Trip zur Kunst

Skulpturen aus menschlichen Knochen, Schädeln und Schrott zu dumpfen Schlägen in St. Kunigundis bei der documenta fifteen. © Karl Grünkopf

Um 5.45h klingelt der Wecker. Ein langer, sehr langer Tag beginnt. Wir fahren nach Kassel zur documenta fifteen und wollen abends wieder in Berlin sein. Natürlich reicht die Zeit nicht, um alles zu sehen; natürlich haben wir die erbitterten Auseinandersetzungen um antisemitische Tendenzen auf dieser documenta verfolgt. Wir wundern uns, dass der öde Friedrichsplatz nicht besser für diese Kunstaustellung genutzt wird und starten im Fridericianum. Dort herrscht eine entspannte Atmosphäre von nongkrong (indonesisch für „gemeinsam abhängen“). Wir schlendern durch Räume mit Mitmach-Angeboten, schauen liegend über uns einen Film, sehen die großformatigen Anklagen gegen die Verbrechen an den Aborigines von Richard Bell und seine ganz aktuellen Bilder. Von diesem Jahr ist „How to lounge a Book“ – ein Farbiger schleudert ein Buch in einen Fluss. Nicht bloß die vielen Gräueltaten der Weißen werden zu recht angeprangert, Rationalismus und Aufklärung fliegen gleich mit ins Wasser.

Wir streifen durch die Documentahalle – viele Exponate, die ihre eigene Deutung gleich mitliefern. Moralisch ist dagegen nichts einzuwenden, ästhetisch überzeugen eineindeutige Arbeiten nicht. Auf zur Treppenstraße, zur ersten Fußgängerzone in Deutschland. Wir wollen endlich etwas frühstücken. „Frühstück ist nur bis 12. Es muss ja weitergehen“, konterkariert der Kellner das internationale Flair im Kasseler Kunstsommer. Dann eben Omelette und Tomaten mit Mozzarella und weiter geht’s nach Bettenhausen. In St. Kunigundis werden spannende Arbeiten des Künstler:innen-Kollektivs Atis Rezistance gezeigt, das in Haiti Ghetto Biennalen veranstaltet. Je sparsamer die Skulpturen aus menschlichen Knochen, Schädeln und Schrott gestaltet sind, um so stärker beeindruckenden sie zu den dumpfen Schlägen eines Synthesizers, die regelmäßig durch die ehemalige Kirche schallen. Dagegen können die gut gemeinten Exponate im Hübner-Areal oder im Hallenbad-Ost ästhetisch nicht bestehen.

Die großformatigen Agitprop-Wandbilder des Künstler:innenkollektivs Taring Padi – ihr riesiges Wimmelbild auf dem Friedrichsplatz löste den ersten Antisemitismus-Skandal dieser documenta aus – dürften auch die Überwindung der Suharto-Diktatur vorangetrieben haben in Indonesien, dem Staat mit der viertgrößten Bevölkerung weltweit. Es war eine mutige und richtige Entscheidung, die documenta fifteen von ruangrupa kuratieren zu lassen, dem Globalen Süden eine prominente Plattform zu geben. Dass der Antisemitismus dort weit verbreitet und akzeptiert ist, muss der Findungskommission klar gewesen sein; an Warnungen hat es nicht gefehlt. Die bedeutende Kunstausstellung (noch bis 25. September) wurde keine „Antisemita“ (Der Spiegel), aber Antisemitismus im Namen der Kunstfreiheit zu tolerieren, sollte ausgeschlossen sein. Wir beschließen unsere Tour des Artes im WH22. In diesem Club hängt das plakative Gemälde „Guernica Gaza“ und insinuiert eine Kontinuität des Nationalsozialimus in Israel. Bereits 2019 hatte Meron Mendel, der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, auf die Konsequezen dieser Geschichtsklitterung in „Texte zur Kunst“ hingewiesen: „Israel steht symbolisch für all das, was man an der gesamten Welt kritisieren will: Es ist dann der rassistische, koloniale, nationalistische Staat schlechthin.“ Versöhnen statt spalten sollte das Motto dieser documenta sein – „lumbung“, eine gemeinschaftlich(!) genutzte Reisscheune. Ein kleiner vietnamesischer Garten im Hof des Clubs nimmt diese Idee auf. Vor den Toiletten im Keller steht an einer Wand: „Disrupt. Don’t compromise.“ Mit widersprüchlichen Eindrücken & Erkenntnissen endet der Trip zur Kunst weit nach Mitternacht. Wir kommen wieder.

Lage der Nation

Suchen einen neuen Rahmen für ihre Ehe: Tom (Chris O’Dowd) und Louise (Rosamund Pike) in der Fernsehserie „State of the Union“ © Confession TV Limited (2018)/Parisatag Hizadeh.

Krisen, wohin man schaut. Trotzdem geht das normale Leben weiter. Hemden zur Reinigung bringen, ein Kilo Körnerbrot für 7,50 € (!) kaufen, die nächste Ausgabe von FRIZZ Das Magazin produzieren und abends bei einer Serie entspannen. Wir schauen die erste Staffel der TV-Serie „State of the Union“ in der ARD-Mediathek – 10 Folgen à 10 Minuten. Ein wunderbares Format! Ein Paar in der Krise trifft sich vor der Therapiestunde immer in einer Kneipe. Wir nehmen nicht an den Sitzungen teil, sondern erleben ihre Beziehungsarbeit in den Gesprächen davor. Das Buch stammt von Nick Hornby, Regisseur ist Stephen Frears. Rosamund Pike und Chris O’Dowd spielen zurückhaltend eindringlich ein Paar in einer Midlife-Krise, die sozialen und politischen Verhältnisse in England schimmern am Rande durch. „State of the Union“ wurde 2018 gedreht, die zweite Staffel kam dieses Jahr heraus und ist auch in der ARD-Mediathek zu sehen.

Nur in den vollen Zügen der Deutschen Bahn und im ÖPNV sieht man, dass die Corona-Pandemie noch längst nicht zu Ende ist; vorsichtige Menschen streifen sich die Maske auch beim Einkauf oder auf Veranstaltungen über. Gleichwohl hält die Süddeutsche Zeitung schon jetzt eine „Chronik des angekündigten Chaos“ (11.08.22) fest und verweist auf inkonsistente Vorgaben & Regeln. Wir haben uns die 4. Impfung vor einem Monat geben lassen, nicht bei der Hausärztin, die sich an die Empfehlungen der STIKO hält. Inzwischen hat das wackere, ehrenamtlich besetzte Gremium, das immer zu spät kommt, eine Auffrischung für unsere Altersgruppe empfohlen. Damit hatte man in Israel bereits Ende Dezember begonnen. Das verstehe, wer will. Im Herbst wird es jedenfalls keine einheitlichen Corona-Regeln in Deutschland geben; dafür wieder das gewohnte föderale Durcheinander.

Auf Olaf Scholz kann man nicht setzen. Er macht von seiner Richtlinienkompetenz bis dato keinen Gebrauch und lässt die Minister:innen munter werkeln. Zudem hat der Kanzler selbst genug Probleme, und seine Performance beim Abbas-Besuch im Kanzleramt war eine blanke Katastrophe. Die Berliner Zeitung ließ jede Form von Respekt fahren. „Wir haben einen kommunikativen Volltrottel als Kanzler.“ Und wagt eine Prognose: „Er zeigt ein fatales Verhaltensmuster: Mal sagt er einfach ‚Nö‘, wenn er keine Lust hat, Fragen zu beantworten. Mal kann er sich nicht erinnern, mal schlaumeiert er herum, er könne Fragen aufklären, aber doch nicht vor irgendeiner popligen Öffentlichkeit. Das jüngste Versagen alarmiert. Geht das so weiter, wird Scholz als Kanzler inakzeptabel.“ (17.08.22) Energiekrise, Inflation, drohende Rezession, der Ukrainekrieg – die Koalition steht mächtig unter Druck und ist sich schon längst nicht mehr grün. Klare Führung wäre angesagt. Kanzler werden, war nicht (so) schwer, Kanzler sein dagegen sehr. Schiff ahoi!

Tatort Live

Morgens scheint die Welt noch in Ordnung: Blick vom Hotel Hasenjäger auf das idyllische Städtchen Einbeck. © Karl Grünkopf

Das Wetter hätte besser nicht sein können für unser Familientreffen in Einbeck, einer Gemeinde mit 30.000 Einwohnern in Südniedersachsen, die im geteilten Deutschland zum Zonenrandgebiet gehörte. Nach Tagen schwüler Hitze sind die Temperaturen angenehm. Wir schlendern nach dem Frühstück gemütlich in die Stadt, gehen den Mägdebrink hinunter, in dem die Großmutter fast ihr ganzes Leben lang gewohnt hat. Wie oft haben wir sie in all den Jahren besucht. Die Erinnerungen der Reisen verschwimmen; es gibt Erlebnisse, die ich nicht mehr fassen kann und die ich gleichwohl nie vergesse werde. Mit 3 Jahren zog ich mir die Kartoffeltasche über den Kopf und stürzte in den Keller hinab. Zum Glück kam ich mit einem Schrecken davon. Heute verhindert ein Zaun solche Dummheiten. Heute kommen mir die gut anderthalb Meter runter in den Keller nicht mehr so hoch vor. Die Perspektiven verschieben sich wie die Erinnerungen. Alles ist kleiner geworden. Natürlich erzähle ich von der Rußschlacht auf dem Kompost mit meinem Kinderfreund. Schwarz wie Kumpels nach der Schicht sollen wir vor den Müttern gestanden haben. Natürlich war damals keine Kamera zur Hand.

Das ist heute anders. Fast alle haben wir ein Smartphone dabei, checken alle paar Minuten unsere diversen Channels oder machen schnell mal ein Foto. Ich habe tausende Bilder auf meinem Handy, die ich mit einer Kamera nie gemacht hätte. Natürlich knipse ich das Uhrwerk in der Münsterkirche, in der ich einst getauft wurde, und halte noch schnell ein treffendes Gedicht von Andreas Gryphius fest. Danach muss es passiert sein! Kurze Zeit später stehen wir im Lottogeschäft entfernter Verwandter. Ich spiele nie, aber dieses Mal setze ich auf die Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6. Ich krame in meinem Beutel nach dem Handy. Es ist nicht da. Noch einmal alles durchwühlen. Das Ding ist weg. Was tun? Ruhe bewahren und auf einen Digital Native hoffen. Erst einmal rennen wir zurück zur Münsterkirche, dann sagt mein Sohn, I-Phones könne man doch orten. Er aktiviert diese Funktion auf seinem Gerät. Nun fehlt noch die Zwei-Faktor-Authentifizierung. Wir rasen mit einem Taxi ins Hotel und geben den Code durch.

Der Sohn ortet das Handy rasch in einem Mehrfamilienhaus mit 12 Parteien. In der heißen Mittagssonne warten wir auf die Polizei; der Western „Zwölf Uhr mittags“ geht mir durch den Kopf. Derweil verfolgt die Familie das Geschehen online über unsere WhatsApp-Gruppe mit munteren Sprüchen: „Fangt den Dieb“, „Tatort live“. Nach gut einer Stunde kommen die Retter. Dann geht alles ganz schnell. Das Team klingelt bei irgend jemandem, die Haustür geht auf, gleichzeitig löst der Sohn auf meinem Handy einen Alarmton aus. Wir bleiben draußen, ich höre eine männliche Stimme: „Ich habe heute ein Handy gefunden.“ Später hätte er es abgeben wollen. Warum hat er nicht gleich den Verlust bei der Polizei gemeldet? Warum hat er nicht abgenommen? Immerhin hatte der Sohn achtmal angerufen. Wir lassen die Unschuldsvermutung gelten, treffen rechtzeitig zur Stadtführung auf dem wunderschönen Marktplatz ein und machen später noch das Einbecker Bierdiplom. Keine Ahnung, wie oft ich in meinem Leben in meiner Geburtsstadt gewesen bin. Dieses gelungene Familientreffen in Einbeck werde ich niemals vergessen. Ende gut, alles gut.

Angst vorm Frieren

Man at Work: der grandiose Mixer Philippe (Thimotée Robart). © Céline Nieszawer / Port au Prince Pictures

Nach Monaten endlich mal wieder ins Kino – an einem lauen Sommertag. „Die Magnetischen“ ist eine gute Wahl. Das Werk von Vincent Maël Cardona wurde als Bester Debütfilm mit einem César 2022 ausgezeichnet und hat glänzende Kritiken bekommen; auch Uwe Bettenbühl war begeistert in FRIZZ Das Magazin für Frankfurt. Der Film spielt im Jahre 1981 in der Tristesse eines französischen Dorfes, in dem zwei Brüder unter der Fuchtel ihres Vaters als Schrauber in seiner Autowerkstatt arbeiten. Zusammen betreiben die beiden einen Piratensender. Der große Bruder führt das große Wort, kann seine Existenz aber nur mit Drogen ertragen. Beim Militärdienst in Berlin bekommt der Kleine die Chance seines Lebens; er heuert beim britischen Militärradio als DJ an und legt für seine Flamme eine aberwitzige Performance mit Platten & Tapes hin – ganz großes Kino. Cardona erzählt seine Geschichte (das Buch stammt von ihm) in dichten Bildern, ist ganz nah dran an seinen Figuren und weiß die Musik der 80er Jahre effektvoll einzusetzen. Das Coming-of-Age von Philippe – so viel sei verraten – endet zum Glück nicht in der Provinz.

Vor vierzig Jahren war der Klimawandel noch kein Thema, die akut drohende Energiekrise noch in weiter Ferne. Erschreckend unbedarft nehmen sich die Antworten der Kino-Gruppe auf meine Frage aus, warum man den Saal so stark gekühlt habe. „Nach einer Weile mussten wir uns Socken und eine Fleece-Jacke anziehen“, schrieb ich Ihnen. „Die Klimaanlage tat ihr sinnloses Werk. Sicher ist es in Ihrem Kino möglich, weniger zu kühlen – und Energie zu sparen.“ Die Antwort einer Cosima ist nichtssagend, ich hake nach. Ein Lennart vom Gästeservice antwortet: „Leider lässt sich die Temperatur nicht so einfach umstellen. Die Entscheidung der Geschäftsleitung ist, die Temperatur so zu halten, wie sie ist. Eine Weiterleitung Ihrer Email an unsere Geschäftsleitung ist daher nicht notwendig. Wir bedanken uns für Ihr Feedback, werden allerdings keine Umstellungen vornehmen.“ Alle reden vom Frieren im Winter. Wie viel Energie durch Klimaanlagen im Sommer verschwendet wird, scheint (noch) niemanden zu interessieren. Warum eigentlich?

Das „Sommermärchen“ der Stones in der Berliner Waldbühne hätten wir schon gerne erlebt, aber nicht um jeden Preis. Wir fahren stattdessen zum Schwimmen nach Brandenburg. Anfang Juli saßen wir danach noch bibbernd mit Mütze (!) und Jacke im „Fährhaus Caputh“. Dieses Mal ist es richtig heiß, aber keine:r vermisst eine Klimaanlage. In dem kleinen Ort besaß der geniale Physiker Albert Einstein ein Sommerhaus. Dass man ihm fälschlicherweise Zitate unterschiebt, hätte ihn bestimmt köstlich amüsiert. Auf einer Schiefertafel eines Cafés ist zu lesen: „Der Mensch hat die Atombombe erfunden. Keine Maus der Welt käme auf die Idee, eine Mausefalle zu konstruieren.“ Das Wort stammt von dem Aphoristiker Werner Mitsch. Sein Buch „Das Schwarze unterm Fingernagel“ (1983) ist nur antiquarisch zu bekommen. Ich werd’s versuchen.