Warten aufs Theater

Spektakel der ungesehenen Art: „Ophelia’s Got Talent“, eine Produktion der Volksbühne Berlin, von Florentina Holzinger © Nicole Marianna Wytyczak

Man hätte gewarnt sein können. „Nora. Ein Thriller von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch und Ivna Žic“ steht auf dem Programm; Felicitas Brucker und ihr Team wollen den Stoff als „multiperspektivischen, mitreißenden Theaterthriller auf die Bühne bringen“. So verspricht es der Programmzettel des 60. Theatertreffens der Berliner Festspiele. „Mit 10 bemerkenswerten Inszenierungen, von einer Kritiker*innenjury aus 450 neuen Theaterproduktionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz ausgewählt, begeben wir uns auf auf eine vielschichtige, Spiel- und bildgewaltige Entdeckungsreise durch den deutschsprachigen Theaterraum.“ Vollmundige & wohlklingende Worte, denen bei der Probe aufs Exempel keine der vier von uns erlebten Aufführungen standhält. Nora als sogenannter Thriller beginnt mit einer Stunde Verspätung wegen technischer Probleme. Die von Ibsen vielschichtig angelegte Figur wird auf eine Frau reduziert, die weiß, was sie will und braucht. Eine Kennerin der Münchner Szene berichtet, die dortigen Kammerspiele hätten inzwischen Mühe, das Haus zu füllen.

Warum das Schauspielhaus Bochum gleich mit zwei „bemerkenswerten“ Produktionen beim Theatertreffen vertreten war, ist nicht nachvollziehbar. „Der Bus nach Dachau“ hätte ein sehr spannendes Projekt werden können. Die Niederlande waren der einzige Staat, der seine Bürger:innen nicht aus dem KZ Dachau abgeholt hat. Die Überlebenden mussten sich einen Bus mieten, um nach Hause zu kommen. Diese traurige Geschichte wollte einer von ihnen in einem Film erzählen; das Drehbuch hat er nicht fertig gestellt. „Ein 21st Century Erinnerungsstück“ sollte es werden, doch die Kooperation der Gruppe „De Warme Winkel und Ensemble“ mit dem Schauspielhaus Bochum wirft zwar wichtige Fragen auf, bleibt aber ästhetisch unentschlossen und dilettantisch. Das gilt nicht minder für den zweiten Beitrag aus Bochum, „Kinder der Sonne“ von Maxim Gorki. Ein naturalistisches Bühnenbild, Tür auf, Tür zu. Mir schwant nichts Gutes. Ohnesorg-Theater. Nicht annähernd vermittelt sich in der biederen Inszenierung der Slowenin Mateja Koležnik die Brisanz des Stoffes. Während unter dem Volk eine Cholera-Epidemie wütet, kultiviert das Bürgertum seine Ignoranz und Neurosen. 

Dabei hatte das 60. Theatertreffen mit einem langen und viel versprechenden Abend begonnen. Mit drei Pausen dauert „Das Vermächtnis“ von Matthew Lopez frei nach dem Roman „Howards End“ von E.M. Forster über sieben Stunden. Der Regisseur Philipp Stölzl (2021 beeindruckte seine „Schachnovelle“ im Kino) setzt in seiner sparsamen Inszenierung des Lebens der New Yorker Gay Community um 2015 ganz auf seine hervorragenden Schauspieler (Residenztheater München). Netflix fürs Theater befanden einige. Wir sind keine Binge-Watcher und seilten uns vor dem Ende dieses (allzu) langen Abends ab. Das große Ereignis dieses Theatertreffens haben wir indes verpasst: „Ophelia’s Got Talent“ von Florentina Holzinger. Die das „gigantische Spektakel“ erlebt haben, waren sich einig – so etwas hätten sie noch nie gesehen. Die Karten für die Aufführungen an der Berliner Volksbühne sind heiß begehrt. Da müssen wir hin! Und beim 61. Theatertreffen im nächsten Jahr sind wir auch wieder dabei. Die Hoffnung stirbt zuletzt. 

Was soll uns schon passieren?

Unter dem Begriff „Toxic Evolution“ faßt der Künstler Soler Arpa seine Kreaturen zusammen; die Teile hat er auf Mülldeponien gesammelt. © Rolf Hiller

Sie ist der Shooting Star des Jahres in Deutschland. Die gesamte Tour von Paula Hartmann war ausverkauft, schon lange gab es keine Tix mehr für ihr Konzert in Huxley’s Neue Welt in Berlin, wo die 1.600 Plätze im Nu weg waren. Mit ihren Songs trifft Paula Hartmann die Herzen & Nerven ihrer Generation. Sie ist gerade 22 Jahre alt geworden, studiert (noch) Jura in Hamburg, stand schon mit 5 Jahren vor der Kamera und hat bei einer ganzen Reihe von TV- und Filmproduktionen mitgewirkt. Diese Erfahrungen kommen ihr nun zugute. Sie hat eine enorme Bühnenpräsenz, wirkt aber in jedem Moment authentisch und positiv. Ihre teils düsteren Texte treffen die Stimmung ihrer Fans, deren Jugend und Perspektive apokalyptisch grundiert ist. Ganz am Anfang ihres umjubelten Konzerts ruft Paula auf, dass jede:r sich bei ihren Leuten melden soll, wenn er/sie sich unangenehm angemacht oder diskriminiert fühlt.

Begleitet und gehalten werden ihre Songs vom Live-DJ Friso – mehr Band braucht es heutzutage nicht mehr. Später kommen als Gäste die Rapper Luvre47 und Apsilon dazu, die meine Vorurteile gegen dieses Genre gründlich erschüttern. Von wegen dicke Hose, Grillz und Gangsterposen. Rap ist für die beiden eine Kunstform, um sich auszudrücken. Apsilons Großeltern kamen als Gastarbeiter aus der Türkei, er wuchs in Berlin-Moabit auf, machte sein Abi mit einem Schnitt von 1.2 und studiert an der Charité Medizin. Von Luvre47, der in der Gropiusstadt groß wurde, stammt der Titelsong von „Sonne und Beton“. Der Film von David Wnendt basiert auf dem gleichnamigen Bestseller von Felix Lobrecht. Die Uraufführung fand auf der diesjährigen Berlinale statt; über 1 Million Besucher:innen wollten „Sonne und Beton“ seither im Kino erleben.

Per Rad & S-Bahn dann zu einem Kunstprojekt, dessen PR geschickt mit dem Insiderwissen jongliert. Niemand der Auserwählten dürfe verraten, wo der „Himmel unter Berlin“ sich auftut. Ehe wir in die Katakomben hinabsteigen, erfahren wir noch, dass auf dem Gelände wesentliche Teile von Fritz Langs Film „Metropolis“ entstanden sind. Unten bekommen wir einen Schlüssel mit einer Nummer. Die Location ist großartig gestaltet. Vorbei an Bar und DJane gelangen wir zu einer Bücherwand der 70er Jahre; daneben steht ein Kleiderschrank. Endlich wird unsere Nummer angezeigt, das Mädel öffnet die Tür, wir schieben uns durch die Klamotten – und sind drin. Durch dunkle Gänge werden wir durch ein Labyrinth geführt; es ist ein ganz bisschen unheimlich, wenn man Phantasie hat. In den besten Momenten der Ausstellung taucht man ein in eine immersive, beklemmende Kunstwelt. Trotzdem beeindrucken mich die Kreaturen von Soler Arpa am meisten. Wir zerstören mit unserem Lifestyle systematisch Umwelt und Klima. Die Hälfte aller Seen verlieren Wasser. Die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) rechnet damit, dass die nächsten fünf Jahre die heißesten aller Zeiten werden können. Was soll uns schon passieren?

Unterwegs

„Ist der Mai kühl und nass, füllt‘s dem Bauern Scheun und Fass.“ (Bauernregel). In Südfrankreich muss Wasser rationiert werden. © Rolf Hiller

Plötzlich rennen alle los. Weil man bei der Deutschen Bahn auf jede Überraschung gefasst sein muss, beeile auch ich mich am Frankfurter Hauptbahnhof, durch eine Unterführung aufs nächste Gleis zu kommen. Herdentrieb. Die anderen Fahrgäste hatten wohl eine Nachricht aufs Handy bekommen oder den DB Navigator gecheckt. Für alle „Unwissenden“ kommt dann die Durchsage, dass der ICE heute auf einem anderen Gleis abfährt. Die Fahrt nach Kassel wird länger dauern als üblich, weil der Abschnitt zwischen Fulda und Kassel in einem Rutsch saniert wird. Es dauert also, und der Zug zuckelt teils sehr gemächlich durch Hessen, ohne WLAN. Einmal bleiben wir auf freier Strecke stehen, die Aussicht ist idyllisch. Ich habe ein ganzes Abteil für mich alleine und genieße diese Umleitung. Ab Sonntag ist erst einmal Schluss mit Idylle. Die EVG wird 50 Stunden streiken * – für höhere Löhne ihrer Mitarbeitenden und um sich gegen die Konkurrenten von der GDL (Gewerkschaft der Lokomotivführer) zu positionieren; die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft hat in den letzten Jahren gut ein Fünftel ihrer Mitglieder verloren.

Die Reputation der Deutschen Filmakademie steht gleichfalls auf dem Spiel. Sie vergibt jährlich die Lola genannten deutschen Filmpreise und hat mit ihren Nominierungen heuer allenthalben für Verwunderung gesorgt. Der bei der Berlinale mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnete Film „Roter Himmel“ von Thomas Petzold kam noch nicht einmal in die Vorauswahl für die Nominierung, Lars Kraumes „Der vermessene Mensch“ schaffte es nur mit einer „Wildcard“. Und hier geht es nicht nur um die Ehre. Schon die Nominierungen, vor allem dann aber die Preise sind mit nennenswerten Summen aus der öffentlichen Filmförderung verbunden. Es ist etwas faul im Subventionsstaat Deutschland. Das bringt Edward Berger, der mit seiner deutschen Netflix-Produktion „Im Westen nichts Neues“ als großer Lola-Favorit gilt, deutlich auf den Punkt: „Es ist einfach peinlich, wenn ein Film, der auf der Berlinale einen der Hauptpreise gewinnt, von der Filmakademie nicht einmal für die erste Stufe beim Nominierungsverfahren für würdig befunden wird.“ (Tagesspiegel, 11.05.23)

Nicht nur der Streik der EVG wird die nächste Woche bestimmen. Am Wochenende wird in der großen Türkei und im kleinen Bremen gewählt. Schafft es ein sehr heterogenes Bündnis, Erdogan abzuwählen? Würde der autokratisch auftretende Präsident seine Niederlage akzeptieren? Kann sich in Bremen die rot-grün-rote Koalition mit dem Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) halten? Bekommen Die Grünen in der fahrradfreundlichsten Großstadt der Republik einen Denkzettel wg. der Causa Graichen? Der Mai zeigt sich politisch alles andere als wonnig – Krisen & Probleme, wohin man schaut. Ob das Theater helfen kann? Parallel zur Verleihung der Deutschen Filmpreise heute Abend beginnt das 60. Berliner Theatertreffen mit der Inszenierung eines Romans von E.M.Forster. „In fast sieben Stunden entwerfen Philipp Stölzl und sein Ensemble ein temporeiches und vielschichtiges Gesellschafts- und Beziehungspanorama, das die New Yorker Gay Community porträtiert und Fragen nach Verantwortung und Respekt stellt“, verspricht das Programmheft. Und drei Pausen. Fürs perfekte Theaterglück.

* Am Samstagnachmittag haben sich die Deutsche Bahn und die EVG auf einen Vergleich geeinigt, so dass der Streik abgewendet werden konnte.

Familienbande

„Das Vergangene findet jetzt statt.“ (Elfriede Jelinek) © Sister V.

Bei der Familien-Begegnung im letzten August hatten wir gleich das nächste Treffen diesmal in Wiesbaden verabredet. Damals war unsere Kommissarin noch nicht dabei, aber wir konnten das „verschwundene“ Handy auch ohne sie ausmachen. Mein Sohn ortete das I-Phone in einem Mehrfamilienhaus und löste den Alarmton aus, als das Polizeiteam eingetroffen war. Dieses Mal sind wir fünfzehn Personen, für ein Wochenende eine Art Familie, was einer strengen Überprüfung nicht ganz standhält. Am ersten Abend müssen sich einige erst einmal kennenlernen. Tags darauf führt uns unser Familienoberhaupt durch die Sektkellerei Henkell; es ist in jedem Moment zu spüren, dass er diesen Job ein paar Jahre lang mit Leib & Seele gemacht hat. Dann geht‘s mit der S-Bahn weiter nach Mainz, noch immer der Ort, an dem ich die längste Zeit meines Lebens verbracht habe, die „formativen Jahre“, wie es ein Lebensfreund nennt. Es passt zu diesem Tag, dass mich nachmittags eine Mail des OK „50 Jahre Abi 2024“ erreicht.

Am Fort Elisabeth hat die Familie 15 Jahre gewohnt, wir schreiten die alten Wege ab – alles ist viel kleiner geworden. Im Park vor dem Vincenz-Krankenhaus spielten samstags am Nachmittag Dutzende Jungs Fußball; heute ist der Platz verwaist. Kein Kicker nirgends mehr. Weiter zum Plantschbecken, von uns Plantschert genannt, wo es einst ein Café und eine Toilettenhäuschen gab. Alles dicht. Mit einer Bank als Tor haben wir früher stundenlang mit einem Tennisball gekickt. Davon hatte ich den Söhnen oft erzählt, und in einer Tierhandlung haben sie am Vormittag einen „Balle“ besorgt. Los geht das Spiel. Mit Begeisterung spielen wir vier gegen vier. Schneller als erwartet, ist die ‚Pille‘ hin. Wir müssen abbrechen und trennen uns unentschieden. In meinem Team macht die Kommissarin ein gutes Spiel. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass sie ein paar Tage später beim erfolgreichen Einsatz gegen die Ndrangheta – diese Mafia-Organisation macht jährlich 50 Milliarden Euro Umsatz (!) – dabei ist; und mit der haben wir im Plantschert gekickt! Wir sind alle schwer beeindruckt.

Wir laufen um unser Haus, den „Sternbau“, herum. Im ersten Stock haben wir teilweise zu sechst in knapp 70 Quadratmetern gelebt. Wir können es nicht fassen, und doch war dieses Leben in der 3-Zimmer-Wohnung für uns normal. Geduldig lauscht der Rest der Familie unseren Erinnerungen. Weiter geht‘s über die Stephanskirche mit den berühmten Chagall-Fenstern runter in die Stadt. Wir schlendern über die Ludwigstraße und am Dom vorbei zum Rhein. Zum krönenden Abschluss eines langen Tages voller Eindrücke und Erinnerungen kehren wir in ein uriges Restaurant ein, das im Netz mehr verspricht, als es in der Realität halten kann. Den vom Kellner empfohlenen Riesling gibt es nicht gekühlt, die Essen werden im Abstand von anderthalb Stunden serviert. Zumindest an diesem Abend hatte das Team der „Gaststätte Rote Kopf“ einen rabenschwarzen Tag. Ein Nachlass und ein Absacker aufs Haus waren ein schwacher Trost. Dass der Kellner zum schlechten Schluss noch ein Glas zerdepperte, passte ins Bild. Narhallamarsch.