Geparde aus der Mottenkiste

Rom ist weiter vom Berliner Teufelsberg entfernt als Kiew. © Rolf Hiller

Da wollten wir schon lange hin. Im Casino der ehemaligen Flugüberwachungs- und Abhörstation der US-amerikanischen Streitkräfte auf dem Berliner Teufelsberg findet eine temporäre Kunstausstellung statt, die keiner besonderen Erwähnung wert ist. Aber das Gelände lohnt jederzeit einen Besuch. Der Teufelsberg wurde aus Trümmern aufgeschichtet und ist die zweithöchste Erhebung der Stadt, ein lost place, wie es inzwischen leider nicht mehr viele in Berlin gibt. Hier ist die Zeit stehengeblieben, überall sind kleine, teils witzige Installationen entstanden, Sprayer fanden dort ideale Bedingungen vor. Trotz 8 Euro Eintritt („Hier ist überall Kunst!“ meint der Kassierer) sind mehr Leute auf dem Gelände unterwegs, als wir erwartet haben. In Zeiten globaler Satellitenüberwachung und digitaler Kontrolle unserer Daten muten die Türme auf dem Teufelsberg anachronistisch an; trotzdem denke ich immer wieder an den Krieg in der Ukraine. Rom ist von Berlin weiter entfernt als Kiew.

Dass er sich die Entscheidung, dieses Land mit schweren Waffen zu unterstützen, nicht leicht gemacht hat, ehrt Olaf Scholz. Er personifiziert gewissermaßen die Stimmung im Lande – die eine Hälfte der Bevölkerung ist für die Lieferung von Panzern, die andere ist dagegen. Nach langen Querelen kam auch „seine“ SPD auf Linie; gestern wurde im Bundestag mit den Stimmen der CDU/CSU die Lieferung von schwerem Kriegsgerät beschlossen. Die Abwesenheit des Kanzlers irritierte; der Zeitenwender besuchte seinen japanischen Amtskollegen. Macht diese Lieferung einen Atomkrieg wahrscheinlicher? Vor den deutschen Geparden braucht der russische Bär einstweilen keine Bange zu haben: die Panzer stehen eingemottet beim Hersteller, nach Munition wird weltweit gefahndet. Der Tagesspiegel zitiert den Oberst a.D. Wolfgang Richter mit den Worten, die Geparde können „wahrscheinlich erst zum Jahresende“ (28.04.22) in der Ukraine eingesetzt werden. Das verrät wieder einiges über den Zustand der Bundeswehr, die jährlich 56 Milliarden Euro kostet; Deutschland besitzt damit den siebtgrößten Verteidigungsetat der Welt.

Kriegsentscheidend wird die Lieferung der Geparde an die Ukraine nicht sein, aber zwei Termine im nächsten Monat sind von großer Bedeutung. Am 9. Mai feiert Russland traditionell den Sieg über Hitlerdeutschland; bis dahin muss Zar Putin echte Erfolge seines Angriffskrieges auf die Ukraine vorweisen. Heute Morgen hörte ich im Radio, dass Russland in Transnistrien 20.000 Tonnen Sprengstoff lagert. Mitte Mai wollen sich die schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson und ihre finnische Amtskollegin Sanna Marin erneut treffen, um (final) über einen Aufnahmeantrag in die NATO zu entscheiden. Der dritte Weg zwischen den Blöcken, die viel beschworene Finnlandisierung, wäre dann am Ende; die finnisch-russische Grenze ist Wikipedia zufolge 1.340 km lang. Im sog. Wonnemonat kann der Sieger der französischen Präsidentschaftswahlen erst einmal durchatmen. Ob Emmanuel Macron nach den Parlamentswahlen im Juni mit „Merci“ danken kann, ist ungewiss. Nichts wird einfacher.

Alarmismus vs Attentismus

Dichtes Gedränge auf dem Bahnsteig in Frankfurt Süd. © Rolf Hiller

Nach Ostern sind die Züge der Deutschen Bahn schon wieder so gut besetzt wie vor der Pandemie; einige Fahrgäste sitzen bei den Türen auf dem Boden. Weil der Staatskonzern im Frühjahr jede Menge Baustellen eingerichtet hat, dauert meine Fahrt gut eine Stunde länger als sonst. Der ICE fährt nicht bis Hauptbahnhof, sondern endet schon in Frankfurt Süd, wo sich die Fahrgäste in dichten Schlangen zu den Treppen vorkämpfen. Laut hupend rauscht ein Zug an uns vorbei. Kein Wunder, dass zwei Tage später meine Corona Warn App zuverlässig „Begegnungen an 1 Tag mit erhöhtem Risiko“ meldet. Die Menschen sind geduldiger als der Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), dessen Partei sich in der gelben Ampelkoalition weder bei einer Maskenpflicht im öffentlichen Raum noch bei einer Impfpflicht durchsetzen konnte. Schiebt der medial (zu) präsente Mann deshalb Frust und muss vor einer Killervariante des Corona-Virus im Herbst warnen?

Der Osterverkehr in den Zügen der Deutschen Bahn hat schon einmal einen Vorgeschmack auf den Sommer geliefert, wenn man im Öffentlichen Personennahverkehr ein Vierteljahr lang für schlappe 9 Euro monatlich durch Deutschland reisen darf. Der FAZ schwant nichts Gutes: „Es wird ein endloser Sommer in endlos vollen Zügen.“ (20.04.22) Selten habe „der Staat auf überflüssigere Weise Geld rausgehauen (außer mit der Reduzierung von Benzinpreisen natürlich).“ Tatsächlich muten diese Maßnahmen wenig durchdacht und vor allem sozial ungerecht an. Hier wäre ein Zaudern des Kanzlers am Platz gewesen, nicht aber bei seinem endlosen Lavieren, ob wir der Ukraine schwere Waffen liefern sollen. Selbst ein Linker bei den Grünen wie Anton Hofreiter fordert diese Hilfe, genauso wie Annalena Baerbock und Robert Habeck. Wer bei mir Führung bestellt hat, bekommt sie auch, hat Olaf Scholz im Wahlkampf getönt. Geliefert hat er bis dato nicht.

Die Zeiten werden nicht leichter, die globalen Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine werden mit jedem Tag deutlicher. Da ist kein Basta gefragt, wohl aber ein Kanzler, der führen kann und seine Richtlinienkompetenz einsetzt. Hoffentlich wird die Rolle der größten Volkswirtschaft in der EU nach der Wahl am Sonntag in Frankreich nicht noch wichtiger. Sollte Emmanuel Macron wider alle Hoffnungen gegen Marine Le Pen bei der Präsidentschaftswahl verlieren, käme es noch mehr auf den deutschen Kanzler an. Der mag bekanntlich „Rock, Jazz, Klassik“, wird aber wahrscheinlich einen der ganz großen Musiker des Modern Jazz nicht kennen. Der Bassist und Komponist Charles Mingus wurde am 22.04.1922 geboren. Unvergessen der Auftritt seines Sextetts in den frühen Morgenstunden beim Festival del Jazz in Verona 1972. Seine Musik wurde meine.

Out of Control

Ganz großes Fernsehen. Sebastian Koch spielt in „Euer Ehren“ einen Richter, der zunehmend die Kontrolle über sein Leben verliert. © ARD Degeto/ORF/SquareOne Productions/Mona Film/Andreas H. Bitesnich

Widersprüche müssen wir aushalten. Wir leben unser „normales“ Leben weiter, während die russische Armee in der Ukraine wütet und Völkermord begeht, wie der amerikanische Präsident Joe Biden (ganz undiplomatisch) befand. Die globalen Folgen dieses Krieges kann derzeit niemand abschätzen. Dass hierzulande die Preise massiv ansteigen und die Inflation, ist eine Folge, in anderen Teilen der Welt drohen Hungersnöte. Denn die Ukraine, aber auch Russland werden in diesem Jahr deutlich weniger Getreide exportieren. Bei uns hingegen wird ein großer Teil des Getreides (noch) als Tierfutter verwendet oder dient zur Herstellung von Biokraftstoff. Längst wissen wir alle, was zu tun wäre – weniger Fleisch essen, weniger Auto fahren. Genauso konfrontiert mich Corona täglich mit Widersprüchen. Im mäßig besuchten Chorkonzert trage ich eine Maske, im voll besetzten Raum beim Yoga nicht. Freunde begrüße ich nur noch mit einer Verbeugung, dann sitzen wir stundenlang beim Essen und erzählen. Das Bewusstsein von Widersprüchen birgt ihre Auflösung.

Manchmal aber nehmen die Ereignisse eine verhängnisvolle Entwicklung. Plötzlich gerät das Leben eines Mannes aus den Fugen. Je mehr er sich dagegen wehrt, um so mehr verstrickt er sich. Glänzend verkörpert Sebastian Koch einen Richter, dessen Sohn ohne Führerschein einen folgenschweren Unfall mit Fahrerflucht begeht. Er versucht die Tat zu vertuschen, verwickelt sich immer mehr, wird selbst zum Täter. Wie sich herausstellt, ist das Opfer der Sohn eines serbischen Clanchefs, den er vor Jahren hinter Gittern brachte. Die komplexe Geschichte mit vielschichtig angelegten Charakteren entwickelt von Beginn an eine Sogwirkung. „Euer Ehren“ (ARD Mediathek) ist eine Adaption der israelischen Vorlage „Kvod“ und durchweg gelungen. Überzeugende Schauspieler, neben Sebastian Koch etwa Paula Beer und Tobias Moretti, ein gutes Drehbuch, eine starke Regie (beides David Nawrath), tolle Bilder und eine grandiose Filmmusik. Dieser TV-Krimi setzt neue Maßstäbe, und wir fiebern schon dem Finale des Sechsteilers entgegen. Ganz großes Fernsehen!

Hätte der Richter sich nicht überschätzt und versucht, die Tat zu vertuschen, sondern sich professionelle Hilfe gesucht, beim Anwalt oder sogar bei der befreundeten Polizistin, hätte diese Geschichte einen anderen Verlauf genommen. Das gilt sicher auch für die Familienministerin a.D. Anne Spiegel, die versuchte, erst ihre SMS-Kommunikation zu beschönigen und dann ihren Familienurlaub zu rechtfertigen. Nach Katastrophen wie im Ahrtal letztes Jahr feixt man nicht wie Armin Laschet oder verschwindet einen Monat in die Ferien. Spiegel hätte sich professionell durch diesen Prozess begleiten lassen sollen, um ihre persönliche Integrität zu wahren. Ob ihre Partei Die Grünen sie dann gehalten hätte, steht dahin. Mir tat Anne Spiegel trotz ihrer Fehler am Ende leid; so viel Häme – von Bild-TV und anderen – hat sie ertragen müssen. Wer die Kontrolle über seine mediale Performance verliert, der hat schon verloren. Die beliebtesten Politiker:innen sind laut ARD-DeutschlandTREND gerade Robert Habeck und Annalena Baerbock vor Olaf Scholz. Nach seiner Zeitenwende-Rede kam vom Kanzler nicht mehr viel. Und das ist zu wenig.

Scheitern

Frank-Walter Steinmeier über Wladimir Putin: „Da habe ich mich, wie andere auch, geirrt.“ © Pixabay

Eine Seefahrt, die ist lustig. Eine Fahrt auf der Elbe in Hamburg kann auch sehr schön sein. Bei einem Familientreffen machen wir eine kleine Tour, sitzen vergnügt an Deck; natürlich geht eine leichte Brise. Zwei von uns lassen arglos die Masken fallen und werden sofort in den Senkel gestellt. Ein Terrier auf zwei Beinen – „Hochbahn-Wache“ steht auf seiner Warnweste – lässt sich die Ausweise der Delinquenten zeigen und zückt seinen Block, um die Übeltäter mit jeweils 40€ Strafe zu belegen. Die Jubilarin versucht zu vermitteln, der Terrier knurrt und läßt ab von den Jungs. Der ganze Wahnwitz der aktuellen Corona-Lage hierzulande spiegelt sich in dieser Situation. Im ÖPNV (dazu zählen auch Fähren) herrscht weiter Maskenzwang, selbst bei Windstärke 9 an Deck. Der Terrier war vollkommen im Recht, wir schütteln danach alle schicksalsergeben den Kopf und freuen uns auf das Menü am Abend. Wahrscheinlich ist es, in Deutschland zumal, nicht möglich, bei der Maskenpflicht auf einer Fähre zwischen Deck und Kabine zu unterscheiden.

Fehler passieren, und es ehrt den Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, dass er Irrtümer und Fehleinschätzungen zugibt und korrigiert – aber doch nicht in einer Talkshow und bei Twitter. Als One-Man-Show kann man dort unterwegs sein, nicht aber im politischen Geschäft. Nach der Volte beim Thema Isolationspflicht musste der Medien-Minister noch einen Tiefschlag verkraften: es wird in Deutschland keine Impfpflicht geben. Das ist genauso eine Niederlage für den Kanzler, denn Olaf Scholz hatte sich ganz klar dafür ausgesprochen – einen eigenen Gesetzentwurf wollte die gelb dominierte Dreier-Koalition aber nicht ins Parlament einbringen. Dass Scholz die Dinge laufen lässt anstatt von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch zu machen wird sich noch rächen. Die Mehrheit der Deutschen ist für eine Impfpflicht und für mehr Maske im Alltag und weiß sich damit in guter Gesellschaft mit den meisten Expert:innen. Vielleicht versuchen sich Lauterbach & Scholz jetzt erst einmal an der Einführung eines zentralen Impfregisters, das in Zeiten der Pandemie ja ganz sinnvoll wäre.

Ein Lavieren bei der Einschätzung des russischen Diktators kann man dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier nicht mehr vorwerfen: „Meine Einschätzung war, dass Wladimir Putin nicht den kompletten wirtschaftlichen, politischen und moralischen Ruin seines Landes für seinen imperialen Wahn in Kauf nehmen würde. Da habe ich mich, wie andere auch, geirrt.“ Alte Irrtümer schützen aber nicht vor neuen Fehlern, wie die polnische Zeitung Rzeczpospolita kommentiert: „Worauf warten wir nach Butscha noch? Auf den Einsatz von Chemiewaffen? Atomwaffen? Oder vielleicht warten wir auch auf gar nichts mehr, sondern gehen zum Tagesgeschäft über, weil wir die Bilder der russischen Barbarei satt haben. Die Verbrechen werden langsam zum Alltag.“ (07.04.22) Nach dem ersten Schock des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, den Sondersendungen im Fernsehen und im Radio, den immer neuen Eilmeldungen, haben wir uns in der siebten Woche des Krieges an das Grauen gewöhnt. Leider! Becketts Wort ist wahrer denn je: „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Aber wie?

Namaste

Beste Stimmung fast ohne Masken: Maluma rockt die Frankfurter Festhalle. © Rolf Hiller

Ausverkauft! Das Konzert des kolumbianischen Sängers Maluma in der Frankfurter Festhalle war bis auf den letzten Platz besetzt; der Veranstalter hätte noch mehr Tix verkaufen können. Geplant war sein Auftritt fast auf den Tag genau vor zwei Jahren – und musste dann wegen des Lockdowns geschoben werden. Natürlich gelten (noch) die strengen Hygiene-Regeln, die Kontrolle am Eingang ist genau. Kaum wird es in dem riesigen Konzertraum dunkel, fallen die allermeisten Masken; schätzungsweise 80% des Publikums tragen keine mehr. Dass die Handys ausgemacht werden sollen, schert ebenso niemand. Noch vor Beginn des Konzerts springen alle von ihren Sitzplätzen auf, die Begeisterung kennt keine Grenzen. Es wird geknipst, gefilmt und gepostet, was das Zeug hält. Das Mädel in der Reihe vor mir schießt Selfies wie am Fließband. Ohne Tattoo fällt man genauso in der begeisterten Menge auf wie mit Maske. Lange habe ich nicht mehr solch eine Stimmung erlebt bei einem Konzert; Maluma, der Star des Reggaeton und seit 2010 im Geschäft, hat’s echt drauf.

Die Durchsetzung des Hausrechts, also die Verpflichtung zum Tragen einer FFP2-Maske, wäre an diesem Abend schwerlich möglich gewesen; man hätte das Konzert nur abbrechen können. Der Hunger bei jungen Leuten nach Live-Events und Parties ist nach der Abstinenz der letzten beiden Jahre gewaltig. Zumindest bei ihnen rennt die Bundesregierung mit dem neuen Infektionsschutzgesetz, das ab dem Wochenende bundesweit gilt, offene Türen ein. Ansonsten hält sich die Begeisterung über die weitgehende Abschaffung der Maskenpflicht in Grenzen. Viele Politiker:innen setzen auf die Vernunft, also das freiwillige Tragen, oder auf das Hausrecht. Einige Veranstalter haben schon angekündigt, dass in ihren Häusern weiterhin die Pflicht zum Tragen einer Maske bestehen bleibt. Alles in allem wird die Lage noch unübersichtlicher und dürfte bald die Gerichte beschäftigen. Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern haben jedenfalls die Hotspot-Regelung bis Ende April für ihr gesamtes Gebiet verfügt.

Nicht bloß beim neuen Infektionsschutzgesetz hat sich der kleinste Partner der Dreier-Koalition durchgesetzt, auch bei der Diskussion um ein allgemeines Tempolimit gibt die FDP den Ton an. Experten zufolge könnten so 4% des Kraftstoffs eingespart werden; die Senkung der Raumtemperatur um 1 Grad bringt übrigens eine Ersparnis von 6%. Wann, wenn nicht jetzt, wäre der Moment gekommen, im letzten Industrieland der Welt endlich ein Tempolimit einzuführen. Von den Grünen, die in der Ampel ansonsten einen guten Job machen, ist dazu nichts zu vernehmen. Dabei kostet diese Maßnahme keinen Cent und würde doch eine alte Forderung ihrer Klientel erfüllen. Genauso wenig ist zu verstehen, warum die beiden stärksten Parteien der Regierung nicht auf einer sozialen Komponente bei der staatlichen Subvention der explodierenden Energiepreise bestanden haben. Dieses Primat der Geschlossenheit könnte sich noch rächen. Wir fahren freiwillig nur 110 km/h auf Autobahnen, tragen weiter Maske, und ich verbeuge mich zur Begrüßung. Das ist kein Aprilscherz. Namaste.