Freie Sicht in alle Himmelsrichtungen von der Sturmhöhe hoch oben auf der Lietzenburg heute Morgen um neun Uhr. Foto: Rolf Hiller
Von Haus zu Haus sind es 277 km, und zu Fuß dauert diese Strecke 2 Tage und 11 Stunden. Das wäre mit dem Gepäck ohnehin nicht zu schaffen – auf geht‘s mit den Freunden nach Hiddensee per Bahn, Bus, Fähre und Wassertaxi. Das Gepäck schaffen wir im Handwagen vom Hafen in Kloster zur geliebten Lietzenburg. Rasch die Sachen abgestellt, Essen gibt es nämlich nur bis 9 Uhr im „Wieseneck“. Wir werden natürlich freundlich-muffig ermahnt, dürfen aber noch etwas bestellen. Herrlich! Alles wie immer, die lange, achtstündige Reise, die uns schon einstimmt auf einen anderen Rhythmus, auf Hiddensee. Hier gibt es keine Autos und eine andere Zeit. Die Faszination dieser Insel hat sich erhalten, trotz mancher Veränderungen und der vielen Tatous (Tagestouristen), die über Mittag hier unterwegs sind.
Vom Klimawandel, der die (deutsche) Europawahl bestimmt, ist hier noch nichts zu spüren. Die Höchsttemperaturen liegen bei 15°, das Meer lädt bei 12 – 14° nicht gerade zum Bade ein. Wenn es regnet, könnte es auch schon der Frühherbst sein. Macht aber nichts: unser Sehnsuchtsort Hiddensee ist immer großartig. Natürlich verfolgen wir die Klatschen für die Berliner Regierungskoalition – die Ergebnisse für CDU und SPD sind deprimierend, das Verhalten ihrer Parteivorsitzenden danach erst recht. Annegret Kramp-Karrenbauer beschädigt sich immer mehr selbst, von der „Theresa May der SPD“ (Münchener Merkur) Andrea Nahles ganz zu schweigen. Friedrich Merz hält sich derweil sehr bedeckt und konstatierte nüchtern im „Spiegel“: „Nach dem Ergebnis dieser Europawahl muss sich die CDU fragen, warum wir nach 14 Jahren Klimakanzlerin unsere Klimaziele verfehlen.“
Natürlich höre ich am Mittwoch „When I‘m Sixty-Four“ von den Beatles, und natürlich gehen die Frau und ich bei strahlenden Plus-12-Temperaturen zur Erfrischung ins Wasser, kurz und mutig. Der Song klingt bloß poppig leicht, hat aber durchaus eine düstere Bedeutung, die mir erstmals auffällt, mich aber nicht weiter beschäftigt. Noch ist alles gut, es geht mir gut, Glückwünsche trudeln ein, ein Strauß mit frischen Inselblumen steht auf dem Tisch, um den wir nun nicht mehr zu viert sitzen – zwei meterhohe Giraffen (zum Aufblasen) blicken stumm auf dem ganzen Tisch herum. Abends dann „Robinson Crusoe“ in der Seebühne, anschließend ein Nachtmahl im „Godewind“ (warme Küche ab Mittwoch bis 22 Uhr), zurück über den Deich beim Gezwitscher der Sprosser. Licht aus!
Raus aus dem Fachwerk-Hotel geht’s in die Tristesse deutscher Architektur.
Keiner da im Fachwerk-Hotel in Barmen. Zum Glück erreichen wir jemanden mobil und erhalten den Code für die Eingangstür. Das Haus ohne Personal wurde aufwändig & geschmackssicher renoviert und wirkt in der baulichen Tristesse der Umgebung wie eine Botschaft aus besseren Zeiten. Keine Zeit für Reflexionen & Trödeleien; wir sind mit einem gewissen Herrn Pong bei „Onkel Ludwig“ verabredet. Das Restaurant mit Deckchen auf den Tischen und dem Holzmobiliar der 70er Jahre ist schon um 18h gut besucht und für sein wohlfeiles, gutbürgerliches Essen bekannt. Von dort sind es nur ein paar Schritte zum Opernhaus, wo das Publikum im Foyer dicht an dicht steht. Was Wunder, ein Stück von Pina Bausch ist seit 1990 zum ersten Mal wieder zu sehen. Das Haus ist ausverkauft!
Bettina Wagner-Bergelt, seit Anfang des Jahres Intendantin des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, drückt uns die Tix in die Hand und ab geht’s ins Gestühl, das keinen Vergleich mit den Berliner Bühnen zu scheuen braucht; in jedem Multiplex-Kino sitzen wir besser. Kann man ein Stück von Pina Bausch ohne die charismatische Begründerin des Tanztheaters überhaupt aufführen, zumal es keine verbindliche Überlieferung gibt? Solche Fragen gehen mir bei „Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloß, die anderen folgen“ durch den Kopf; das Stück ist eine Auseinandersetzung mit „Macbeth“ und bildet im Oeuvre von Pina Bausch eine Ausnahme. Standing Ovations – auch wir stehen gerne auf – nach dreieinhalb Stunden, die mir nach einem langen Tag am Ende doch lang wurden.
Tags drauf gibt Tina der New York Times ein Interview, und wir werden fast erschlagen von der Hässlichkeit des Technischen Rathauses. Wie konnte das nur geschehen, dass solche abweisend-monströsen Gebäude gebaut wurden, nicht bloß in Wuppertal, das Anfang des 20. Jahrhunderts als reichste Stadt Deutschlands galt. Von dieser Pracht kündet noch die Villa Waldfrieden mit ihrem herrlichen Park, die inzwischen dem englischen Künstler Tony Cragg gehört; er hat hier einen beeindruckenden Skulpturenpark errichtet. Wir sind begeistert, kommen wieder und fahren dann 27km mit der Schwebebahn, die gerade noch restauriert wird.
Im Wonnemonat Mai gibt es Erdbeeren & Spargel satt, und wir freuen uns auf das Theatertreffen in Berlin: zehn bemerkenswerte Inszenierungen werden von einer fachkundigen Jury eingeladen. „Es wurden“, lesen wir beeindruckt auf der Homepage der Berliner Festspiele, „418 Inszenierungen in 65 deutschsprachigen Städten besucht. 744 Voten gingen bei uns ein und die einzelnen Juror*innen haben jeweils zwischen 94 und 121 Inszenierungen gesehen. Insgesamt wurden 39 Inszenierungen vorgeschlagen und diskutiert.“ Respekt! Trotz munterer Reisetätigkeit brachten die Experten indes kein einziges Theaterstück mit nach Berlin. Oha. Mir schwant erst recht nichts Gutes, als ich Patrick Wildermanns Vorschau im Berliner Tagesspiegel lese: „Ein Besuch in einer Nebelmaschinenfabrik, ein zehnstündiges Antiken-Event mit Verköstigungsangebot, der epileptische Krampf als Spielmethode, eine Gothic-Geisterbahn und ein sexbesessener Schweine-Guru namens ‚Tüffi‘.“ (31.01.2019)
Ehe wir uns dem zotigen & vermeintlich sprachkritischen Aufsagtheater um „Tüffi“ aussetzen, spricht uns ein Besucher aus Luxemburg an. Er beglückwünscht uns zur Flucht aus der Volksbühne am Vorabend – nach 90 Minuten hatten wir genug von „Erniedrigte und Beleidigte“, eine Dostojewski-Vernichtung der Brüller, Hampler und männlichen Nackedeis – Musik, Video & Action-Painting natürlich inklusive. Eine Dame macht sich in der U-Bahn-Station empört Luft; morgen gehe sie in die Schaubühne zu „Richard III“. Gute Entscheidung. Lars Eidinger zieht zwar auch gerne blank, erleben kann man aber ganz großes Theater, das schon dutzende Male gegeben wurde. Wir halten im Haus der Berliner Festspiele nur bis zur Pause durch. „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“ heißt die sog. Komplettüberschreibung, und das „spielwütige Ensemble“ (Programm-Flyer) samt Autor PeterLicht müsste sich für diese Untat jeden Tag bei Molière entschuldigen. Wieder Einverehmen an der Garderobe, wieder einvernehmliche Flucht.
Bei Thorsten Lensings Bühnenadaption von David Foster Wallace‘ Roman „Unendlicher Spaß“ flieht niemand aus den Sophiensälen. Wir sind gebannt von einer auf diesen Regisseur eingeschworenen Schauspielerschar, allen voran die grandiose Ursina Lardi und Devid Striesow, ein fabelhafter Wiedergänger von Jack Nicholson. Aus einem eigentlich nicht dramatisierbaren Roman hat Lensing in geduldiger, jahrelanger Arbeit ein Theaterereignis geschaffen, das Ereignis dieses so wenig bemerkenswerten Theatertreffens 2019. Im nächsten Jahr soll es eine Frauenquote geben. Dieser Tribut an den Zeitgeist bürgt indes nicht für mehr Qualität. Wie wär‘s mit einer Götterdämmerung? Eine neue Jury und eine Theaterstück-Quote. Mindestens die Hälfte der Produktionen müssen für die Bühne geschrieben worden sein. Es lebe das Theater!
Regen und Messe – also Stau. Stop and Go am Frankfurter Kreuz, der Verkehr quält sich auf acht Spuren voran wie in LA. In den meisten Autos sitzt nur eine Person. Ich habe schon schlimmere Situationen erlebt und auch schon länger gebraucht, um gen Süden zu kommen. In Heppenheim will ich meinen Sohn treffen und brauche für die 62 km lange Strecke knapp 90 Minuten. Der ganz normale Wahnsinn auf deutschen Autobahnen; nicht bloß diese Infrastruktur ist in der Rushhour total überlastet. Letzte Woche waren wir auf der A5 nach Freiburg unterwegs – auf der rechten Spur eine einzige Kolonne von Lastern.
Es gibt nichts zu beschönigen: auch ich trage durch mein Verhalten zum Klimawandel bei, auch ich werde dafür bezahlen müssen. Diesen Montag hat der Weltbiodiversitätsrat IPBES noch einmal darauf hingewiesen, dass in den nächsten Jahrzehnten eine Million Arten vom Aussterben bedroht sind. Die Hälfte der Korallenriffe ist schon verschwunden; der Rest wird nicht überleben können. Der Grund dafür ist bekannt: die weltweite Erderwärmung. Trump hingegen leugnet den Klimawandel und sein brasilianischer Wiedergänger Bolsonaro kürzt die Mittel für den Klimaschutz um 95%! Letztlich bin ich keinen Deut besser als Trump. Ich habe mein Verhalten nicht geändert, fliege mal munter ein paar Tage nach Malle oder übers WE nach Rom. Zwar empfinde ich inzwischen auch Flugscham (diesen Begriff habe ich kürzlich gelernt), aber dem Klima ist es egal, ob ich mit schlechtem Gewissen in einem Flieger hocke oder nicht.
Der ganz normale Wahnsinn geht immer weiter, natürlich auch am BER, dessen Eröffnung nun an Dübeln und Kalksandstein endgültig zu scheitern droht – die Probleme seien seit 2012 (!) bekannt; mehr dazu im ARD-Magazin Kontraste. Vielleicht ist dieser Skandal ein Menetekel zur rechten Zeit. Vielleicht nutzen die Berliner Piefkes das Desaster als Chance zur Besinnung – und verzichten ganz auf einen neuen Flughafen. Am besten wir motten Tegel gleich auch noch ein und hätten dann im internationalen Wettbewerb einen weiteren USP (unique selling point). Berlin wäre die erste Metropole weltweit ohne Flughafen, und die Touristen blieben weg. Wowereit sei Dank!
Nach der ereignisreichen Anreise gönnen wir uns erst mal einen Tag Ruhe in Chachapoyas. Wir befinden uns auf 2.335 Metern und sind endlich in den Anden angekommen! Das Programm der kommenden Tage sieht Wanderungen zu den Ruinen von Kuelap und dem Wasserfall Gocta vor, aber wir starten mit einer Erkundung der Stadt.
Chacha, wie es von den Locals meist nur genannt wird, ist eine schöne, ruhige Stadt mit vielen weiß getünchten Gebäuden aus der Kolonialzeit. Als sogenannte „Weiße Stadt“ herrscht hier auch ein Verbot von Mototaxis, und es ist daher gleich wesentlich ruhiger als im quirligen Máncora. Wir lassen uns treiben und landen irgendwann im örtlichen Marktgebäude – eine Attraktion für sich. Die Märkte in Südamerika sind immer einen Besuch wert; es gibt meist eine Vielzahl von kleinen Ständen und es herrscht ein lebhaftes Treiben. Neben Fleisch (ohne Kühlung), Backwaren und einem Haufen Krims Krams gibt es unzählige Sorten von Obst und Gemüse, deren Namen wir zu großen Teilen nicht einmal kennen. Wir decken uns ein und machen uns auf den Weg zurück ins Hostel. Auf dem Weg hinaus passieren wir noch eine Frau im tradionellen Gewand, die ein Netz voll lebender Cuy (Riesenmeerschweinchen) zum Verkauf anbietet – eine Delikatesse der Anden.
Der Besitzers unseres Hostels empfiehlt uns bei der Rückkehr noch einen Abstecher zum nahegelegenen Aussichtspunkt Huancas zu machen und den dortigen Canyon zu bestaunen. Wir nehmen den Rat dankend an und nutzen den Besuch als Einstimmung auf die kommenden Tage. Zum Abendessen gibt es danach Mango, Avocado, Käse und Brot vom Markt; der Geschmack der Früchte übersteigt den der deutschen Supermarkt-Früchte um ein Vielfaches.
Am nächsten Morgen geht es um 8.00 Uhr los zum ersten Ausflug mit Ziel Kuelap, der einstigen Heimat der Chachapoya. Der Name dieses prähistorischen Andenvolkes stammt aus dem Quechua und bedeutet Wolkenmenschen oder Nebelkrieger. Wir haben eine Tour über unser Hostel gebucht und müssen zunächst einige Stunden Bus fahren, bevor es mit der einzigen Seilbahn Perus hinauf zu den Ruinen geht. Es ist eine spannende Führung und es sind beeindruckende Bauwerke, deren Bau hoch oben auf fast 3.000 Metern schon etwa im 6. Jahrhundert begonnen wurde. Ich möchte nicht zu viel über die Kultur und die Ruinen erzählen, empfehle den Interessierten jedoch eine Kurzrecherche im Netz. Wir sind zufrieden mit diesem ersten Tag und erlauben uns Cuy zum Abendessen. Leider geraten wir jedoch in ein gehobenes Restaurant für Touristen und so wird der Cuy nicht am Stück, sondern bereits zerteilt in einer Schatztruhe serviert – zu viel Show für meinen Geschmack.
Der nächste Tag wartet mit der etwas anspruchsvolleren Wanderung zum Wasserfall Gocta auf, der sich 771 Meter in die Tiefe der Sierra, der Vorstufe zum Regenwald, stürzt. Wir müssen eine einfache Strecke von 5,5 km dorthin bewältigen und kämpfen gegen das wechselhafte Klima und die Steigungen. Sonne und Regen wechseln sich derart schnell ab, dass wir bald sowohl vom Schweiß als auch vom Wasser durchnässt sind, doch jeder Meter näher zu Gocta gibt uns neue Kraft. Unser Guide hat uns wegen der Kälte zwar vor einem Bad gewarnt, aber wem muss ich noch sagen, dass wir uns gleich nach der Ankunft am Fuß auf in Richtung Becken machen. Phil, den wir schon auf dem Weg kennengelernt haben, ist bereits im kühlen Nass. Davon angespornt ziehen wir blank und gönnen uns ebenfalls ein kurzes Bad von maximal 3 Minuten im eisigen Wasser – eine Wahnsinnserfahrung! Den Weg zurück laufen wir mit Phil im Trio und tauschen uns aus während der Wasserfall durch den Regen minütlich weiter anschwillt; auch Phil hat seinen Job aufgegeben und möchte das „rat race“ der Finanzbranche in Kalifornien gegen einen Job im Abenteuertourismus tauschen. Ich verstehe ihn gut.
Am Vortag haben wir unsere Pläne bereits geändert und fahren doch nicht an die Küste, sondern nach Huaraz: der Bus geht noch am selben Abend. Wir sind zwar erschöpft von der ersten 11 km Wanderung im Gebirge, doch die Anden versprechen einfach mehr Abenteuer als der Strand. Wir nehmen wieder den Nachtbus, und wieder schlafen wir hervorragend. Nach einem kurzen Buswechsel in Trujillo am Morgen erreichen wir Huaraz auf 3.100 Metern am frühen Abend planmäßig.
Wir gönnen uns wieder einen Tag Pause und erkunden die Stadt – hier herrscht leider kein Verbot für Mototaxis und das Hupen als Verständigung ist wieder allgegenwärtig. Die Stadt ist zudem voll, denn es ist Gründonnerstag und die Vorbereitungen für die üppigen Osterprozessionen der kommenden Tage laufen bereits auf Hochtouren. Nach dem Abendessen dann der Schreck: wir geraten in ein ausgewachsenes Gewitter und es regnet ohne Unterlass. Wir müssen uns beratschlagen, wollen wir doch am nächten Tag zur Laguna 69 wandern. Der Wetterbericht sagt auf allen Kanälen ausschließlich Gewitter voraus, doch die erfahrenen Mitarbeiter im Hostel sagen uns, dass man sich hier im Gebirge nie darauf verlassen kann, und am Morgen sei es eigentlich immer erst mal schön. Wir wissen nicht weiter und beschließen die Münze entscheiden zu lassen: Kopf, wir buchen die Tour! Beim Buchen an der Rezeption treffen wir noch Nadine, eine Reisende aus Hamburg, die sich ebenfalls für die Tour einschreibt. Wir kennen uns bereits vom Frühstück und verabschieden uns bis zum Morgen – abgeholt werden wir um 4.00 Uhr.
Irgendwo zwischen den kleinen Dörfern auf dem Weg kommen wir ins Stoppen: Eine erste Karfreitags-Prozession inklusive Feuerwerk hält uns um kurz vor 6.00 Uhr von der Weiterfahrt ab. Zwar sind wir irgendwie amüsiert darüber, zeigen uns aber unbeeindruckt, da Schlaf gerade noch Priorität genießt. Ein kurzer Stop zum Frühstück und wir starten den steilen Weg ins Gebirge auf 3.900 Metern: Das Wetter ist stabil – die Münze hatte Recht.
Die Landschaft ist atemberaubend schön und wir laufen zunächst zu dritt. Zwar sind wir einigermaßen aklimatisiert, doch mit jedem Meter steigt die Anstrengung weiter. Bald laufen wir nur noch zu zweit und Bobby muss immer wieder auf mich warten – Nadine ist uns bereits einige Meter voraus. Hatte ich mich im Vorfeld noch gefragt, ob Bobby es mir seiner Lunge (mehrere Mantelpneumothoraxe in den Vorjahren) problemlos schafft und ich ihn zur Not tragen könnte, frage ich mich jetzt, ob es ihm möglich wäre, mich im Notfall den Berg hinunter zu wuchten. Aber Spaß beiseite, es ist zwar eine gewaltige Anstrengung, doch wir wissen halbwegs, was wir machen und waren beide schon auf ähnlichen Höhen unterwegs. Nach 3 anstrengenden Stunden erscheint vor uns dann endlich in einem türkis-blau nicht von dieser Welt die Laguna 69 auf 4.600 Metern Höhe. Wir sind überwältigt von der Schönheit und genießen ehrfürchtig unseren mitgebrachten Proviant. Leider kommen wir nicht umhin zu bemerken, dass der Gletscher auf den Werbefotos in der Stadt noch bis in den See ragte und sich mittlerweile ein gutes Stück weiter den Berg hinauf zieht. Es sind auch hier die Spuren des Klimawandels am Werk und man fragt sich doch, ob man solche Fernreisen neben vielen andern Dingen überhaupt noch guten Gewissens machen kann. Der Abstieg erfolgt um einiges schneller und zurück in Huaraz gehen wir – wieder zu dritt – noch ein Bier trinken. Ich habe leichte Kopfschmerzen vom Tag, der Höhe und der Anstrengung, doch eine Nacht voll Schlaf soll sie wieder beseitigen.
Den letzten Tag in der Stadt genießen wir zwischen den Touristen und Pilgern und schauen uns die teils eigenwilligen – aber für Südamerika typischen – Oster-Prozessionen an. Nadine hat sich uns angeschlossen, und wir probieren uns durch die kleinen Wagen mit Essen am Straßenrand. Ein Highlight: Spanferkel. Für einen Saft geht es nochmal in den örtlichen Markt und beim Verlassen sehen wir einen Stapel ganzer Schweine zum Teil auf dem Boden und auf Sackkarren einfach abgeladen in einem Gang. Wir denken trotz des fürchterlichen Geruchs nicht weiter darüber nach und lassen den Tag bei einigen Bieren ausklingen. Zum Abschluss spielen wir noch die für mich lustigste Runde Uno seit langem im Hostel und tragen dabei am Ende alberne Masken, die wir im Aufenthaltsraum gefunden haben. Noch einen Selfie zusammen und wir müssen uns verabschieden. Wir nehmen wieder den Nachtbus nach Lima, von wo aus wir das erste große Highlight der Tour ansteuern: 5 Tage in einer Eco-Lodge im Amazonasbecken…
Das Bild ist endlich da; der Transport aus Frankfurt in die JenAer lief nicht ohne Abstimmungsprobleme. Axel hat es mir im Krankenbett bei meinem letzten Besuch in Bad Camberg vermacht. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen – viele Fragen bleiben offen. Es zeigt „The Gates“, ein Projekt von Christo und Jeanne Claude von 2005 im Central Park von New York. Wie dieser Druck in Axels Besitz gekommen ist, weiß ich (noch) nicht, ob er einmal in New York gewesen ist auch nicht. Natürlich schauen wir uns erst recht den Film „Christo: Walking on Water“ an, eine unbedingt zu empfehlende Dokumentation über die Entstehung der Floating Piers-Kunstinstallation, die im Jahr 2016 zwei Inseln im Lago d‘Iseo miteinander verband. Vor vierzig Jahren hatte er das Projekt bereits mit seiner Frau geplant und niemals die Sehnsucht aufgegeben, dass es doch noch klappen würde. Ein Besessener.
Zwei Tage später fiebern wir einer Uraufführung in der Deutschen Oper entgegen: Oceane. Eine Fontane-Oper im Fontane-Jahr. Wir sind vom ersten Moment an gebannt: der Kopf einer Frau in schwarzweiß auf einer Leinwand vor der riesigen Bühne, sie singt wie aus einer anderen Welt, die Kamera zoomt auf ein Auge, das schließlich zum Meer wird. Starker, grandioser Beginn eines Abends, der in Erinnerung bleiben wird (Regie: Robert Carsen). Detlef Glanert hat die Oper komponiert und verfügt souverän über alle ästhetischen Möglichkeiten des Musiktheaters. Aus dem Fragment „Oceane von Perceval“ hat Hans-Ulrich Treichel geschickt ein Libretto verfasst: eine freisinnige Frau scheitert in den realen Verhältnissen. Wenn Oceane – gesungen & gespielt von der fabelhaften Maria Bengtsson – wie entfesselt beginnt zu tanzen, weichen die braven Pfahlbürger schockiert zurück. In der spießigen Sommerfrische an der See ist kein Platz für eine Oceane, die ihre Sinnlichkeit ohne Grenzen nur im Meer ausleben kann – im Tode. „Ein Riesenerfolg der Deutschen Oper“, bilanziert die ARD-Kulturkorrespondentin Maria von Ossowski“, „der aber die Frage nicht beantwortet, die alle Uraufführungen des Musiktheaters begleitet: wird es eine zweite, eine zwanzigste, vielleicht gar zweihundertste Inszenierung geben? Meist bleibt es nur bei der Uraufführung zeitgenössischer Werke. Glanerts Werk wäre ein dauerhafterer Platz in den Spielplänen der Opernhäuser zu wünschen.“
„Wer die Sehnsucht hat, hat alles“, wähnt Oceanes Verehrer. Nichts hat er! Was das mit deutschen Theater zu tun hat, wollen wir beim Theatertreffen erfahren, das mit „Hotel Strindberg“ von Simon Stone nach August Strindberg eröffnet wird. Oha! Stone hat die „Methode der Komplettüberschreibung“ von Klassikern erfunden. Wir schauen in unterschiedliche Fenster eines Hotels und erleben, wie sich Menschen verletzen, erniedrigen und zerstören. Sehnsucht ist da keine mehr, Hoffnung auch nicht, Langeweile bald. Nach der zweiten Pause haben wir Sehnsucht zu gehen. In den Nachrichten hören wir, dass „Gundermann“ die Goldene Lola gewonnen hat (gut so) und die Tories bei den Kommunalwahlen in England richtig eins auf die Mütze bekommen haben (noch besser!). Es gibt eine wachsende Sehnsucht auf der Insel nach Europa. It’s time to say Goodbye, Theresa!