Trugbilder

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Puck schwebt über den Elfen: Benjamin Brittens „Sommernachtstraum“ in einer umjubelten Aufführung der Deutschen Oper Berlin. © Bettina Stöß

Premiere in der Komischen Oper Berlin. Eine „letzte Operette der Weimarer Republik“ steht auf dem Programm, von der wir noch nie etwas gehört haben: „Frühlingsstürme“ von Jaromír Weinberger. Die Schmonzette im XXL-Format verdient es trotzdem, aus der Versenkung geholt zu werden. Zehn Tage vor Machtübernahme der Nationalsozialisten, am 20. Januar 1933 war die Premiere im Admiralspalast, am 12. März wurde sie das letzte Mal gespielt. Viele Mitwirkende flohen ins Ausland, viele Lebenswege nahmen einen anderen Verlauf. Jaromír Weinberger, der mit seiner Volksoper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ (im März wieder in der Komischen Oper) einen Welterfolg landete, nahm sich 1967 in Florida das Leben; man hatte ihn vollkommen vergessen. Mit „Ball im Savoy“ oder „Eine Frau, die weiß, was sie will“ – andere Wiederentdeckungen der Komischen Oper – können die „Frühlingsstürme“ natürlich nicht mithalten, aber die Verbeugung vor  Jaromír Weinberger, dem tschechischen Komponisten jüdischer Abstammung, ist eine noble Geste. Bravo!

Herrliche Pflichten. Tags darauf sitzen wir schon wieder in einer Premiere.: „A Midsummer Night’s Dream“ in der Deutschen Oper Berlin. Man muss wohl Benjamin Britten heißen, um solch ein Werk in neun Monaten zu komponieren. Da die Zeit drängte – die Oper sollte zur Wiedereröffnung der Jubilee Hall in Aldeburgh uraufgeführt werden -, verzichtete Britten auf ein eigenes Libretto und griff auf Shakespeares Komödie zurück. Das bringt zwar ein bisschen Kuddelmuddel, denn der Text musste um die Hälfte gekürzt werden und die Oper beginnt gleich im Elfenland, aber das nimmt dem Werk nicht die Wucht. Für die wunderbare Musik bürgt der Dirigent Donald Runnicles, der Regisseur Ted Huffmann inszeniert sparsam und setzt ein silbergraues Elfenland gegen eine rot ausgeschlagene Bühne, in der Handwerker ihr Possenspiel treiben. Puck schwebt immer wieder munter an Schnüren und stellt am Ende die Frage aller Fragen: „Habet nur geschlummert hier, Und geschaut in Nachtgesichten / Eures eignen Hirnes Dichten.“ Tolle Solisten, tosender Applaus. Ein großer Abend in der Deutschen Oper.

Ausgeträumt haben sie nun auch in Frankfurt – die Internationale Automobil Ausstellung (IAA)  findet dort im nächsten Jahr nicht mehr statt; seit 1953 gehörte diese Leitmesse zur Stadt wie der Ebbelwoi und lockte in Spitzenjahren eine Million Besucher an. Bereits in der Vorrunde war Schluss mit lustig, und nun wird der Tanz um die Karossen in Berlin, Hamburg oder München stattfinden. OB Peter Feldmann trifft dafür keine Schuld, aber wie in der AWO-Affäre machte er wieder keine gute Figur. Hochmut kommt vor dem Fall. Heute ist endlich Brexit. Und morgen beginnen die Verhandlungen mit Smaller Britain. Good Luck.

Wunder gibt es immer wieder

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Weiter geht’s wirklich nicht: „Gummi Guru“ George Faining aus Ghana lässt sich verdrehen. © Günter Hamich

Im Jänner fahre ich immer nach Bad Nauheim. Die Kurstadt im Wetteraukreis hat 32.000 Einwohner und lockt um diese Zeit mit einem außerordentlichen Ereignis. Das Neujahrsvarieté des regionalen Energieanbieters OVAG ist nämlich alles andere als ein Marketingevent, vielmehr kommen Artisten der Weltklasse ins Dolce-Theater. Im 18. Jahr ihres Bestehens meldet die Show wieder tolle Zahlen: 33.500 Zuschauer kommen zu den 49 Shows, um sich von Jongleuren, Gauklern, Gummi- und Kraftmenschen unterhalten zu lassen. Wieder erleben wir unglaubliche Darbietungen, die ich noch nie gesehen habe. Mario Berousek, der schnellste Keulen-Wirbler der Welt, George Faining mit seinen schier unmöglichen Verdrehungen oder der diabolische Magier Aaron Crow, um nur einige aus der Artistenschar dieser Saison zu nennen. Am besten gefällt mir Steve Elegy mit seiner poetisch-ironischen Nummer: „Das Wunder von Bad Nauheim“ verkündet er, bläst die Kerze aus und eine LED-Lampe geht an („wenn die Batterie geht“).

Der Vater des Erfolgs ist ein Frankfurter Bub, einst einer der Gründer der legendären Disco „Funkadelic“. Andreas Matlé hat ein Händchen für Auswahl und Dramaturgie und schon das Programm für die Saison 2021 zusammengestellt – der Vorverkauf läuft prächtig. Solch einen Erfolg muss man auch der Frankfurter Volksbühne wünschen, die nun nicht mehr „fliegen“ muss und endlich, endlich eine feste Bleibe gefunden hat. Der beharrliche Optimist Michael Quast hat es also doch noch geschafft und im umgebauten Cantate-Saal ein schmuckes Quartier gefunden. Wo einst die Ikone des biederen, hessischen Theatergebabbels Liesel Christ zu Hause war, wird jetzt die Frankfurter Volksbühne heimisch: im Großen Hirschgraben 19 mitten in der City. Wegen der hohen Miete, lesen wir auf der Homepage, ist das Theater weiterhin auf Förderer und volles Haus angewiesen. Dieses Mundart-Theater 2.0 hat es wahrhaft verdient. Ei gude!!!

Der amerikanischen Trompeterin Jaimie Branch (ihre Alben „Fly and Die“ und „Fly and Die II“ haben glänzende Kritiken) eilt ein guter Ruf voraus. Bei ihrem Debüt in Frankfurt müssen in den Engelbert-Humperdinck-Saal (Dr. Hoch’s Konservatorium) noch Stühle geschoben werden. Glück gehabt, ich sitze in der Mitte und höre & sehe hervorragend. Die studierte Musikerin kultiviert geschickt ihr Underdog-Image; sie könnte auch als Rapperin durchgehen, die sich einen Dreck um ihr Outfit und ihre Fitness schert. Vom ersten Moment steht diese fat woman wie unter Strom und verspricht Clubbing in zwei Sets. Jaimie Branch spielt nicht nur grandios Trompete, sie singt inzwischen auch und schreibt selbst. Mit einer originell und hervorragend besetzten Band aus Bass, Cello und Schlagzeug verbindet sie New Jazz & Entertainment. Einen Auftritt dieser Marke wird man nicht vergessen. Ich gehe schon vor der Zugabe, Jaimie Branch nickt mir kurz zu. Wenn ich nur mehr Zeit hätte, würde ich mich als Komparse bewerben. Nicht bei der Frankfurter Volksbühne sondern beim BER: der neue Flughafen (geplante Eröffnung am 31.10.20) sucht für den Probebetrieb 20.000 Komparsen. „Wunder gibt es immer wieder“, trällerte einst Katja Ebstein.

Wenik ist mehr

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Schlappen, die keiner mag. © Karl Grünkopf

Endlich mal wieder ins Vabali. Die Saunalandschaft in balinesischer Anmutung hat sich mitten im öden Berliner Bezirk Moabit zu einem echten Anziehungspunkt entwickelt – bereits um 12h sind alle Parkplätze besetzt. Beim letzten Besuch schlüpfte irgendjemand in meine Badelatschen. Dieses Mal habe ich vorgesorgt: meine Schlappen sind einmalig, eine Mischung aus Schloss Elmau und Dritter Welt. Das Relaxen im Vabali hat natürlich seinen Preis, aber es lohnt allemal, dort ein paar Stunden zu entspannen. Am besten gefällt uns der finnische Wenik-Aufguss mit frischen Birkenzweigen. Zwar schlägt man/frau sich damit nicht wechselseitig auf den Rücken, aber die Aufgussmeisterin heizt uns beim Wedeln tüchtig ein. Herrlich! Als wir nach vier Stunden entspannt das Vabali verlassen, warten schon gut zwanzig Leute auf Einlass; es darf immer nur eine bestimmte Anzahl Gäste hinein. Gut so!

Um den allherrschenden Wahnwitz auszuhalten, braucht es schon eine Menge Gelassenheit. Nachrichten am Dienstag im Inforadio. Vor 10 Jahren wurde der Missbrauchsskandal am Canisius-Kolleg in Berlin bekannt. Die Katholische Kirche, die angeblich über ein Vermögen von 270 Milliarden € verfügt, hat bis zu 5.000 € Entschädigung pro Opfer angeboten. In deutschen Krankenhäuser stehen im Schnitt 3,84 € für die Verpflegung der Patienten täglich zur Verfügung. Es gibt also nicht nur einen Pflege- sondern auch einen Verpflegungsnotstand! Die Ozeane sind so warm wie noch nie. Von wegen „Klima-Hysterie“ (Unwort des Jahres). Es ist unfassbar.

Unterwegs nach Gießen mit dem Auto; es ließ sich leider nicht anders organisieren. Der Verkehr fließt stockend. Ich brauche für die 65 km anderthalb Stunden – nicht bloß ich sitze allein im Wagen. Die Rückfahrt läuft besser, und ich komme pünktlich im „Kinopolis“ in der Nähe von Frankfurt an. Zum Glück, denn ich hatte befürchtet, dass „1917“ von Sam Mendes am ersten Tag ein volles Haus hat. Das Gegenteil war der Fall: kurz vor Beginn um 20.10h sind noch 355 Tickets frei. Die Story soll auf einer wahren Begebenheit beruhen. Zwei junge Soldaten müssen sich im Ersten Weltkrieg durch eine verwüstete Landschaft schlagen, um einen wichtigen Befehl des Generals dem Kommandanten eines britischen Regiments zu überbringen. Nur einer kommt durch, unverwundbar wie James Bond (von Mendes stammen „Skyfall“ und „Spectre“) – und genauso unglaubwürdig. Mich erreicht der Film immer weniger, ich schaue mehrmals auf die Uhr. Kein Wunder, dass der Superman (überzeugend: George MacKay) auf der Flucht vor den Kugeln der Deutschen in einen Malstrom gerät und natürlich unbeschadet aus einem reißenden Fluss steigt, mit dem Befehl im Hemde. Warum der Film bei den Golden Globes ausgezeichnet wurde und als Oscar-Kandidat gehandelt wird, verstehe, wer will. „Nachdenken nützt nichts“, heißt es einmal in dieser Hollywood-Produktion. Weniger wäre mehr gewesen.

Platz da

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Lee Krasner „besteht auf ihrem Willen“ und geht ihren Weg. Das Bild eines unbekannten Fotografen entstand 1938 in New York.

Wir gehen lieber in die Oper, ins Theater oder ins Kino als ins Museum. Wir haben überhaupt nichts gegen die Kunst, möchten diese aber nicht in Massen genießen. Während man in den neuen Lichtspielhäusern in bequemen Sesseln sitzt und in den Theaterhäusern immer einen (oft unbequemen) Sitzplatz bekommt, wird man/frau durch erfolgreiche Sonder-Ausstellungen geschoben. Führungen, Audio-Guide-Monaden oder Schulklassen lassen mich vor Museen schaudern. In der FAZ (06.01.20) zeigt ein Foto den Massen-Andrang zur hochgelobten Van-Gogh-Ausstellung im Frankfurter Städel. Ohne mich! Aber die Lee Krasner-Retrospektive in der Schirn auf der anderen Seite des Mains darf‘s schon sein. Erstaunlich viele Besucher*innen interessieren sich für diese Künstlerin, die für den abstrakten Expressionismus in Amerika steht und zeitlebens unbequem blieb. „Diese Studentin“, lesen wir in ihrer Akte, „ist stets eine Plage, besteht auf ihrem eigenen Willen anstatt Schulregeln zu befolgen.“

Ohne die Aufhebung der Regel gibt es keine Innovation, und das gilt natürlich auch für den allherrschenden Common Sense auf den Bühnen. Dagegen hat der im Moment sehr erfolgreiche Schriftsteller Thomas Melle („Welt im Rücken“) eine “Ode“ geschrieben. Diese Auftragsarbeit für das Deutsche Theater Berlin setzt die Regisseurin Lilja Rupprecht grell-bunt und sehr plakativ in Szene. Oft bringt der pure Effekt den klugen Text um seine Wirkung, sodass am Ende ein zwiespältiges Fazit bleibt. „Es lebe die Kunst“ ruft der Schauspieler Alexander Khuon; es bleibt zu hoffen, dass dieser Ruf gegen die selbstgefällige & selbstreferentielle Spielerei nicht ungehört verhallt. Nicht zufällig wird Sandra Hüller für ihre Darstellung des Hamlet im Schauspielhaus Bochum (Regie: Johan Simons) im März mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring in Bensheim ausgezeichnet. Brava!!!

Morgen Bochum. Auf nach Bochum also, aber erst sind wir noch mit Frankie verabredet. Im Theater am Potsdamer Platz steht eine Weltpremiere an: „That’s Life. Das Sinatra Musical“. Der schillernde Weltstar wird ratzfatz auf deutsches Musical-Format geschrumpft: holprige Story, aufgesagte Texte, der junge Sinatra singt grottenschlecht, nur ein paar wenige Tanzeinlagen. Der alte Sinatra (Tom Ward) kann die Show auch nicht retten. „‚That’s Life‘ dümpelt leider drei Stunden vor sich hin, ohne wirkliche Highlights“, hören wir von Magdalena Bienert im Inforadio. Bald wird aus dem Theater wieder ein riesiges Kino. Dann ist Berlinale und wir schauen uns freiwillig Filme an, die wir sonst nicht beachten würden. Zum guten Schluss noch ein Glückwunsch zum 40. Geburtstag der Grünen. Servus!

Hurra wir leben noch

 

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Vom Feuerwerk bleibt nur der Müll auf den Straßen Berlins. © Karl Grünkopf

Wieder fand die größte Silvesterparty Deutschlands am Brandenburger Tor statt. Wieder war es der Feinstaub-Tag des Jahres, wieder wurden Rettungskräfte angegriffen. Same procedure as every year. „3065 Notrufe gingen bei der Polizei ein (Vorjahr: 2979)“, bilanziert der Checkpoint des Berliner Tagesspiegels am 02.01.2019, „daraus resultierten 2039 Einsätze (300 mehr als im Vorjahr) – für den Lagedienst ‚der normale Wahnsinn‘. Die Feuerwehr rückte zu 1523 Einsätzen aus, an 617 Orten brannte es. (…) Die ‚gute Nachricht‘ laut Polizei: Trotz vieler Angriffe mit Knallkörpern, Raketen und Schreckschusspistolen gab es ‚keine schwerverletzten Polizisten oder Feuerwehrleute‘.“ Diesen Wahnsinn will scheinbar niemand stoppen, keine Partei oder Initiative möchte als Spaßverderber dastehen; selbst die Deutsche Umwelthilfe mochte nicht gegen einzelne Städte klagen.

Mit 2.000 zusätzlichen Einsatzkräften schaffte es die Berliner Polizei einige sog. Böllerverbotszonen zu behaupten. Lohnt dieser Aufwand, einmal ganz abgesehen von 400 Kubikmetern Silvestermüll auf den Straßen? Angeblich lehnt die Hälfte der deutschen Bevölkerung inzwischen die Böllerei zum Jahreswechsel ab. Warum also nicht beim Verkauf von Feuerwerk jedweder Art die externen Kosten einpreisen? Warum zahlen – wie beim Fußball übrigens auch – alle mit, wenn einige es unbedingt krachen lassen müssen. Wenn schon ein Verbot vorgeblich nicht möglich ist, dann muss eben eine marktwirtschaftliche Lösung her: Feuerwerk muss richtig teuer werden.

Das Empörungsgebell in der „Bild Zeitung“ ist dann jedenfalls garantiert! „Und sobald ein klimaschädliches Produkt oder Verhalten bepreist werden soll“, schrieb mir der gute Pong zu Weihnachten, „hallt ein – geheuchelter – Aufschrei durch die Medienlandschaft, sich mit dem ‚kleinen Mann‘ solidarisierend, dessen Anrecht auf Mallorca-Flüge, eine Kreuzfahrt oder einen Diesel-SUV verteidigend. Dass wir es hier jedoch mit einer Heuchelei zugunsten kapitalistischer Interessen zu tun haben, zeigt sich immer dann, wenn es um die Wahrung echter Interessen des sogenannten kleinen Mannes geht, die Erhöhung des Mindestlohns, die Einführung eines gerechten Renten- und Steuersystems – alles Maßnahmen, die hierzulande seit Jahrzehnten im Interesse des Kapitalismus torpediert werden.“ Eine Empörung über die Silvesterfeiern in Sydney steht uns jedenfalls nicht an. Gutes Neues!