Geld oder Leben

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„Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen // Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
(Bertolt Brecht) © Karl Grünkopf

Am Dienstag konnte ich noch normal im Supermarkt einkaufen, jetzt herrschen auch in Berlin fast italienische Verhältnisse: der Einlass zu den noch geöffneten Geschäften ist geregelt, nur noch eine bestimmte Anzahl von Kunden kommt rein. Gut so! Immerhin dürfen wir die Wohnungen noch ohne Passierschein verlassen und Sport im Freien machen. Ein Buch im Park zu lesen, ist indes verboten; dafür dürfen in Berlin die Buchhandlungen auf haben. Der deutsche Föderalismus treibt in der C-Krise seine Blüten und setzt sich strukturell in der EU fort: jeder ist sich selbst der Nächste, von einem abgestimmten Vorgehen keine Spur. Die großspurigen Verheißungen der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen („Green Deal“) sind Schall und Rauch.

Heute ist Welttheatertag, aber in der C-Krise sind alle Theater zu. Die Saison ist gelaufen, das Berliner Theatertreffen findet heuer nicht statt. Dafür gibt es jede Menge digitale Angebote – darunter echte Leckerbissen. Wer einmal versucht hat, Karten für den „Hamlet“ mit Lars Eidinger an der schaubühne in Berlin zu bekommen (immer ausverkauft!), weiß, was ich meine. Diese Inszenierung ist am 01.04. online zu erleben, tags drauf stehen „Sommergäste“ in der legendären Inszenierung von Peter Stein von 1974 auf dem Online-Ersatzpielplan, dann „Richard III“ (Eidinger in seiner zweiten Parade-Rolle) und „Groß und Klein“ von Botho Strauss (Regie: Peter Stein; 1978). Eine digitale Theaterwoche vom Allerfeinsten.

Fraglos wird die C-Krise die Digitalisierung vorantreiben, und das ist auch gut so: weniger Reisen, mehr Video-Konferenzen etwa. Andererseits geht es dem Mittelstand, den Solo-Selbständigen, Kreativen & Künstlern an den Kragen, so dass jetzt schon diskutiert wird, wie lange wir uns Ausgangsbeschränkungen überhaupt erlauben können. „Wann übersteigen die Schäden durch den Stillstand den Nutzen der Virusbekämpfung?“, fragt Matthias Müller von Blumencron im Berliner Tagesspiegel (25.03.20). Inzwischen wird der aus der Notfallmedizin stammende Begriff Triage auch bei uns diskutiert. In Italien, Spanien und Frankreich müssen Ärzte tagtäglich entscheiden, wen sie behandeln können – und wen nicht. Die C-Krise wird viele Verlierer haben, womöglich auch Präsident Twitter.

Abstand aus Rücksicht

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Der Ausgang auf den Balkon bleibt weiter möglich. © Karl Grünkopf

Ist das erst so kurz her? Vor einer Woche waren wir noch bei einer Premiere im Berliner „Chamäleon“ und vor 14 Tagen bei einer Geburtstagsfeier. Da hatten bereits einige abgesagt, weil auch Gäste aus Nordrhein-Westfalen kamen. Mit meiner Namaste-Begrüßung wirkte ich auf dem Fest noch wie ein komischer Heiliger. Jetzt umarmt (sich) fast niemand mehr, und ich habe mir vorgenommen, beim Namaste zu bleiben. Ansonsten arbeitet das Gros der Republik zu Hause, solange das Internet hierzulande hält, dessen Ausbau wie so vieles in Deutschland weit hinterher hängt.  Gestern mussten in Berlin die ersten Geschäfte schließen. Werden sie alle durchkommen und nach der C-Krise wieder öffnen?  Bange Fragen zum Frühlingsbeginn.

Das gilt natürlich auch für meinen Verlag. Es hätte das dickste April-Heft aller Zeiten werden können, nun arbeiten wir an einer „kleinen“ Ausgabe und neuen Konzepten für die Verteilung. Die C-Krise wird nichts & niemanden verschonen, und die Held*innen arbeiten nicht im Home-Office, sondern halten systemrelevant die Gesellschaft zusammen. Im türkischen Supermarkt drängen sich die Kunden vor einer Kasse und pöbeln rum, wenn nicht schnell genug eine zweite geöffnet wird. In ihrer beeindruckenden Rede dankte Kanzlerin Angela Merkel ausdrücklich den Mitarbeiter*innen im Handel: „Wer in diesen Tagen an einer Supermarktkasse sitzt oder Regale befüllt, der macht einen der schwersten Jobs, die es zurzeit gibt.“

Plötzlich ist alles anders. Wir bleiben (fast) alle zu Hause und gehen nur noch zum Einkaufen raus. Einer, so wurde auf der Geburtstagsfeier erzählt, wollte 70 (!) Dosen Ravioli kaufen und ließ sich von anderen Kunden nicht irritieren. An der Kasse ließ man dem Ravioli-Egoisten nur 5 durchgehen – Abgabe nur in haushaltsüblichen Mengen! Am letzten Sonnabend gab es abends in drei Märkten nicht mehr eine Kartoffel, und im Moment warten die Läden in unserem Kiez auf Weizenmehl. Derweil das Thema Corona die Medien beherrscht und wir regelmäßig die Podcasts mit dem Virologen Christian Drosten hören und eigentlich jede*r Bescheid weiß,  machen junge Menschen immer noch Corona-Partys. Dolce vita ist vorbei! Welcome to Reality!

Sei Dir selbst genug

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Lars Eidinger in „Peer Gynt“, einer aberwitzigen Solo-Performance an der schaubühne in einer Inszenierung von John Bock. © Benjakon

Am letzten Sonntag war die Welt noch in Ordnung – scheinbar. Wir erreichen die Berliner schaubühne auf den allerletzten Drücker und sitzen mittig im Parkett. „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen steht auf dem Programm, aber eigentlich wird ein „Taten-Drang-Drama“ von John Bock (Regie, Bühne und Kostüme) und Lars Eidinger gegeben, eine aberwitzige Solo-Performance des Schauspielers. Ab und zu hören wir etwas von Ibsen, aber ansonsten bastelt & bosselt Eidinger vor sich hin, verliert sich in Obsessionen und Größenwahn. Einmal zählt er seine großen Rollen an der Schaubühne auf: im „Hamlet“ und „Richard III“ (beide immer ausverkauft!) stand er schon hunderte Male auf der Bühne. Nun schreibt er seine Erfolgsgeschichte als Schauspieler & Sänger mit  „Peer Gynt“ fort. Was mag noch kommen für diesen Kraftmeier mit unendlichen Energien? Eine Peter Pan Performance? Und dann nur noch LARS, ein unendliches Multimedia-Spektakel?

„Sei Dir selbst genug“, gibt uns Eidinger am Ende mit. Diese Worte haben seit Sonntag eine neue Bedeutung gewonnen. Allenthalben wird geraten, zu Hause zu bleiben und soziale Kontakte zu reduzieren. Plötzlich wird der Besuch einer Premiere im Chamäleon zur moralischen Frage. Dürfen wir allen Empfehlungen & Warnungen zum Trotz das neue Programm einer australischen Gruppe erleben, die uns vor drei Jahren mit der Zirkus-Party „Scotch & Soda“ von den Stühlen riss? Die neue Show hat etwas weniger Tempo, ist aber unbedingt zu empfehlen, denn diese Artisten sind keine Marionetten oder Maschinen, sondern echte Typen, die uns mit „Le Coup“ bestens unterhalten. Dieses Mal hat sich Chelsea McGuffin, künstlerischer Kopf der Gruppe, von australischen Boxring-Shows aus den 30er Jahren inspirieren lassen…

Sie wollen bis zum 16. August im Chamäleon auftreten – eine kaum vorstellbar lange Zeitspanne, da auch uns italienische Verhältnisse drohen, also quasi ein Ausgangsverbot; nur Apotheken & Supermärkte dürfen noch öffnen. Da ich diese Zeilen schreibe, hat das Volkstheater in Frankfurt bis Mitte April alle Vorstellungen abgesagt, und das XJAZZ-Festival in Berlin findet 2020 gar nicht statt. Die Börsenkurse rutschen immer mehr in den Keller, die Zukunft ist offener denn je. Die Ausbreitung von Corona muss verlangsamt werden. Das Gesundheitssystem darf nicht zusammenbrechen. Trotzdem müssen wir alle irgendwie weitermachen. In unserem Verlag laufen derzeit mehrere Produktionen gleichzeitig, deren Planung ständig überdacht und angepasst werden muss. Nerven behalten! Jede Krise ist auch eine Chance. Hoffentlich.

Ruhe bewahren!

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Ruhe bewahren! Spektakuläres Video von Juul Kraijer in der Ausstellung „Zweiheit“ im Museum Sinclair-Haus in Bad Homburg. © Karl Grünkopf

Das ist gerade noch einmal gut gegangen. Während die ITB und die Leipziger Buchmesse abgesagt wurden und die Frankfurter Musikmesse verschoben worden ist, konnte die 70. Berlinale noch stattfinden – trotz der allherrschenden Verunsicherung wegen Corona. Das hätte den Start der neuen Doppelspitze aus Mariette Rissenbeek (Geschäftsführung) und Carlo Chatrian (Künstlerischer Leiter) noch holpriger werden lassen. Sponsoren sagten ab, das Berlinale-Kino im Sony-Center machte dicht und der erste Leiter dieses A-Festivals Alfred Bauer wurde als Nazi geoutet, was indes keine echte Überraschung mehr war. Ansonsten nichts Neues von der Berlinale: rund 330.000 verkaufte Tickets, ein mäßiger Wettbewerb und der Goldene Bär für „There is No Evil“, ein politischer Film aus dem Iran. Die Entscheidung Chatrians, noch einen zweiten Wettbewerb namens „Encounters“ zu installieren, konnte beim Debüt nicht überzeugen – die Festivals in Cannes und Venedig spielen weiter in einer anderen Liga.

Bei der Eröffnung der sehenswerten Ausstellung „Zweiheit“ der niederländischen Künstlerin Juul Kraijer im Museum Sinclair-Haus in Bad Homburg begrüße ich das Team dort mit einer kleinen Verbeugung – und nicht mehr per Handschlag. Mich beeindrucken die Arbeiten sehr, insbesondere die Video-Performance im ersten Stock. Auf drei Leinwänden sieht man die gleiche Frau in gleicher, doch zeitlich versetzter Perspektive: stoisch erträgt diese lebende Medusa, wie sich Schlangen über ihr Gesicht bewegen. Juul Kraijer schafft ein Amalgam aus Mensch, Tier oder Materie von großer Eindringlichkeit – nie gesehene Bilder und Skulpturen. Nach der Vernissage kommt das Gespräch immer wieder auf Corona, wie könnte es auch anders sein. Von panischen Hamsterkäufen (Nudeln, Reis, Toipa) wird berichtet; einige horten ihre Beute in Wohnwagen, deren Standort wahrscheinlich absolut geheim ist. German Angst.

Wir haben ein Doppelzimmer inkl. Behandlung im Elisabeth-Krankenhaus gebucht und sind natürlich gespannt. German Angst auch hier. Desinfektionsmittel werden von Patienten und Passanten geklaut, Atemschutzmasken sind begehrt und unter Verschluss. Die wunderbare Chefärztin gibt zu bedenken, dass es auch andere hochinfektiöse Patienten gibt, die man versorgen müsse. Knapp ist auch jeglicher Impfstoff, obwohl es noch keinen gegen Corona gibt und man sich sinnvollerweise nur  im Herbst impfen lassen sollte. Ein Pfleger raunt einem Kollegen zu, die Klinik halte 700 Masken unter Verschluss: 19.000 €. Und er beneidet einen „pfiffigen“ Berliner Scherzartikel-Händler, der Anfang Januar in China 500.000 Masken bestellt habe und diese nun für 25 € pro Stück vertickt. Womöglich hat die German Angst aber doch ein Gutes, und wir lernen die Tugend des Verzichts neu. Weniger Kapitalismus im Gesundheitssystem, weniger lange Lieferketten, weniger Globalisierung insgesamt. Satelliten zeigen plötzlich einen sauberen Himmel über China. Im Inforadio hören wir, dass Sender in Australien Toipa für ihre Hörer*innen verlosen. Kein Scherz!