine Booster-Impfung (in unserer Praxis nur donnerstags!) zu bekommen, sollen wir das europäische Impfzertifikat faxen; eine Übermittlung per Mail ginge auf keinen Fall. Also bringe ich die Dokumente in Kopie persönlich hin. Die freundliche Sprechstundenhilfe möchte sofort Scans davon machen. Den Termin konnte ich schon abstimmen – wir werden aber noch einmal angerufen. So geht Boostern im 21. Jahrhundert in Deutschland. Noch Fragen?

Déjà-vu

Das berühmte Luf-Boot aus der Südsee ist jetzt im Humboldt Forum zu sehen. © Rolf Hiller

Wer hätte das gedacht! Am 11.12.20 hatten wir 29.875 Neuinfektionen an einem Tag; alle warteten wir vor einem Jahr sehnsüchtig auf den Impfstoff. Heute haben wir hierzulande das Vakzin in Hülle & Fülle, und die Corona-Warn-App verzeichnet gestern 37.120 Neuinfektionen und eine 7-Tage-Inzidenz von knapp 170 – Tendenz steigend. Was reitet Politiker:innen jedweder Couleur, die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ zum 25. November auslaufen zu lassen. Angesichts der sich zuspitzenden Situation auf den Intensivstationen ist diese Haltung fahrlässig, mehr noch: verantwortungslos. Gleichzeitig wird jetzt hektisch die Reaktivierung der Impfzentren und eine Kampagne für Booster-Impfungen gefordert. Für alle? Nur für über 70-Jährige (STIKO)? Nur für über 60-Jährige? In Italien wurden in Latium – dort liegt die Hauptstadt Rom – alle über 60-Jährigen bereits schriftlich zur Booster-Impfung eingeladen. „Dass die Antikörper“, konstatiert die Neue Zürcher Zeitung, „etwa sechs Monate nach der zweiten Impfung schwinden, war hingegen schon länger bekannt. Allein aus diesem Grund hätten Bund und Länder frühzeitig eine Booster-Kampagne organisieren müssen. Ihr Zaudern folgt einem Muster, das sich seit Beginn der Pandemie durchzieht: Deutschland ist fast immer zu spät dran.“ (04.11.21)

Wenn’s um die Begrenzung der Klimaerwärmung geht, gilt das für fast alle Länder dieser Welt, mögen die Beteuerungen & Versprechungen auf der Weltklimakonferenz in Glasgow noch so viel Optimismus suggerieren. Wir sind zu spät dran und tun zu wenig. Noch immer werden in Deutschland Diesel und Dienstwagen steuerlich subventioniert, während in anderen Teilen unserer Welt Inseln im Meer versinken. Daran muss ich denken, als ich im Humboldt Forum das berühmte Luf-Boot anschaue, das ich schon einmal in Dahlem gesehen hatte. Einst beuteten die Kolonialmächte die Welt aus und stellten ihre ‚Schätze‘ in Museen zur Schau, heute sind wir für den Untergang ganzer Inselstaaten verantwortlich. Surangel Whipps, dem Präsidenten von Palau, bleibt in Glasgow nur noch der Zynismus der Verzweiflung: „Die sengende Sonne beschert uns unerträgliche Hitze. Das sich erwärmende Meer dringt in unser Land. Unsere Ressourcen verschwinden vor unseren Augen. Und wir werden unserer Zukunft beraubt. Offen gesagt: Der langsame Tod hat keine Würde. Dann bombardieren Sie doch unsere Inseln, anstatt uns leiden zu lassen, nur damit wir unseren langsamen, verhängnisvollen Niedergang miterleben.“ (Tagesschau, 03.11.21)

Was ist dagegen ein Schirm, der mir bei Regen und böigen Winden fast aus der Hand gerissen wird. Ich bin bei diesem Wetter unterwegs zum Pierre-Boulez-Saal, um endlich einmal Bobo Stenson zu erleben. Von dem schwedischen Pianisten habe ich noch seine erste Schallplatte bei ECM von 1971 – das wunderbare Album „underwear“. Mit seinem Trio schreibt der 77-Jährige seine Musik meisterlich fort, die trefflich in den schönsten Kammermusiksaal von Berlin passt. Zum Glück sitze ich ‚richtig‘, die Bühne ist nämlich in der Mitte des Saales. Vor mir spielen Stenson und Anders Jormin (Bass), hinter ihnen der Drummer Jon Fält. Wer ihn direkt vor sich hat, hört vor allem Schlagzeug. Noch deutlicher wird das beim Vijay Iyer Trio, das einen viel versprechenden ersten Tag beim JazzFest Berlin beschließt. Weiter geht es heute im Silent Green, einem ehemaligen Krematorium. Passt doch irgendwie zur allgemeinen Lage.