Alles hat seine Zeit

© Gerd Altmann / pixabay

Die Letzten werden die Letzten bleiben. Mit einer Pünktlichkeitsquote von 63 % nimmt die Deutsche Bahn in diesem Jahr im europäischen Vergleich den letzten Platz ein, den sie 2023 bestimmt halten wird. Es gibt einen gewaltigen Sanierungsstau im Netz, es fehlt an Loks und Waggons. Jede Reise ist immer ein Abenteuer – man weiß nie, was passiert. Fest steht nur die Maskenpflicht in allen Fernzügen, die dort bekanntlich erst im Sommer 2020 nach langen Diskussionen eingeführt wurde. Wie lange diese Maskenbastion hält, wird sich weisen, da selbst Christian Drosten, Deutschlands bekanntester Virologe, das Ende der Corona-Pandemie hierzulande kommen sieht. Nun soll alles ganz schnell gehen; wieder gibt es das übliche föderale Durcheinander. In einigen Bundesländern ist die Maskenpflicht im ÖPNV schon abgeschafft, andere handeln angesichts eines extrem hohen Krankenstands und einer damit einhergehenden Überlastung des Gesundheitssystems vorsichtiger.

Personifiziert werden die Positionen durch den ewigen Mahner & Warner Karl Lauterbach (SPD) und Justizminister Marco Buschmann von der FDP, der forsch die Aufhebung aller Beschränkungen fordert, nicht zuletzt, um die schlechten Quoten der Liberalen aufzubessern. Dass die Kehrtwende der chinesischen Corona-Politik Folgen für Europa haben könnte, sei einmal hintangestellt. Ein klares Wort vom Zauderkanzler wäre angebracht, wie der Weser-Kurier aus Bremen mit deutlichen Worten anmahnt: „Da drängt sich die Frage auf: Was macht Olaf Scholz (SPD) eigentlich beruflich? Der Kanzler täte gut daran, für die auslaufenden Schutzmaßnahmen eine klare Linie vorzugeben. Ja, über die Maskenpflicht im ÖPNV und über die Isolationsregeln entscheiden die Länder selbst. Dennoch sollte es der mächtigste Mann in Deutschland nicht den Landesfürsten überlassen, die Pandemie für beendet zu erklären.“ (28.12.2022)

Oder verdrängt Olaf Scholz, wie wichtig es gerade in Krisenzeiten ist, als Kanzler klare Kante zu zeigen. Allenthalben höre ich, dass viele Menschen den endlos schlechten Nachrichten nicht gewachsen sind – und bewusst abschalten. In einer Weihnachtspost, die wir immer noch zum Glück (!) im Briefkasten finden, wurde diese Strategie trefflich auf den Punkt gebracht. Frohe Weihnachten seien in diesem Jahr eigentlich nur möglich, „wenn wir keine Nachrichten aufnehmen und verdrängen, was wir wissen.“ Zum guten Schluss noch eine bedauerliche Info für Nostalgiker analoger Zeiten. Die Deutsche Post stellt morgen ihren Telegrammdienst ein, weil dieser Service kaum mehr gefragt ist. Natürlich sind digitale Nachrichten schneller und viel billiger, aber Telegramme waren immer etwas Besonderes. Eines werde ich bestimmt noch schreiben…

Ausgepowert

Pumas gelten als sehr beweglich und kräftig. © Ulises Flores/ pixabay

Sind wir nicht alle ein bisschen Bundeswehr? Wir pfeifen auf dem letzten Loch. Die immer neuen Krisen haben bei vielen Menschen Spuren hinterlassen: Corona, der Ukrainekrieg, Rohstoffmangel, Inflation. Die Sorge um die Zukunft steht vielen ins Gesicht geschrieben, der Krankenstand in Deutschland ist so hoch wie nie zuvor. Viele Post-Covid-Patienten, die sich noch Monate nach der akuten Infektion mit den Folgen herumschlagen müssen, sind dabei sicherlich gar nicht erfasst. Auf der Gass‘ treffe ich einen glühenden Fan der Frankfurter Eintracht. Er hat sich beim Finale der Europa League im Mai angesteckt und klagt über Schmerzen in der Brust und Rhythmusstörungen. Die Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Überlastung stieg im letzten Jahr in Deutschland auf 126 Millionen Arbeitstage. Ein neuer Rekord.

Als Politiker:in braucht man in Zeiten wie diesen ein extrem dickes Fell und eine robuste Gesundheit, das gilt insbesondere für die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, die sich mit dem strukturellen Chaos bei der Bundeswehr herumschlagen muss. Bei einer Übung fielen bekanntlich alle 18 Pumas aus, die als teuerste Schützenpanzer der Welt gelten, weil sie aberwitzige Anforderungen erfüllen sollten. „Die Überfrachtung des Puma mit tausend speziellen Anforderungen wurde weder vom Ministerium noch von der Industrie rechtzeitig thematisiert und gestoppt.“ Darauf hat Hans-Peter Bartels, der ehemalige Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, im „Tagesspiegel“ (20.12.2022) hingewiesen. „Die Feinstaubwerte im hinteren Teil (sollten) so niedrig sein, dass sich auch Schwangere dort aufhalten können.“ Geht’s noch! Das ist bundesrepublikanische Realsatire der bittersten Sorte.

Sollte es hierzulande einmal einen Verteidigungsfall geben, wären wir ohne die NATO und vor allem ohne die Amerikaner aufgeschmissen. Das weiß auch ein wahrer Puma wie Wolodymyr Selenskyj. Der ukrainische Präsident ist sich darüber im Klaren, auf wen er sich (noch) verlassen kann und besuchte in einer spektakulären Aktion den amerikanischen Präsidenten Joe Biden. Mit der Übernahme der Mehrheit im Repräsentantenhaus durch die Republikaner am 3. Januar verschieben sich die Machtverhältnisse in den Vereinigten Staaten. Das könnte Auswirkungen auf die Unterstützung der Ukraine haben, wenn „America First“ wieder die Oberhand bekommt. Ohne die amerikanische Hilfe hätte die ukrainische Bevölkerung niemals dem russischen Angriffskrieg seit dem 24. Februar widerstehen können. Weihnachten ist auch ein Fest der Hoffnung!

Rettung

Rund um die Uhr im Einsatz. © Rolf Hiller

Es fehlt bei der medizinischen Versorgung in deutschen Landen an allen Ecken und Enden: zu wenig Personal, zu wenig Betten, zu wenig Medikamente, zu wenig Rettungsfahrzeuge. Apotheken klagen seit Jahren, dass selbst einfache Arzneien wie Fiebersaft nicht mehr ausreichend verfügbar seien. Insgesamt fehlten derzeit hunderte Arzneien; teure Mittel gegen Krebs gebe es hingegen genug. Was tun? Kurzfristig gibt es keine Chance, die notwendigsten Medikamente wieder in Deutschland herzustellen. Wir sind weiter auf komplizierte Lieferketten angewiesen. Indien gilt mittlerweile als „Apotheke der Welt“; viele Vorprodukte kommen aus China und anderen asiatischen Ländern. Wer krank ist, braucht eine robuste Natur, gute Nerven und eine:n Mentor:in – sonst hat man es im deutschen Gesundheitssystem, das zu den teuersten der Welt zählt, nicht leicht.

Nicht auszudenken, wie die Lage in der Ukraine ist. Dort wird bei Notstrom operiert, dort haben die Menschen nur stundenweise Heizung und Wasser. Wie lange können sie der systematischen Zerstörung ihrer Infrastruktur durch russische Raketen und Kamikaze-Drohnen, hergestellt im Iran, noch standhalten? Wird es eine neue Flüchtlingswelle geben? Wären wir darauf vorbereitet? Darf man sich in Zeiten wie diesen an dem Weihnachtsoratorium von Bach freuen? Wir brauchen solche Freuden, um wieder aufzutanken, und hören das „WO“ zum ersten Mal seit drei Jahren wieder in einer Kirche. Am nächsten Tag „tanken“ wir weiter. Wir sind zu einem Hauskonzert eingeladen, bei dem Stephen Waarts (Violine) und Yannick Rafalimanana (Klavier) ein exquisites Programm auf allerhöchstem Niveau spielen. Die beiden Künstler haben wir in Kreisau beim sommerlichen Kammermusikfestival kennengelernt. Natürlich treffen wir an diesem Berliner Abend viele Freund:innen von Krzyżowa Music. Herzerwärmend und so wichtig in diesen Tagen!

Mit vollem Tank & guter Stimmung in eine neue Arbeitswoche. Wir versuchen wie alle, die wir kennen, Energie zu sparen, und heizen nur noch Räume, in denen wir uns gerade aufhalten. Am Rechner sitze ich in eine Decke gehüllt. Niemand weiß derzeit, was der vom Kanzler verkündete Doppel-Wumms genau kosten wird. Teuer wird es für den Staat wieder einmal; dieses Hilfspaket soll ungefähr 60 Milliarden Euro kosten. 80% der letzen Abrechnung für Gas und Strom bekomme man zum gleichen Preis wie im letzten Jahr. Trösten mag eine Meldung aus Amerika. Dort ist es erstmals gelungen, bei einer Kernfusion mehr Energie zu erzeugen als man benötigt, um diesen Prozess in Gang zu setzen. So könnte klimaneutral und sicher quasi unbegrenzt Energie erzeugt werden. Das wird indes noch Jahrzehnte dauern. Zu spät, um die Klimaerwärmung noch zu stoppen. Leider!

Platz ist knapp

Nachts im Leipziger Hauptbahnhof: Martina Gedeck in „Die stillen Trabanten“. © 2022 Sommerhaus Filmproduktion / Warner Bros. Entertainment GmbH

Glück gehabt! Anders als erwartet, ergattern wir die letzten beiden Plätze in der Nachmittagsvorstellung. Very best agers (Maskenanteil ungefähr 10%) wollen sich „Die stillen Trabanten“ anschauen, der am Wochenende gestartet ist. Der Episodenfilm ist glänzend besetzt, aber Martina Gedeck, Nastassja Kinski oder Albrecht Schuch können die Geschichten nicht mit Leben füllen. Niemals erreicht die neue Kooperation von Thomas Stuber (Regie) und Clemens Meyer (Buch) die Dichte und Wucht, die „In den Gängen“ von 2018 auszeichnete. „Die stillen Trabanten“ werden lang und immer länger, die Episoden breit ausgewalzt: eine lesbische Annäherung, die heimlichen Begegnungen einer zum Islam konvertierten, jungen Frau mit einem Grillbudenbesitzer, die Treffen eines Security-Mitarbeiters mit einem jungen Mädchen aus der Ukraine. Keine Geschichte überzeugt, „Die stillen Trabanten“ sind zu gut für diese Welt. „Sozialkitsch“, meint eine Besucherin beim Verlassen des Kinos.

Die brutale Kälte findet gerade in den Kinderkliniken statt, die eine enorme Infektionswelle mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) nicht mehr bewältigen können. Erschütternd stellt Michael Sasse, Leitender Oberarzt der Kinderintensivmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, fest: „Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können.“ Wohin ein kapitalistisch ausgerichtetes Gesundheitssystem geführt hat, ist nicht nur dem Fachminister Karl Lauterbach klar. Neulich erzählte mir ein Bekannter, dessen Frau als Ärztin arbeitet, in ihrer Klinik habe man an einem todgeweihten Patienten noch eine OP durchgeführt und ihn weitere 48 Stunden am Leben gehalten – um diese „Leistung“ abrechnen zu können. Dass die Fallpauschale fallen muss, liegt auf der Hand; dass es dauern wird in deutschen Landen, dürfte niemanden überraschen. Denn für die Krankenhausversorgung sind die Länder zuständig.

Der deutsche Föderalismus feierte gerade bei der Corona-Pandemie, die ja noch längst nicht vorbei ist, wieder einmal fröhliche Urständ‘. Sachsen-Anhalt hat die FFP2-Maskenpflicht im Nahverkehr bereits abgeschafft, morgen folgt Bayern, wo einst der Söder Markus den entschiedenen Corona-Hardliner gab. Dafür besteht im Fernverkehr der Deutschen Bahn weiter „eine gesetzliche Pflicht zum Tragen einer FFP2-Maske“, wie regelmäßig durchgesagt wird. Und das ist auch gut so. Bei meiner letzten Fahrt in dieser Woche war der ICE rappelvoll; viele Fahrgäste mussten stehen oder hockten auf dem Boden. Ein Vorgeschmack auf das Deutschland-Ticket für 49 Euro, das irgendwann im nächsten Jahr eingeführt wird. Das Netz muss dringend saniert werden, und mehr Züge wird es auch nicht geben. Gute Reise!

Was ist normal?

Trouvaille am Wegesrand. © Gitti Grünkopf

Mit Staunen einen Beitrag aus dem März 2020 gelesen: „Ein Buch im Park zu lesen, ist indes verboten.“ In der ersten Welle der Pandemie lagen die Nerven blank, und viele Corona-Hardliner unter den deutschen Politiker:innen hätten sicher gerne die Null-Covid-Strategie aus China übernommen. Inzwischen ist längst bekannt, dass man einen Staat digital-total kontrollieren kann, nicht aber ein Virus. Unbeirrbar zieht dennoch Kaiser Xi Jinping mit der ihm ergebenen KP diesen Kurs weiter durch. Nur selten erfährt man von Mutigen, die einen VPN-Zugang haben und sich am staatlich kontrollierten Internet vorbei über andere Kanäle melden können oder Leib und Leben durch Protestaktionen mit einem weißen Blatt riskieren. So erfuhr die Welt, dass zehn Menschen bei einem Brand in einem Hochhaus ums Leben kamen, in dem sie wegen Corona eingesperrt waren. „Die Führung in Peking“, notierte die Presse aus Wien, „steht möglicherweise vor ihrer bisher größten Krise. Xi bleibt nur eine Reihe schlechter Optionen. Gesteht er Fehler in seiner strikten Null-Covid-Politik ein, würde ihm das als Schwäche ausgelegt. Eine brutale Niederschlagung der Proteste dagegen würde die Wut der Menschen wahrscheinlich nur noch mehr entfachen.“ (29.11.22)

Bond. James Bond kann da auch nichts mehr ausrichten; immerhin sind die Filme bestens geeignet, sich für zwei Stunden aus der Realität zu beamen. Als Abschluss von „Incredible India“ schauen wir uns „Octopussy“ mit Roger Moore an, der zum Teil in Udaipur spielt. Die Handlung tut nichts zur Sache. Bond kennt weder Dengue noch Jetlag oder hat Probleme mit der Schwerkraft. Mal wieder in ein richtiges Kino wäre aber auch klasse! Es muss ja nicht der Animationsfilm „Strange World“ von Disney sein, dessen Produktion mit 180 Millionen Dollar zu Buche schlug. Laut Media Control wollten ihn in der ersten Woche in Deutschland lediglich 61.686 Besucher:innen in 681 Sälen sehen. Grob geschätzt haben die Top 12 der letzten Woche in ganz Deutschland nur knapp ½ Million Menschen angelockt. Nicht bloß diese Branche steht vor großen Herausforderungen!

Ein Bond-Girl ist es nicht, aber eine höchst beeindruckende, würdevolle Frau, die da im Wasser steht, als wir einen Spaziergang um die Krumme Lanke in Berlin machen. Wir trauen unseren Augen nicht. Erst steht sie eine Weile regungslos im eisekalten Wasser, dann geht sie ganz langsam hinein, schwimmt einige Stöße, um dann gemächlich wieder aus dem See zu steigen. Den Rekonvaleszenten fröstelt es schon vom Zuschauen. Dass irgendjemand am Wegesrand das Buch „Jacques der Fatalist und sein Herr“ von Denis Diderot hingelegt hat, rundet diesen ungewöhnlichen Spaziergang ab. Normal ist das nicht. Dafür müssen wir uns wohl daran gewöhnen, dass die deutsche Fußballnationalmannschaft nicht mehr erste Sahne ist. Bereits zum zweiten Mal hintereinander ist das Team in der Gruppenphase einer WM ausgeschieden. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. „Verflickste Katarstrophe“ titelte die B.Z.