Bahn statt Bühne

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So ist’s recht. „Menschen und Gepäck“ heißt das Werk von Gerald Matzner im Skulpturengarten AVK. © Rolf Hiller

Anruf am Montag um 19h vom Chef von Shooter Promotions; er müsse eine schlechte Nachricht überbringen. Die Stadt Hanau habe die Corona-Maßnahmen verschärft: statt 250 Besucher*innen sind stante pede nur noch 100 (!) im Amphitheater zugelassen. Alle geplanten Konzerte müssen deshalb abgesagt werden. Normalerweise passen 1.400 Gäste sitzend unter das Zeltdach der Location, die aber nach den Seiten offen ist. Ursprünglich waren die von FRIZZ Das Magazin seit Jahren präsentierten Konzerte untersagt worden. Dann die überraschende Wende im Juli – die sog. Open-Air-Clubkonzerte dürften nun doch unter strengen Auflagen stattfinden. Pustekuchen. Das mit großem Engagement in kürzester Frist entwickelte Konzept wurde kurzerhand wieder kassiert. Wie man als Veranstalter in Corona-Zeiten überhaupt noch arbeiten & überleben soll, scheint die Politik überhaupt nicht zu interessieren. Gleichzeitig sind in Berlin noch Familienfeiern drinnen mit bis zu 500 (!) Gästen erlaubt.

Da kommt Freude auf, denn die Maßnahmen sind oft nicht mehr nachzuvollziehen und wechseln nach Lust & Laune, wie’s scheint, von Bundesland zu Bundesland. Nun soll hier keinem „Einheitsbrei“ (FAZ) das Wort geredet werden, aber eine „Corona-Kakophonie“ (Der Tagesspiegel) ist erst recht nicht zielführend (Testpflicht bei Reiserückkehrern aus Risikogebieten). Als Kunde der Deutschen Bahn kann man über die Absage in Hanau nur ungläubig den Kopf schütteln. Neulich war ich von Köln nach Berlin unterwegs. Nach Wolfsburg zuckelte der ICE wie eine Schneckenpost durch die Lande und mir schwante nichts Gutes. Plötzlich bleiben wir auf freier Strecke stehen, alles muss heruntergefahren werden, natürlich auch die Klima-Anlage. Dann geht’s gemächlich weiter bis Stendal, wo die Passagiere des defekten Zugteils in den anderen „evakuiert“ (O-Ton) werden müssen. Abstandsregeln gelten ohnehin nicht bei der Deutschen Bahn, die nicht einmal ihre eigenen Fahrgäste personalisieren kann. Der Schaffner ermahnt uns aber beim Ausstieg im Berliner Hauptbahnhof, den wir mit über zwei Stunden Verspätung erreichen, die Abstandsregeln einzuhalten. Der Bursche hat Humor.

Es wird eben mit zweierlei Maß gemessen – als DB-Kunde wird mir selbstverständlich ein höheres C-Risiko zugemutet als im Theater, Kino oder Konzertsaal. Gestern bei der Runde der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin ging die Kakophonie munter weiter, da der Herbst Einzug hält in Deutschland – und naturgemäß das Infektionsrisiko steigt, nicht bloß für Corona übrigens. Zumindest konnte man sich bei Nichteinhaltung der Maskenpflicht auf eine einheitliche Regelung verständigen. Einen Fuffi kostet es ohne, allerdings nicht in Sachsen-Anhalt. „Weil jemand ohne Maske bei uns gar nicht mitfahren darf, brauchen wir auch kein Bußgeld“, verkündet Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). Noch Fragen?

Tests for Music

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Endlich dürfen sie wieder konzertieren: die Künstlerische Leiterin von Krzyżowa Music Viviane Hagner (Violine), Pablo Barragán (Klarinette), Anna Maria Wünsch (Viola) und Alexey Stadtler (Violoncello) spielen eines der letzten Werke von Penderecki. © Karl Grünkopf

Positiv gestimmt & negativ getestet machen wir uns auf den Weg nach Krzyżowa. Dass dieses bemerkenswerte Kammermusik-Festival im früheren Kreisau heuer überhaupt stattfinden kann, grenzt an ein Wunder. Alle Gäste aus dem Ausland haben vorher einen Corona-Test gemacht; das gleiche gilt für die Künstler & Techniker. Per Kurier werden unsere Proben am Montag nach Hamburg gebracht; am Mittwoch um 7.32h haben wir eine Mail von Centogene im Postfach. Gespannt im Netz das Ergebnis aufgerufen – wir dürfen fahren. Was so einfach klingt, ist mit hohem logistischen & kommunikativen Aufwand verbunden. Immer wieder tauchen Fragen auf, die zum guten Teil vom General Director von Krzyżowa Music, Matthias von Hülsen, persönlich zu klären sind.

Das Eröffnungskonzert findet in diesem Jahr auf der großen Wiese vor dem Schloss in Krzyżowa statt. Eigens wurde eine Bühne aufgebaut, und die Tontechniker haben ganze Arbeit geleistet: der Sound ist hervorragend. Das Publikum wird in zwei Gruppen geteilt –  die Getesteten und die Maskierten. Wir bekommen ein Testbändchen und suchen uns einen Platz; alle Stühle sind im Abstand von einem Meter gestellt. Ein herrlicher Sommerabend, die Vögel zwitschern, und die Spannung konzentriert sich jetzt ganz auf die Musik. Auf die wunderbare Cello-Sonate von Beethoven (op. 102) folgt ein zartes Klarinetten-Quartett des polnischen Komponisten Krzysztof Penderecki (1933 – 2020), eines seiner letzten Werke von 1993, das ganz behutsam mit dem letzten Satz „Abschied“ schließt.

Mit Brahms endet der erste Abend, und wir werden Reihe für Reihe zum Büffet geleitet – bunte Fähnchen trennen die beiden Gruppen. Alles ist nach Plan verlaufen, die Musiker*innen, die zum Teil das erste Mal seit März wieder vor Publikum gespielt haben, wirken wie befreit – allenthalben ist Erleichterung zu spüren. Aber unsere Gedanken & Gespräche kreisen auch schon wieder um die Pandemie, denn morgen steht der nächste Testlauf an. Im Gästehaus an der berühmten Friedenskirche von Świdnica, wo wir wieder untergekommen sind, teile ich noch Mundspatel aus, die ich in der Apotheke besorgt hatte. Wenn wir das nächste Test-Ergebnis von Centogene – übrigens ein ganz wichtiger Partner des Festivals – bekommen, sind wir vielleicht schon wieder in Deutschland. Mit positiven Erinnerungen an eine denkwürdige Reise zur sechsten Auflage von Krzyżowa Music.

Tote Stadt

 

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Krise in der Frankfurter City: neben Karstadt müssen auch andere Häuser schließen. © Rolf Hiller

Zum letzten Mal fahre ich in das Parkhaus von Karstadt. Das riesige Kaufhaus mit 38.000 qm Verkaufsfläche mitten auf der Zeil in der Frankfurter Innenstadt wird geschlossen. Der Ausverkauf läuft, doch der Andrang der Kund*innen hält sich in Grenzen – deprimierende Endzeitstimmung. Im Shopping-Center „My Zeil“ – ein paar Meter von Karstadt entfernt – stehen die Ladenflächen von AppelrathCüpper wohl zur Disposition; der Modehändler durchläuft gerade ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung. Beschlossene Sache ist dagegen das Ende von Esprit – das Modehaus macht seine vier Etagen auf der Zeil dicht. Doch damit nicht genug: Karstadt Sports an der Hauptwache macht auch zu, das Café Hauptwache in bester Citylage ist pleite. Ins traurige Bild passt, dass der Club Gibson auf der Zeil und die E-Kinos an der Hauptwache wegen Corona derzeit geschlossen sind.

Die Gründe für die Krise des Einzelhandels, die sich so dramatisch auf der umsatzstärksten Einkaufsstraße Deutschlands mit der höchsten Besucherfrequenz ausdrückt, sind bekannt. Gegen den Onlinehandel kommen die Dickschiffe nicht mehr an, es fehlen (nicht nur) in der Frankfurter Innenstadt (chinesische) Touristen, Messegäste und natürlich die Leute, die nicht mehr in den Büros in der City, sondern zu Hause arbeiten. Was ist zu tun? Den Optimismus von sog. Projektentwicklern teile ich nicht; die Experten empfehlen eine Mischung aus Wohnnutzung und kleineren Ladenkonzepten. Jede Krise ist eine Chance. Dieses Wort wird in der Pandemie gerne bemüht, und vielleicht bietet der kommerzielle Kahlschlag auf der Zeil eine unverhoffte Möglichkeit, das Zentrum in Frankfurt zu urbanisieren. Bekanntlich lassen sich Oper & Schauspiel nicht mehr sanieren – die Häuser müssen abgerissen und neu gebaut werden. Warum nicht auf der Zeil? Warum nicht ein architektonisch markantes Zeil-Theater für die beiden Sparten als Symbol für die Wiederbelebung der Innenstädte durch Kultur und für Menschen?

Der Ticket-Automat in der ersten Ebene des Parkhauses ist kaputt, und ich muss weiter hinauf. Im dritten Stock klappt es. Weder dort noch in der vierten oder fünften Etage parkt ein Auto! Keine Kunden nirgends. Ich denke an die Freunde von der SPD. Die Parteivorsitzende Saskia Esken bringt ein Linksbündnis ins Gespräch. Tags darauf präsentiert „die alte Tante“ Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten; der Bundesfinanzminister wird dem rechten Flügel zugerechnet, macht derzeit einen guten Job und ist der beliebteste Politiker seiner Partei. Den Projektentwicklern der deutschen Sozialdemokratie ist indes schon lange das politische Gespür abhandengekommen. Wozu braucht diese 15%-Partei jetzt überhaupt schon einen Kanzlerkandidaten?

 

Dauerwelle

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Der berühmte Garten von Ada und Emil Nolde; das Wohn- und Atelierhaus wird renoviert. © Gitti Grünkopf

Ohne Anmeldung geht nichts in dieser Zeit. Also schreiben wir eine Mail nach Seebüll. Keine Stunde später ist die Antwort der Nolde Stiftung im Posteingang – wir können einfach kommen, es gebe nur kurze Wartezeiten. Möchte man/frau die wunderbaren Bilder von Emil Nolde nicht mehr so gerne sehen oder schreckt die Renovierung des Wohn- und Atelierhauses derzeit ab. Mit Tischtennisbällen kontrolliert das freundliche Personal, wie viele Personen sich gerade im Gebäude oder im berühmten Garten befinden. Leider hängen die Werke im Besucherforum schlecht; die Beleuchtung lässt auch sehr zu wünschen übrig. Erstaunlich, dass sich zu der Sanierung kein Hinweis auf der Homepage findet. Dennoch lohnt ein Blick auf das Werk dieses verschlossenen Mannes, der von seiner Kunst nicht weniger überzeugt war als von Adolf Hitler und sich nach dem Ende der Diktatur als Opfer stilisierte.

Weniger diszipliniert geht es derzeit bei Demos und im öffentlichen Verkehr zu. Warum es in Deutschland erschreckende Bilder von Corona-Verweigerern jedweder Couleur gibt, nicht aber in Frankreich, Spanien oder Italien, irritiert. Nicht weniger verwundert, warum das Versammlungsrecht nicht mit strikten Auflagen versehen & durchgesetzt wird. Jeder Spinner sollte hierzulande für seine Sache demonstrieren können – aber doch bitte mit Maske. Inzwischen werden Maskenverweigerer im ÖPNV (in einigen Bundesländern) nicht mehr nur ermahnt, sondern für ihr asoziales Tun sofort bestraft, sofern es genug Kontrollen gibt. Ich habe jedenfalls nicht die Courage, latent aggressive Maskenmuffel des sog. starken Geschlechts zur Rechenschaft zu ziehen; schon vor der Pandemie waren die U-Bahnen und Bahnsteige unter Tage nicht dazu angetan, auf zivile Regeln des Umgangs hinzuweisen. Leider!

Die Dauerwelle – diese treffende Formulierung hat der Bonner Virologe Hendrick Streeck geprägt –  wird unser Leben nachhaltig verändern und uns der WHO zu Folge noch Jahrzehnte beschäftigen. So sehen es erstaunlich viele in New York, das sich doch angeblich immer neu erfindet und wo jede*r sein Glück machen kann. „Zwischen März und Mai 2020 verließen 420.000 Menschen die Stadt, das sind 5 Prozent ihrer Bevölkerung“, schrieb Frauke Steffens in der FAZ (04.08.20). Auch „California Dreamin'“ bietet keine Hoffnung, wie mir ein Freund gestern aus Los Angeles schrieb: „Museen, Galerien, Kinos, Büchereien, Restaurants etc. sind in LA immer noch zu. Dafür darf man endlich wieder ohne Bestrafung an den Strand gehen. Welch eine Gnade.“ Aus Amerika war von Demos gegen die Coronamaßnahmen bis dato nichts zu hören. Incredible!