Affentheater

Das Erbgut des Orang-Utan ist zu 97% mit dem des Menschen identisch. © Rolf Hiller

Jetzt auch noch: Affenpocken, notiere ich handschriftlich am 21. Mai. Wie nicht anders zu erwarten, setzt wieder eine Kakophonie der Verlautbarungen ein. Der Gesundheitsminister Karl Lauterbach verbreitet Panik und stigmatisiert gleich noch die Gay Community, während Expert:innen darauf verweisen, dass die Affenpocken gut erforscht und gut zu behandeln sind. Die Verläufe sind meistens leicht; trotzdem wird eine 21-tägige Isolation und Quarantäne empfohlen. „Experten sagen schon lange“, hält die Frankenpost aus Hof fest, „dass das Zeitalter der Pandemien begonnen hat.“ (23.05.22) Längst werden keine aktuellen Corona-Inzidenzen mehr in den Nachrichten gemeldet, ein Impfzentrum nach dem anderen wird geschlossen, fast alle Schutzmaßnahmen sind aufgehoben. In den S- und U-Bahnen sind einige junge Leute trotzig ohne Maske unterwegs. Wie vor einem Jahr gehen alle Corona-Zahlen zurück. Kommt nach dem Sommer des Vergessens wieder ein Winter des Erschreckens?

Wenn ich mit vielen Menschen zusammenkomme, trage ich weiter eine Maske. Inzwischen habe ich mir die Verbeugung zur Begrüßung oder zum Abschied angewöhnt, obwohl diese Geste schon wieder irritiert. Noblesse oblige. Das sollte ganz besonders für Politiker:innen gelten! Wieder einmal hat sich der Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann zum Affen gemacht und sich schamlos in den Vordergrund geschoben. Nach sexistischen Bemerkungen über Flugbegleiterinnen auf der Rückreise von Sevilla nahm der selbstgefällige OB dem Spieler Sebastian Rhode und Trainer Oliver Glasner den Pokal aus der Hand und eilte damit zum Balkon des Römers. Bekanntlich hatte die Eintracht die Europe League gewonnen, und Feldmann wollte sich auf selten dreiste Art mit fremden Federn schmücken. Dass gegen ihn die Staatsanwaltschaft Anklage in der AWO-Affäre wegen Vorteilsnahme erhoben hat, passt nur allzu gut ins Bild. Das Präsidium der Frankfurter Eintracht hat Feldmann bereits ein Stadionverbot erteilt, die SPD distanziert sich von ihrem Parteifreund und fordert ihn zum sofortigen Rücktritt auf!

Wer denkt da nicht sofort an Gerhard Schröder. Der Ex-Kanzler & Putin-Freund steht seit Monaten in der Kritik, weil er seine politischen Kontakte nach dem Ende seiner Karriere schamlos verrubelt hat. Dass er jetzt nicht mehr für den Vorstand der Gazprom zur Verfügung stehen möchte, kommt zu spät. Schröder hätte sich spätestens nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erklären müssen; zudem ist für Gazprom in Deutschland und für Schröder bei Gazprom nichts mehr zu holen. Das hat wohl auch Manuela Schwesig endlich begriffen. Die SPD-Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern galt bis zuallerletzt als Russland-Versteherin, könnte aber immer noch über die Machenschaften der „Klimastiftung MV“ stolpern, die von Gazprom gesteuert wurde. Der Wahlkreis von Angela Merkel lag übrigens auch in diesem Bundesland. Die überzeugte Europäerin hat gegen alle Warnungen der europäischen Freunde das Projekt Nord Stream 2 energisch vorangetrieben. Dieses bitterernste Affentheater ist noch längst nicht zu Ende.

Schlimmer geht’s immer

Bettina Lieder und Samouil Stoyanov in den Masken des berühmten Dichterpaares. © Nikolaus Ostermann

Es genügt, wenn’s vergnügt. Auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner wird sich das Publikum des Theatertreffens 2022 bestimmt verständigen können. Beifall gab’s immer, Buhrufe nie. Mit Standing Ovations wurde die Produktion „humanistää! eine abschaffung der sparten“ vom Volkstheater Wien verabschiedet. Geschickt hat die Regisseurin Claudia Bauer aus Stücken & Texten von Ernst Jandl eine Revue zusammengestellt, die mit einem boshaft-witzigen Blick in die Alltagshölle eines Dichterpaares einsetzt. Wie Slapstickfiguren bewegt sich das Maskengespann durch die Szene; unschwer erkennt man Friederike Mayröcker und Ernst Jandl. Diese Schärfe kann die Inszenierung indes nicht durchgängig halten – oft gibt’s mehr Jux als Jandl, dessen Dekonstruktion von Sprache ja niemals dem Klamauk verfällt. „Eine Abschaffung der Sparten“ hätte als Motto über dem diesjährigen Theatertreffen stehen können, dessen Jury die zehn vorgeblich bemerkenswertesten Produktionen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ausgewählt hat. Verlautbart wurde viel in diesen Tagen, gespielt selten. Ein „echtes“ Theaterstück habe ich nicht erlebt, in dem Handlungen & Konflikte sich dialogisch im Spiel entfalten.

„Da konnte ja nur eine richtig sprechen“, raunt ein Besucher seinem Begleiter beim Verlassen des Hauses der Berliner Festspiele zu. Die beiden hatten dennoch geduldig bis zum Ende ausgeharrt. „Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)“ heißt der Titel der grellbunten Inszenierung der Münchener Kammerspiele. Was man da über „sexualisierte Gewalt“ und „toxische Rollenbilder“ hören (!) kann, ist so wahr wie langatmig. Kein Spiel nirgends, aber viele längst bekannte Einsichten und Wahrheiten. Was Wunder, dass viele Theater nicht einmal mehr ihre Premieren ausverkaufen. Da lobt man sich doch das Selbstverständnis der Berliner schaubühne, wie es kürzlich ihr Intendant Thomas Ostermeier im rbb 24 inforadio auf den Punkt brachte: „Wir machen Theater fürs Publikum. Also die Frage nach nachvollziehbaren Charakteren, nachvollziehbarer Handlung. Inhaltliche Anliegen, gesellschaftliche und politische Fragen, das ist das, was wir versuchen an der schaubühne.“

Die Politik fürs Publikum machen derzeit Die Grünen, allen Ungereimtheiten in der Ampelkoalition zum Trotz. Robert Habeck und Annalena Baerbock sind derzeit die beliebtesten Politiker:innen der Republik; der Kanzler mit schwacher Performance liegt abgeschlagen auf dem dritten Platz. Die Entlastung beim Tanken spart keinen Kraftstoff, das würde hingegen ein Tempolimit zum Nulltarif bringen. Das 9-Euro-Ticket wird jetzt als Werbeaktion für den Öffentlichen Personennahverkehr angepriesen, wird aber keine Verkehrswende einleiten. Ungeachtet dieser Widersprüche zu ihrer Programmatik haben die Grünen derzeit einen Lauf; sie waren die großen Gewinner der Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Sollte es in beiden Bundesländern eine schwarz-grüne Koalition geben, wird es für die Ampel in Berlin ungemütlich. In Hessen gibt es übrigens seit 2018 eine schwarz-grüne Regierung. Aber derzeit ist dort natürlich rot-schwarz angesagt: Die Frankfurter Eintracht gewann am Mittwoch das Finale der Europa League gegen die Glasgow Rangers und spielt nächste Saison in der Champions League. Oh, wie ist das schöiiin…

Das Theater geht weiter

Das Schweigen des Vaters. Nikolai Gemel und Michael „Minna“ Sebastian in der Romanadaption „Ein Mann seiner Klasse“. Die Inszenierung von Lukas Holzhausen vom Schauspiel Hannover beim Theatertreffen 2022. © Katrin Ribbe

Endlich wieder ein richtiges Theatertreffen nach zwei Jahren nur digitaler Präsenz. Die Erwartungen sind hoch. Große Worte bei den Reden zur Eröffnung. Yvonne Büdenhölzer, die scheidende Leiterin des Festivals, stuft das Theatertreffen als „Diskursbeschleuniger“ ein, die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth befindet voller Emphase: „Theater ist Grundnahrungsmittel“ und „systemrelevant“. Die Latte liegt hoch, und der Absturz folgt auf dem Fuße. „Das neue Leben“ heißt eine Produktion aus Bochum, die Dante-Texte mit Popsongs kontrastiert. Lang ziehen sich die Monologe der vier Schauspieler:innen, langatmig und langweilig. Nach einer Stunde fliehen wir aus dem Kopftheater. „Volles Verständnis“, gibt mir mein Nachbar mit auf den Weg; er hat sich die ganze Zeit Notizen gemacht.

Neues Stück, neues Glück. „Ein Mann seiner Klasse“ vom Schauspiel Hannover verspricht da schon mehr „Systemrelevanz“. Nun bin ich kein Freund der Romanadaptionen, Überschreibungen oder irgendwelcher Textflächen, die bei den Intendanten und Dramaturgen dieser Republik so hoch im Kurs stehen. Es fehlt an überzeugenden neuen Stücken. Wahrscheinlich arbeiten die besten Schreiber:innen für Fernsehanstalten und Streamingdienste, bei denen das größere Geld lockt. Wo sind die neuen Brechts oder Hauptmanns? Themen gibt es doch genug in der Welt der sog. kleinen Leute, die sich abstrampeln wie der Möbelpacker auf der Bühne – und trotzdem wird es niemals reichen. Die Bühneneinrichtung von Lukas Holzhausen basiert auf dem Romandebüt von Christian Baron, der sein deprimierendes Familienleben autobiographisch schildert. Trotzdem liebt er seinen Vater – den Trinker, den Schläger, den Looser, der von einem (echten) Handwerker dargestellt wird. Der spricht kein einziges Wort, ist anwesend abwesend. Die Inszenierung beeindruckt und zeigt den Freund:innen der „Diskursbeschleunigung“ eine andere, fremde Welt.

Das berührt durchaus, aber das Theater sollte sich auf seine ureigenen Qualitäten besinnen: Geschichten nicht nur erzählen, sondern im Spiel darstellen. In ihrer Zwischenbilanz zum Theatertreffen 2022 kommt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung zu einer ähnlichen Einschätzung, wobei sie die internen Schwierigkeiten der Häuser – von Machtmissbrauch bis Gendergerechtigkeit – gleich noch mit bilanziert: „Denn stell Dir vor, das Theater löst alle Probleme – und keiner geht hin.“ (11.05.22) Wenn ihre Kollegin Catrin Lorch recht hat mit ihrer Bewertung, dann steht die documenta fifteen in Kassel auf der Kippe. Die verantwortliche Künstlergruppe Ruangrupa hat auf die bedeutendste Ausstellung aktueller Kunst auch BDS-Sympathisant:innen eingeladen. Wikipedia zu Folge ist BDS „eine transnationale politische Kampagne, die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will“. BDS wird sowohl von der deutschen Regierung als auch vom Parlament als antisemitisch eingestuft. „Die Documenta“, vermutet Lorch, „könnte scheitern: Wer die sanften, aber intellektuell unbeugsamen Ruangrupa-Mitglieder kennt, hält eine Absage der Weltkunstschau durch sie für vorstellbar.“ (SZ, 12.05.22) Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth – sie wandte sich übrigens gegen die BDS-Resolution des Deutschen Bundestags – hat schon mehrfach versucht zu vermitteln. Dieses Theater ist bitterernst!

Fatalismus

Das absurde Theater findet woanders statt: Standing Ovations für Dieter Hallervorden in „Der König stirbt“. © DERDEHMEL/Urbschat

Der ICE ist auf der Rückfahrt von Frankfurt so voll, wie ich es in den letzten zwei Jahren nicht mehr erlebt habe. Viele kauern vor den Türen, andere arbeiten auf dem Boden vor dem Speisewagen. Zum Glück gilt in den Zügen der Deutschen Bahn weiter die Maskenpflicht. Meine Corona Warn App steht jetzt immer auf rot. Bei der vollbesetzten Premiere „Der Schatzgräber“ von Franz Schreker in der Deutschen Oper Berlin darf jede:r wählen, ob er/sie die gefeierte Inszenierung mit oder ohne Mund-Nasen-Schutz erleben möchte. Wir gehören zur Fraktion Vorsicht und tragen die Maske freiwillig auch im Schlossparktheater. Wir wollen den 86jährigen Prinzipal Dieter Hallervorden auf der Bühne erleben. Geboten werden soll „gute Unterhaltung“ mit dem Stück „Der König stirbt“ von Eugène Ionesco, Wikipedia zufolge „ein verschlüsselter Abgesang auf Frankreichs endende Rolle als einst stolze Kolonialmacht“. Anspielungen auf die aktuelle politische Lage lägen eigentlich auf der Hand, aber die Regie von Philip Tiedemann setzt auf Klamauk und einen lieben & altersmilden König. Das Publikum dankt begeistert und feiert Dieter Hallervorden mit Standing Ovations.

Locker in Berlin, streng in Frankfurt. Maskenpflicht und Schachbrettbelegung der Sitzplätze in der Deutschen Nationalbibliothek bei der Eröffnung des Festivals „Frankfurt liest ein Buch“ , das unser Verlag seit Jahren als Medienpartner begleitet. Heuer steht der Roman „Nach Mitternacht“ von Irmgard Keun im Zentrum der vielen Veranstaltungen. „Der beste satirische Roman über Nazideutschland“ (Arthur Koestler) spielt 1936 an zwei Tagen in Frankfurt, als Hitler auf dem Opernplatz eine Ansprache hielt, und schildert die komplexen Ereignisse aus der Perspektive einer jungen Frau. Die Autorin hat eine meisterhafte Begabung, kurz und prägnant zu beschreiben; sie beobachtet hellwach, wie der Faschismus das soziale Leben verändert und prägt. Der Nationalsozialismus wurde dem deutschen Bürgertum nicht aufgezwungen, sondern war dessen „rabiat gesteigerte Konsequenz“ (Heinrich Detering im Nachwort der schönen Neuausgabe). Die Verfilmung des Romans von Wolf Gremm aus dem Jahr 1981 trifft weder jenen lakonischen Ton noch wird sie der Komplexität der Vorlage gerecht. Das kleine Fernsehspiel zieht sich im Deutschen Filminstitut, mehrfach schaue ich auf die Uhr. Immerhin erfährt das Publikum im gut besuchten Kino (Maske, Schachbrett) vor Beginn der Vorführung von einem neuen Angebot im Herbst: „Frankfurt sieht einen Film“, der an einem Tag mit Rahmen-Programm in verschiedenen Kinos laufen soll.

Was mag bis dahin passiert sein? Wird uns die Pandemie wieder „unvorbereitet“ erwischen? Ist der Krieg gegen die Ukraine dann zu Ende, der nun schon bald ein viertel Jahr das Land verwüstet? Festhalten lässt sich im Moment, dass die Sanktionspakete der EU Russland nicht nachhaltig beeindruckt haben; gleiches lässt sich von den Offenen Briefen sagen, die jetzt hierzulande kursieren. Die ganze Absurdität der Lage verdeutlicht, dass russisches Gas durch die Ukraine geleitet und mit Duldung der Russen von Deutschland aus an die Ukraine weiter verkauft wird. Was nützt und schadet wem? Dass der Bundespräsident Frank Walter Steinmeier nun doch eingeladen wurde, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky in Kiew zu besuchen, ist ein gutes Zeichen in dunkler Zeit. Sein Besuch hat mehr Gewicht als die Reise des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, der sich vor allem aus wahltaktischen Gründen im Kriegsgebiet blicken ließ. Am Sonntag wählt Schleswig-Holstein einen neuen Landtag; der Ministerpräsident & Merkelianer Daniel Günther, der seit 2017 eine Jamaika-Koalition führt, liegt in den Umfragen vorne. Schiff ahoi!