Risiko

Weiter hoffen. Weiter impfen. © Pixabay

Was haben Oper, Sauna und Yoga gemein? Der Besuch muss in Zeiten der Pandemie geplant und das Risiko bewertet werden. Setze ich mich in ein voll besetztes Haus, um die konzertante Aufführung einer Operette zu erleben, wage ich einen Aufguss, gehe ich ins Yoga-Studio? Ohne vorherige Recherche geht heutzutage fast nichts mehr. Vor einem Jahr wusste niemand, was 2G, 2G plus oder 3G bedeutet: heute haben wir das alle verinnerlicht, wobei sich die Vorgaben laufend ändern. Beim Konzert von Ralph Towner galt 2G plus, also geimpft oder genesen und aktueller Test. Im locker bestuhlten Konzertraum durften wir die Masken ablegen – dort muss ich dann wohl eine Begegnung mit erhöhtem Risiko gehabt haben (Corona Warn App). „Die Blume von Hawaii“ in der Komischen Oper Berlin war indes nur mit Test und Maske zu erleben und verschaffte uns ein gutes Gefühl, obwohl es nach dem Konzert vor den Garderoben zuging wie zu Spitzenzeiten in der U-Bahn.

Manchmal erfolgt aber eine Risikobewertung in der Situation. Eine weitläufige Anlage mit 11 Saunen (beim Gehen Maskenpflicht) schreckte uns unter 2G nicht. Vollkommen überrascht waren wir indes, als eine Lara am Counter uns erzählte, Aufgüsse gebe es auch schon wieder seit Oktober. Gleich mache sie den nächsten, wir könnten mitkommen. In der Sauna ist eine Ansteckung wegen der hohen Temperaturen nahezu ausgeschlossen. Trotzdem zähle ich insgeheim dreißig Feinde, die vielleicht das Virus verbreiten. Beim Yoga hingegen, meiner heiligen Stunde der Woche, habe ich weniger Bedenken – es kommen nur vier oder fünf Furchtlose; die anderen sind digital dabei. Fürs analoge Yoga gilt 2G plus, allerdings sind auch Selbsttests erlaubt. Diese ständige Risikobewertung aller Handlungen, diese Unsicherheit über den weiteren Verlauf der Pandemie, diese permanenten Umplanungen strengen an. Die Zukunft ist ungewisser denn je. Das zehrt aus und macht müde.

Grund zur Vorfreude auf das Neue Jahr besteht allemal, denn auch in Deutschland haben (endlich) die Impfungen begonnen. Das notierte ich vor einem Jahr und hätte es nicht für möglich gehalten, wie wir heute dastehen. Über den Stand der Pandemie werden wir ab dem 10. Januar mehr wissen, wenn alle Daten gemeldet wurden. Deutschland im 21. Jahrhundert. Vielleicht werden der Expertenrat und der medial sehr präsente Gesundheitsminister Karl Lauterbach bis dahin wissen, ob mit der neuen Virusvariante die Pandemie ihren Schrecken verliert, wie es die Los Angeles Times in Aussicht stellt: „Omikron führt seltener zu schweren Erkrankungen und Krankenhausaufenthalten – insbesondere bei geimpften Personen. Dies könnte bedeuten, dass sich das Coronavirus auf dem Weg zu einem milden, endemischen Zustand befindet, der der Pandemie ein Ende bereiten würde.“ (30.12.21) Halten wir es für das Neue Jahr also mit Immanuel Kant: „Drei Dinge helfen, die Mühseligkeiten des Lebens zu tragen: Die Hoffnung, der Schlaf und das Lachen.“

Warten

Der nächste Somma kommt bestimmt © Pixabay

Früher mussten wir bis 6 Uhr warten. Dann klingelte das Glöckchen, und wir durften endlich ins Weihnachtszimmer, das seit Tagen abgeschlossen war. In der letzten Stunde vor der Bescherung schaute der Vater immer wieder auf seine Armbanduhr und verkündete, wie lange wir noch ausharren müssten. Die längste Stunde des Jahres für uns, aber sie hatte ein Ende, wenn der Vater endlich die Tür aufmachte und wir unsere Geschenke auspacken durften. Längst schon klingelt am Weihnachtsabend kein Glöckchen mehr. Ans Warten haben wir uns alle aber wieder gewöhnen müssen und an eine erratisch agierende Politik, deren Entscheidungen die Mehrheit der Deutschen (noch) stoisch mitträgt. Allen Widersprüchen zum Trotz – in den Worten des Reutlinger General Anzeigers: „Warum sind all jene von Einschränkungen betroffen, die allen Empfehlungen der Regierung gefolgt sind? Diese Fragen bleiben offen, was das Vertrauen in die Regierung eher weiter sinken lassen wird.“ (22.12.21)

Dass der Gesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach, bekannt aus Talk & Twitter, der neue Expertenrat, RKI-Chef Lothar Wieler und die Ministerpräsident:innen nach einer gemeinsam verabredeten Stellungnahme nicht mit einer Stimme sprechen, passt leider ins Bild. Fest steht derzeit, dass die Virusvariante Omikron bald auch hierzulande dominant sein wird und eine fünfte Welle der Pandemie kommt. Dann könnte das Gesundheitssystem kollabieren, und es könnten in der kritischen Infrastruktur Arbeitskräfte fehlen. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn Feuerwehr und Polizei ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen können, wenn die Wasser- oder Lebensmittelversorgung zusammenbricht. Dann retten uns ein paar Flaschen Mineralwasser jedenfalls nicht. Wer hat schon angesichts der Hochwasserkatastrophe in diesem Sommer Vorräte für einen Notfall angelegt?

Ein widerspruchsfreies Leben ist nicht möglich, und so mache ich mich geboostert und mit aktuellem Test auf ins Berliner Kesselhaus zum Auftritt von Ralph Towner, der schon dreimal verschoben werden musste. Der Konzertraum ist locker bestuhlt, das Publikum darf am Platz die Masken ablegen. Das erste Album „Trios / Solos“ von Ralph Towner with Glen Moore (sowie Paul McCandless und Colin Walcott) erschien 1973 bei ECM und faszinierte uns, weil Jazz, Folk und World Music unerhört ineinander verwoben werden. Der 81-jährige Musiker hält sein Instrument wie ein klassischer Konzertgitarrist und spielt, wie er sein ganzes Leben gespielt hat: in sich versunken und hochkonzentriert. Sein Programm besteht aus Eigen- und Fremdkompositionen, die Towner ganz knapp ansagt; nie würde er sich dem Publikum mit Sprüchen oder Geschichten anbiedern. Diese Konzentration überträgt sich auf das Auditorium, das sehr aufmerksam dem Spiel des Meisters folgt, der zu den großen Stillen der Szene zählt. Mit einer Zugabe verabschiedet sich Ralph Towner. Bis zu seinem nächsten Auftritt werden wir sicher eine Weile warten müssen.

Spaltung der Gesellschaft

Diesen Kampf gewinnt keiner: Mike Faist als Riff and David Alvarez als Bernardo in 20th Century Studios‘ WEST SIDE STORY. Photo by Niko Tavernise. © 2021 20th Century Studios. All Rights Reserved.

Peinlicher geht’s immer. Die neue Ampelkoalition hat erst einmal eine „einrichtungsbezogene Impfpflicht“ für Beschäftigte im Gesundheits- und Pflegebereich beschlossen, doch jetzt stellt sich völlig überraschend (!) heraus, dass es gar nicht genug Vakzine gibt, zumindest im ersten Quartal 2022. Wie konnte das nur passieren? Jede:r Geimpfte wusste nach der zweiten Impfung, dass 6 Monate danach eine Auffrischung nötig ist. Dem Gesundheitsminister a.D. Jens Spahn dürfte das auch bekannt gewesen sein. Statt die Logistik zu prüfen, produzierte er lieber flotte Sprüche vom Ende der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, oder er redete den Impfstoff von Moderna schlecht. Mit Versprechungen sollten sich Politiker:innen tunlichst zurückhalten. Ob es klug war, dass Olaf Scholz sich als „Kanzler auch der Ungeimpften“ bezeichnete, wird sich weisen.

Die Spaltung der Gesellschaft jedenfalls wird mit jedem Tag deutlicher, und radikale Impfgegner jedweder Couleur werden immer militanter. Ob es da hilft, auch noch die Geimpften in zwei Klassen zu unterteilen. Wer die Booster-Impfung erhalten hat, soll sich im Falle einer 2G-plus-Regelung nicht mehr testen lassen müssen. Was als Anreiz gedacht war, entpuppt sich als Bumerang. Bei drohendem Mangel an Vakzinen Anfang 2022 ist es unfair, Menschen zu sanktionieren, die nicht geimpft werden konnten! Das sorgt für schlechte Stimmung draußen im Lande und erhöht die Verunsicherung genauso wie die Nachricht, in NRW könne man sich bereits nach vier Wochen boostern lassen. Warum wird im bevölkerungsreichsten Bundesland die Lage so anders beurteilt als im Rest der Republik. Einig sind sich dagegen alle in der Einschätzung, dass die Variante Omikron bald dominant sein wird; in Großbritannien infizieren sich damit über 200.000 Leute pro Tag.

Vor einem ganz anderen Hintergrund thematisiert die „West Side Story“ die Spaltung einer Gesellschaft – in New York stehen sich zwei Gangs unversöhnlich gegenüber. Leonard Bernsteins geniale Adaption von Romeo und Julia nimmt uns wieder vom ersten Moment an gefangen, obwohl die grandiose Neuverfilmung von Steven Spielberg zweieinhalb Stunden dauert. Um die Wirkung seiner Inszenierung noch besser zu beurteilen, hat sich der Meister-Regisseur auf einem Bürostuhl direkt durch die Kulissen gerollt. Bekanntlich kennt diese Geschichte nur Verlierer – eine Love Story mit Happy End zwischen einer Puertoricanerin und einem Amerikaner war wie in der Vorlage von Shakespeare im New York der 60er Jahre (noch) nicht möglich. Großes Kino, große Gefühle. Wir sitzen gebannt & erschüttert in unseren feinen Logensesseln. Die Spaltung einer Gesellschaft kann so traurig sein.

Irren ist menschlich

Eine Ampel-Koalition regiert jetzt in Deutschland. © Pixabay

Er zählt zu den wenigen verbliebenen Granden der CDU, sein Wort hat immer noch Gewicht, und er nimmt kein Blatt vor den Mund. Die Rede ist vom hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier. In kleiner Runde war ihm im Februar dieses Jahres herausgerutscht, er erwarte vom nächsten Bund-Länder-Treffen „ein furchtbares Durcheinander, ein wildes Gekläffe (…) und die Leute werden wahnsinnig.“ Damals brachte er die allherrschende Kakophonie treffend zum Ausdruck. Im aktuellen „Interview der Woche“ im Deutschlandfunk blieb Bouffier seiner gradlinigen Art treu. Auf die Frage, warum entgegen allen Versprechungen nun doch höchst wahrscheinlich eine Impfpflicht komme, antwortete er ohne Umschweife: „Wir haben uns geirrt, wie die Drostens dieser Welt und alle anderen auch.“ Demut vor und in der Pandemie. Diese Lektion haben wir inzwischen begriffen; Irrtümer nicht ausgeschlossen.

Um ein Wort des preußischen Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke zu modulieren: Erst wägen, dann sagen. Das gilt ganz besonders in der Politik. Bekanntlich hatte sich der neue Vizekanzler, Robert Habeck, in der ersten Euphorie nach der Bundestagswahl zu dem Versprechen hinreißen lassen, die erste Amtshandlung einer Regierung mit den Grünen sei ein allgemeines Tempolimit. Pustekuchen. Obwohl inzwischen die Mehrheit der Deutschen dafür ist, bleibt es bei der freien Fahrt für freie Bürger. Die FDP, die kleinste Ampel-Partei, hat sowohl das Verkehrs- als auch auch das wichtige Finanzministerium bekommen. Wie geht dem? reibt man sich verdutzt die Augen, schließlich bekamen Die Grünen 14,8 % der Stimmen, die FDP aber nur 11,5 %. Jede Politik ist Symbolpolitik. Dieser Wortbruch könnte den Grünen noch auf die Füße fallen, nicht zu reden von der eiskalten Entmachtung der Linken in der Partei. Die Euphorie des Frühlings ist längst verflogen, die Grünen in der neuen Regierung in Deutschland werden keine Zeit der Eingewöhnung haben.

Womöglich kommt wieder ein neuer Lockdown als Ultima Ratio, wenn die Lage auf den Intensivstationen außer Kontrolle gerät. Wieder alles dicht. Was tun? Schicksalsergeben Zurückhaltung üben oder die Kulturveranstalter unterstützen und ihre Angebote wahrnehmen. Zum Glück haben wir erfahren, dass ein ganz Großer des Jazz mit einem kleinen Festival geehrt wird. Der Pierre Boulez Saal hat einen Film über den amerikanischen Saxophonisten & Flötisten Charles Lloyd in Auftrag gegeben; an zwei weiteren Abenden stellt er sich mit unterschiedlichen Trios vor. Im gut besuchten Konzertraum (2G mit Maske) sitzt das Publikum ohne Abstand und lässt sich auf eine leise, indisch inspirierte Reise ein. Immer besser finden Zakir Hussein (Tabla) und Marvin Sewell (Gitarre) mit dem angenehm zurückhaltenden Bandleader zusammen; am Ende wird das Trio mit standing ovations verabschiedet. Das schön gestaltete Programmheft erinnert an das Second Golden Age des Musikers, der mit 83 Jahren kreativer denn je ist. Nach Riesenerfolgen in den 60er Jahren zog er sich Jahre lang von der Szene zurück. Die dreitägige „Charles Lloyd Celebration“ im Pierre Boulez Saal in Berlin feiert einen Musiker, der seinen wahren Weg gefunden hat und stets für eine Entdeckung gut ist.

Das Album von 1967 mit u.a. Keith Jarrett und Jack deJohnette verkaufte sich über eine Million Mal. Nach diesem Erfolg unterbrach Charles Lloyd seine Karriere als Musiker und arbeitete über ein Jahrzehnt als Meditationslehrer.

Sag niemals nie

Venedig. Stadt der Vergangenheit mit Zukunft. © Karl Grünkopf

Um ihn soll es nicht gehen: Bond. James Bond. Nachdem ich das Buch „Die Welt im Selfie. Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters“ von Marco d’Eramo gelesen hatte, wollte ich erst recht nicht nach Venedig fahren, einer von über 30 Millionen Touristen sein, die jährlich die Lagunenstadt heimsuchen. Plötzlich ploppte ein Angebot per Mail auf, wir buchten spontan und wider bessere Absicht. Zur Einstimmung auf die Reise schauen wir „Tod in Venedig“ (1971) von Luchino Visconti. Würde heute ein Film dermaßen langsam erzählen und die Päderastie ungebrochen ausstellen? Jedenfalls geht mir am Tag der Reise unablässig die Musik von Gustav Mahler durch den Kopf – ein sinnfälliger Kontrast zum Massentransport unseres Billigfliegers. Kaum sitzen wir im Vaporetto ist die Demütigung vergessen. Die Schönheit, der Zauber Venedigs umfängt uns.

Wir wohnen auf Giudecca und haben einen herrlichen Blick auf die Stadt, die im November zum Glück weniger Besucher verzeichnet als im Frühling oder Sommer. Gleichwohl lässt sich nachvollziehen, was Overtourism bedeutet: die Zurichtung einer Stadt für den Tourismus; sollen die Bewohner:innen doch sehen, wie sie mit ihren ’normalen‘ Bedürfnissen durchkommen. Wir haben uns kein Must-See-Programm gemacht und streifen durch die Gassen, immer wieder überrascht, wie schnell wir aus dem Verkaufstrubel an stillen Orten landen, an denen die Zeit still zu stehen scheint. Doch der Schein trügt. Häuser, die nur zum Teil oder gar nicht bewohnt sind, beherbergen nur gerade keine Gäste. Airbnb heißt der Fluch unserer Zeit. „Heute gibt es in Venedig mehr Touristenbetten als Einwohner“, schreibt Petra Reski in ihrem aktuellen und sehr lesenswerten Buch „Als ich einmal in den Canal Grande fiel. Vom Leben in Venedig“. Sie ist eine von fünfzigtausend Menschen, die noch in der Lagunenstadt (über)leben; jedes Jahr werden es tausend weniger.

Wir treffen die Autorin kurz auf einen Prosecco und sind beeindruckt von ihren deutlichen Worten und ihrem unerschütterlichen Optimismus. Sie ist mit einem Venezianer verheiratet, lebt seit dreißig Jahren in der Stadt, erlebt deren Zerstörung hautnah – und wird trotzdem nicht aufgeben und weiterkämpfen. Einmal zitiert sie die amerikanische Architektin Paola Somma – Venedig habe sich in eine „Hedge-City“ verwandelt. „Keine Stadt mehr, sondern ein Investitionsfonds. Wer Geld hat, kauft sich ein Stück Venedig.“ Harte, wahre Worte. Dabei ist das Konzept dieses Ortes aktueller denn je. „Venedig ist eine Stadt des menschlichen Maßes, was die Entfernungen betrifft und die menschlichen Beziehungen auch.“ Die Zukunft der Vergangenheit, zurück zu kleinen überschaubaren Einheiten für Menschen, nicht für Investoren. Paris etwa möchte eine „Stadt der 15 Minuten“ werden, in der man innerhalb dieser Zeit alles erreichen kann. Auf der Hinreise mussten wir übrigens weder unser Impfzertifikat noch das mühsam ausgefüllte Einreiseformular vorweisen. Wir kommen natürlich trotz allem wieder.