Stille Nacht

In Memoriam Eugen Hahn. Der langjährige Pächter des Frankfurter Jazzkellers starb diese Woche. © Rolf Hiller

Weihnachten im harten Lockdown werden wir nicht vergessen. Drei Tage sind heuer wirklich alle Geschäfte geschlossen, aber diese logistische Herausforderung ist nichts gegen die Beantwortung der Frage: Wie verhalte ich mich in Zeiten der Pandemie zu Weihnachten? Fährt man/frau zu Verwandten? Ist das Risiko zu hoch? Wie soll man/frau dieses Risiko einschätzen und begrenzen. Wir hören von einer jungen Familie, die sich komplett testen ließ und dann noch in freiwillige Quarantäne begab, um guten Gewissens zu den Großeltern zu reisen. Erstaunlich viele Menschen haben ganz auf Reisen und Besuche in diesem Jahr verzichtet und bleiben allein. Nicht weil sie den Verordnungen der Politiker*innen folgen, sondern aus reiner Vernunft. Das Risiko einer Ansteckung ist ihnen zu hoch, denn inzwischen wissen (fast) alle, dass gerade in der Familie, bei privaten Feiern die Ansteckung mit dem C-Virus droht.

Wir lassen Weihnachten für uns immer eine Gans in einem nahe gelegenen Kiez-Restaurant zubereiten und haben ein befreundetes Ehepaar aus der Nachbarschaft eingeladen. Ein schöner, immer wieder nachdenklicher Abend, unter Einhaltung der C-Regeln versteht sich. Ein erster Moment der Besinnung nach Tagen im Hamsterrad im sog. Home-Office. Der Job ist schwieriger geworden in diesem Jahr, Routinen waren aufgehoben, Abstimmungen sind mühseliger geworden; zudem sind die Umsatzrückgänge gravierend. Wir haben uns an das Leben in der Pandemie gewöhnt. Während beim Shutdown im März das ganze Land in eine Schockstarre verfiel, läuft das Leben seit dem 16. Dezember routiniert weiter. Viele Geschäfte & Restaurants bieten einen Bestell- und Abholservice, in Berlin dürfen sogar Buchhandlungen, Papiergeschäfte und Copyshops geöffnet bleiben.

Doch wir vermissen „Kultur und Freizeit“, uns fehlen reale Eindrücke und Erlebnisse. Keine Lust auf Streaming! In diesem Jahr war ich nicht einmal im Frankfurter Jazzkeller, bin nicht einmal die steile Treppe in den Club hinuntergestiegen. Wenn ich das nächste Mal komme, wird er nicht mehr da sein: Eugen Hahn. Am Dienstag starb der langjährige Pächter des legendären Clubs im Alter von 79 Jahren. Wir kannten uns seit 1986, als Eugen mit seiner damaligen Partnerin Regine Dobberschütz am 1. Mai den Keller übernahm – und dann eigentlich immer da war, mit seiner nie nachlassenden Begeisterung für die improvisierte Musik. Immer war er Feuer und Flamme, stets musste er mir etwas erzählen. Einmal schenkte er mir eine CD-Compilation, die er selbst zusammengestellt und gestaltet hatte. Da ich zum Ende dieses Blogs komme, laufen wieder seine „afn berlin. Swingin‘ Memories“. Bei unserer ersten Begegnung hatte mir Eugen – wir waren sofort per Du – in die Feder diktiert: „Alle wollen, dass so’n Laden nicht totgeht.“ Seine Familie möchte den Jazzkeller weiter betreiben. Zumindest das ist eine gute Nachricht.

Back to Control

Das neue Berliner Stadtschloss aka Hufo: drei Seiten barock, eine funktional. © Rolf Hiller

Sechsmal werden wir noch… Heuer werden wir besonders stille, nachdenkliche Weihnachten feiern. Danach sollen dann auch bei uns die Impfungen gegen Corona beginnen, und am 31.12. werden die Briten endgültig die EU verlassen – und den harten oder weichen Brexit vollziehen. Angeblich soll nur noch bis Sonntag verhandelt werden. Wer’s glaubt! Dann hat der Gambler Boris Johnson wieder die Kontrolle über das United Kingdom. Congratulation! Der Prime Minister träumt von einer Freihandelszone ohne Regelung des Wettbewerbs und will die eigenen Fischfanggebiete von der britischen Marine schützen lassen. So wird das nichts, Mr. Johnson, und doch ist der Brexit jammerschade; nicht bloß weil Großbritannien der zweitgrößte Nettozahler der EU war und einen Platz im Weltsicherheitsrat hat.

Back to Control. Das wünschen sich sicher auch die Freund*innen des Humboldt Forums, das nach angeblich Corona bedingten Verzögerungen am Mittwoch eröffnet wurde, erst einmal nur digital. Der Neubau des Stadtschlosses in der Mitte Berlins mit 750 Metern neuer Barockfassade erhitzt weiter die Gemüter. Das „größte Kulturprojekt Europas“ hat sich dem interkulturellen Dialog verschrieben und schmückt sich mit Raubkunst, deren Provenienz gar nicht mehr geklärt werden muss. Die Kuppel der Rekonstruktion ziert ein Kreuz mit der Inschrift: „Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“ Pünktlich zur Eröffnung hat Nigeria seine Forderung erneuert, dass die berühmten Benin-Bronzen zurückgegeben werden müssen. Das Projekt Hufo, wie es der Satiriker Jan Böhmermann schon zu nennen pflegt, überzeugt weder architektonisch noch konzeptionell und hat den Steuersäckel 700 Millionen Euro gekostet.

Die Berliner*innen werden sich an das neue & alte Stadtschloss in Mitte gewöhnen (müssen); einige Neugierige pirschten schon am letzten Wochenende vor der Eröffnung um das riesige Gebäude. Wir treffen ein Ehepaar in gesetzten Jahren, er jovialer Typ mit Zigarre wünscht uns schöne Feiertage. „Wir brauchen dieses Mal nicht zur Familie“, feixt er vergnügt. Der harte Lockdown kennt also nicht nur Verlierer, doch ansonsten richten sich alle Hoffnungen auf die Impfungen, derweil die Bereitschaft mitzumachen sinkt. Warum also nicht die belohnen, die sich freiwillig (!) impfen lassen. Die Stuttgarter Zeitung hat schon einmal weitergedacht: „Wir steuern auf eine pandemische Zwei-Klassen-Gesellschaft zu: Könnte der Impfstatus über den Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und privaten Dienstleistungen entscheiden? Was ist, wenn etwa Fluggesellschaften, Hotels oder Fitnessclubs künftig Einblick in den Impfpass verlangen, um riskante Kundschaft fernzuhalten?“ (18.12.20) Wir machen auf jeden Fall mit!

Härte

Die Zahl der Neuinfektionen erreicht in Deutschland einen neuen Höchststand.

Nachtreten gilt nicht! Nun sind Kultur & Freizeit seit sechs Wochen dicht, aber die Zahlen gehen nicht runter. Wo breitet sich das C-Virus aber aus? Beim Einkaufen, in den Bussen und Schulen, beim Glühwein uff‘ de Gass‘ oder in den Familien? Wir wissen es nicht und werden es mit unserer Corona-App auch nie erfahren, wie „Die Welt“ moniert. „Die Software, die Warn-Apps, die ganze digitale Infrastruktur muss jetzt endlich dem Kampf gegen das Virus dienen . . . Kontaktverfolgung und Datenschutz nach deutscher Art passen nicht zusammen.“ (07.12.20) Nun also vor oder nach Weihnachten ein harter Lockdown, wie wir ihn schon im Frühling erlebt – und wieder vergessen haben, womöglich sogar mit Ausgangssperren und ohne Böllerei an Silvester. Ist das ein zu großes Opfer? Wem ist denn derzeit schon nach Feiern zumute.

Inzwischen richten sich alle Hoffnungen auf den Impfstoff – allerdings müssten 70% aller Deutschen mitmachen. Logistisch dürfte das eine ungeheure Herausforderung werden, denn das Vakzin von Biontech/Pfizer kann bekanntlich nur bei – 70º gelagert werden. Müssen die geplanten Impfzentren rund um die Uhr bewacht werden, entsteht ein Schwarzmarkt, bekommen die Geimpften als Belohnung Privilegien, wie werden z.B. die Risikopatienten ermittelt? Fragen über Fragen. Die schier unverwüstliche Queen Elisabeth (94) und ihr Gemahl Prinz Philipp (99) wollen sich jedenfalls impfen lassen. Bravo! Solche Briten loben wir uns, nicht Gambler wie Boris Johnson. Das letzte Kapitel der never ending Story Brexit soll am Sonntag geschrieben werden. Good Luck!

Wird sich auch das Bundeskabinett impfen lassen, möglichst vor laufenden Kameras? Allen voran die Kanzlerin, die im Bundestag wie eine „alte Löwin“ (Tagesspiegel) für einen sofortigen härteren Lockdown kämpfte. Müssen wir überhaupt auf diese neuen Maßnahmen der Politik warten, weiß denn nicht jede*r, was zu tun ist bei 29.875 heute gemeldeten Neuinfektionen? Wir werden uns jedenfalls nicht in das am Wochenende drohende Power-Shopping stürzen, um noch irgendwelche Geschenke zusammenzuraffen. Es genügt der gesunde Menschenverstand, um die AHA-Regeln als alternativlos zu beherzigen. Den Freunden von der TAZ gebührt deshalb heute das Schlusswort: „Corona ist solchermaßen auch eine Übung in Selbstverantwortung, in Selbststeuerung. Gut so. Denn bei einem Mensch-zu-Mensch-Infektionsgeschehen ergibt es keinen Sinn, die Verhaltenssteuerung ganz allein an die Politik abzugeben.“ (08.12.20)

Trugschlüsse

Ganz großes Fernsehen: der ARD-Dreiteiler „Das Geheimnis des Totenwaldes“. © NDR/ConradFilm, Bavaria Fiction 2020/Christiane Pausch

Überraschung! Natürlich nicht – das Wort des Jahres heißt „Corona Pandemie“. Acht der zehn vorgeschlagenen „Wörter des Jahres“ haben mit dem Virus zu tun, das unser aller Leben bestimmt und langfristig ändern wird. Früher, also noch vor einem Jahr, gingen wir einkaufen, wann wir wollten, oder spontan mal ins Kino oder in eine Ausstellung. Heute planen wir unsere Einkäufe, gehen möglichst in Zeiten mit wenig Kunden, und sind spontan nur noch bei der Auswahl der abendlichen Unterhaltung. Lieb gewordene Routinen im Job & Alltag gibt es nicht mehr; alles ist schwieriger und aufwändiger geworden. Das Leben in Pandemie ist anstrengend. Nach dem Flop mit der Corona-App ruhen jetzt alle Hoffnungen auf dem Impfstoff. Wenn 70% sich impfen lassen würden, hätten wir eine Herdenimmunität, und das Leben ginge weiter wie vor der Pandemie. Pustekuchen! „Ausrotten lässt sich das Virus global auf keinen Fall“, befindet der Infektionsbiologe Stefan H.E. Kaufmann, „denn es ist ein zoonotischer Erreger mit versteckten Tierreservoirs. Wir werden mit Sars-CoV-2 leben müssen, aber wir werden es kontrollieren können.“ (FAZ, 25.11.20)

Derzeit gelingt die Kontrolle jedenfalls nicht: der Teil-Lockdown hat bisher nur zu einem Stillstand bei der Zahl der Neuinfektionen geführt. Längst ist keine klare Linie der politisch Verantwortlichen mehr zu erkennen. Weihnachten zu planen ist genauso schwierig wie Silvester, in Baden-Württemberg gibt es im Moment faktisch eine Ausgangssperre von 21 bis 5 Uhr, hier und da dürfen Hotels über Weihnachten für Privatgäste öffnen, und am Ende entscheidet jede Kommune über Silvesterparties. Derweil rächen sich die Versäumnisse des Sommers: es wurden keine Konzepte für die Pflege- und Altenheime, die Schulen oder die geplanten Impfzentren entwickelt. Deutschland erlebt „einen politischen Schlingerkurs“ (Rhein-Neckar-Zeitung) durch die Pandemie, aber zumindest scheint es einigen Verantwortlichen zu dämmern, dass man Fixkosten ausgleichen, aber doch nicht ausgefallene Umsätze zu 75% erstatten kann.

Durch die „Kulturmedienschau“ in SWR 2 wurden wir auf „Das Geheimnis des Totenwaldes“ (Regie: Sven Bohse; Buch: Stefan Kolditz) aufmerksam. Der packende Dreiteiler erzählt „frei nach wahren Begebenheiten“ vielschichtig und über drei Jahrzehnte hinweg vom Schicksal einer Frau, die plötzlich verschwand. Es entspinnt sich in einer niedersächsischen Kleinstadt ein Geflecht von Geschichten. Im Stile von „true crime“ erzählt, erhalten wir Einblick in bizarre Biographien und seltsame Motive dieser Menschen, in Pseudo-Idyllen und in einen provinziellen Ermittler-Apparat. Gewissheiten gibt es keine in dieser Trilogie der Extraklasse, die ganz hervorragende Schauspieler*innen prägen, allen voran Matthias Brandt als Hamburger LKA-Chef, der privat in einen Albtraum verstrickt wird. Wir fiebern schon den nächsten Folgen (05.12., 09.12. oder ARD-Mediathek) dieser unheimlichen Geschichte entgegen. Wann hat es das zuletzt bei einer TV-Produktion gegeben!