Rote Linien

© Vinzenz Lorenz M auf Pixabay

Heuer soll wieder ein großes Familientreffen stattfinden. Beim letzten Mal waren es knapp 90 Personen. Es ist gar nicht so einfach, ein passendes Quartier zu finden, das alle unsere Erwartungen & Wünsche erfüllt. Um so gespannter sind wir auf ein Gutshaus im Süden Brandenburgs, das sich natürlich Schloß nennt. Schön gelegen, ansprechende Gesellschaftsräume, Zimmer & Wohnungen für alle Bedürfnisse, mehrere Saunen. Herz, was willst du mehr. Die Schlossherrin bewirtet uns mit Kaffee und Kuchen, der Kamin knistert. Die Führung durch das Haus übernimmt der Schlossherr, ein weitgereister Mann im rustikalen Look mit roter Mütze. Golf habe man nicht spielen wollen im Ruhestand, also machte sich das Ehepaar mit viel Geschick daran, ein altes, fast leeres Herrenhaus wieder herzurichten. Möbel, Geschirr und passende Ahnenbilder gab’s im Internet, Kamine und alte Fliesen wurden auch schon mal mit einem Hänger herangeschafft. Glück hatten die beiden auch noch. Die Nähe zu Babelsberg machte das Schloß für Dreharbeiten interessant – hier wurde „Ein russischer Sommer“ mit Helen Mirren gedreht. Frohgemut machen wir uns auf den Heimweg, doch abends ist plötzlich alles anders: der Schlossherr ist für die AfD in der Kommunalpolitik aktiv gewesen.

Der Charme des Hauses ist verschwunden, das Schloss liegt hinter einer roten Linie. Das Familientreffen wird nicht an diesem Ort stattfinden. Punktum. Das würde der Kanzler, der übrigens nicht zur Familie gehört, bestimmt genauso sehen, aber Olaf Scholz hat es bekanntlich mit roten Linien von ganz anderem Kaliber zu tun. Nach einer monatelangen Merkelei steht jetzt eine Panzerkoalition; die Ukraine bekommt nun doch den Kampfpanzer Leopard. Kaum ist diese Frage geklärt, tun sich neue auf. Die Ukraine fordert Kampfjets und soll von den USA und Frankreich solche Maschinen erhalten. Bleibt der Kanzler der europäischen Führungsmacht, wie die SPD, seine Partei, nun Deutschland einschätzt, standhaft und überschreitet diese rote Linie nicht? Würde Deutschland damit Kriegspartei und müsste einen russischen Angriff befürchten? Könnte das den 3. Weltkrieg auslösen? Trägt Deutschland noch immer eine historische Schuld wegen Hitlers Überfall auf die Sowjetunion? Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee Auschwitz…

Mag man Scholz‘ Zaudern & Zögern in der Leopardenfrage noch verstehen, so bleibt seine Passivität in der Verkehrspolitik vollkommen rätselhaft. Dass unser aller Auto seine Zukunft schon hinter sich hat, dass wir auch seinetwegen unsere Klimaziele (wieder) verfehlen, begreifen außer CDU/CSU und FDP (fast) alle draußen im Lande. Trotzdem beharrt der Autoverkehrsminister von den Freien Demokraten auf seiner anachronistischen Klientelpolitik, wie die Märkische Oderzeitung in wünschenswerter Deutlichkeit kommentiert. „Es wird eng für Verkehrsminister Volker Wissing. Die Ampel-Partner verlieren die Geduld. Die Länder machen Druck. Der FDP-Minister muss schnell Lösungen präsentieren, wie der Verkehrssektor die Klimaschutzziele einhalten kann. Bisher reichen seine Maßnahmen nicht aus. Dabei gibt es durchaus kurzfristige Mittel, wie Emissionen reduziert werden können. Denen verweigert sich der Minister allerdings. Die Lösungen lauten: Dienstwagen-Besteuerung umkrempeln, Pendlerpauschale auf klimafreundliche Verkehrsmittel wie Bus, Bahn und Rad ausrichten, ein Tempolimit auf Autobahnen einführen. Dadurch ließen sich Millionen Tonnen CO2 einsparen. Anpacken wird er die Themen aber nicht. Sie würden FDP-Wähler verschrecken – und das kann sich die Partei angesichts der diesjährigen Landtagswahlen nicht leisten.“ (23.01.23) Nach uns die Sintflut.

Bestellfehler

Endloser, fast menschenleerer Strand in Graal-Müritz. © Gitti Grünkopf

Wer kennt diese Nachricht in Zeiten des Online-Handels nicht: Ihr Paket wurde bei Ihrem Nachbarn abgegeben. Ich renne runter zum Briefkasten und finde wieder keine Benachrichtigung vor. Also erneut dem Kundendienst von Amazon eine Mail geschrieben, die sofort aus England anrufen. Das Paket sei abgegeben worden, bei einem Nachbarn, dessen Name ich noch nie gehört habe. Ich poltere los: das hat doch schon beim letzten Mal nicht geklappt. Die freundliche Amazone buchstabiert mir zweimal, wer meine Sendung entgegengenommen habe. Ich summe die Melodie der Krimiserie „Der Kommissar“ und mache mich an die Ermittlungen. Ein paar Hausnummern weiter soll die Sendung angekommen sein. Tatsächlich finde ich dort im Parterre den Empfängernamen, und tatsächlich wohnt dort eine Frau, die den gleichen Nachnamen trägt wie ich. Wie konnte das nur passieren? Ich hatte die falsche Hausnummer bei der Bestellung angegeben und rufe sofort bei Amazon an, um mich zu entschuldigen.

„Menschen machen Fehler, Fehler machen Menschen“, tröstet uns der Aphoristiker Erhard Horst Bellermann. Und manchmal hat ein Fehler ja auch sein Gutes. Wir wollten am Wochenende an die See fahren und warteten mit der Buchung der Unterkunft bis zum allerletzten Moment. Wer weiß in diesen Tagen schon, ob er wirklich gesund bleibt und die Reise auch antreten kann. Schließlich hatten wir gerade erst vor einigen Wochen einen kompletten Strandurlaub bezahlt, ohne je ans Ziel gekommen zu sein. Also setzten wir diesmal auf last minute – und verloren. Aber, wie der Zufall so spielt, landet eine Mail von Travelzoo im Posteingang und bietet uns eine Unterkunft in Graal-Müritz an. Gecheckt, gebucht. Das Hotel liegt direkt hinter der Düne, zum herrlichen Ostsee-Strand sind es nur ein paar Schritte. Im Sommer muss hier der Teufel los sein, aber jetzt sind nur wenige Häuser für Gäste geöffnet. Wir genießen die langen Spaziergänge am endlosen Strand und nehmen am Ende noch ein paar Pullen der „Männerhobby Brennerei“ mit. Wir kommen wieder.

Ob Kanzler Scholz mit seinem Zaudern & Zögern Fehler macht, wird sich weisen. Sein kerniger Satz „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“ wird immer mehr zur hohlen Phrase. Dass wohl Christine Lambrecht selbst ihren Rücktritt vom Amt der Verteidigungsministerin an die ungeliebten Medien durchstach, passt ins Bild; ebenso die Klärung einer Nachfolge auf den letzten Drücker. Boris Pistorius, der neue Mann (!) im Amt und zuvor 10 Jahre niedersächsischer Innenminister, hat sich von Scholz ins kalte Wasser werfen lassen. Er muss nun den NATO-Partnern deutlich machen, dass sich Deutschland in Europa als „Führungsmacht“ versteht, wie sein Parteikollege Nils Schmid jüngst schwadronierte. „Welche unserer transatlantischen Partner“, fragte die Publizistin Stefanie Babel im Tagesspiegel, „will Deutschland denn auf Grundlage welcher Vision und mit welchen Fähigkeiten anführen.“ (12.01.23) Durch die Lieferung von Kampfpanzern wird sich diese Frage nicht erübrigen.

Zurück zur Normalität

Normal ist das nicht, wie die Italienerin Sheyen Caroli sich verbiegen kann. © OVAG-Varieté 2023

Die großen Shows sind wieder da, und das Publikum kommt zurück. Vor der Mercedes-Benz-Arena in Berlin gibt es mehrere Schlangen – alle wollen „Geheimnis der Ewigkeit“ erleben. So heißt das neue Programm von Cavalluna, der größten Pferdeshow Europas, wie die Veranstalter verkünden. Knapp 22.000 Besucher:innen wollten die vier Shows sehen – weniger als vor der Pandemie, aber doch ein guter Neustart in die Normalität. Die Nummern der Pferdeartist:innen waren teils atemberaubend, die Story hanebüchen, die Texte hölzern. Dem Spaß tat das aber keinen Abbruch, und natürlich kommen wir nach der Show mit den Kids nicht am Merchandising-Stand vorbei. Im nächsten Jahr geht‘s weiter. 2024 will uns Cavalluna ins „Land der Träume“ mitnehmen…

Nach der Show ist vor der Show. Nach drei Jahren Pause gibt es endlich wieder das spektakuläre OVAG-Varieté in Bad Nauheim, und natürlich kann man sich auf der Homepage schon auf das Programm 2024 freuen. Logistisch ist das für die Veranstalter eine besondere Herausforderung; galt es doch, die nicht zurückgegebenen Tickets der Jahre 2021 und 2022 zu berücksichtigen. Das Programm beginnt poetisch-spektakulär mit den Catwall Acrobats aus Kanada, die auf meterhohen Schwingen sanft über die Bühne gleiten. Wieder ist es Andreas Matlé, dem Spiritus rector des OVAG-Varieté, und seiner Mitarbeiterin Anne Laumann gelungen, eine erstklassige Show zusammenzustellen, die immer wieder mit Überraschungen wie Magus Utopia (sie bringen einen Albtraum auf die Bühne) oder der mongolischen Troupe Khadgaa mit ihren unglaublichen menschlichen Pyramiden begeistert. Varieté-trunken verlassen wir nach 23h das Dolce-Theater und sind noch gar nicht in der Lage, die vielen Eindrücke wieder auseinanderzuhalten.

Im nächsten Jahr feiert das OVAG-Varieté seinen 20. Geburtstag, dann dürfte die Maskenpflicht in Deutschland – bis auf Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime vielleicht – Geschichte sein; Corona wird endemisch und zu unserem Leben gehören wie die Grippe in der dunklen Jahreszeit. Masken habe ich in den beiden Shows nur eine Handvoll gezählt; gegen meine Absicht ließ auch ich den Mund-Nasen-Schutz stecken – und liege damit im Trend. Die Maskenpflicht im ÖPNV endet nun auch in den letzten Bundesländern am 2. Februar. Und ab diesem Tag darf man/frau dann ebenfalls im Fernverkehr der Deutschen Bahn wieder ohne reisen. Ende gut, alles? Die Folgen der Pandemie lassen sich derzeit noch gar nicht abschätzen.

Fehlstart

Mit Angriffen auf Einsatzkräfte begann das Jahr 2023 in Deutschland. © Peggy und Marco Lachmann-Anke / Pixabay

Natürlich wollten wir 2023 gebührend begrüßen, doch am letzten Tag des alten Jahres waren in drei Läden die Wunderkerzen ausverkauft. Pech hatte ich auch mit meinem Vorhaben, noch ein letztes Telegramm aufzugeben. Die Deutsche Post hatte diesen kostspieligen Service für Anachronisten schon eingestellt. Dafür konnte ich wenigstens noch bei atmosfair unsere Flüge nach Indien kompensieren. Verbraucht hat jeder von uns 5.367 kg CO₂. Das klimaverträgliche Jahresbudget eines Menschen beträgt 1.500 kg, die Pro-Kopf-Emission in Äthiopien 560 kg. Mit dem Kompensationsbetrag von knapp 250 Euro werden Klimaschutzprojekte unterstützt, und wir tun etwas für unser notorisch schlechtes Klimagewissen. Zumindest haben wir nicht die immense Feinstaub-Belastung an Silvester erhöht. Das wäre neben den Ausschreitungen in dieser Nacht ein Grund, die Böllerei – wie in den beiden letzen Jahren – für immer zu verbieten.

Neben den Krawallen sorgte ein kurzes Video der Bundesverteidigungsministerin auf Instagram für erhebliche Irritation. Nicht nur die Tageszeitung, mit der ich groß wurde, ist fassungslos. „Da steht Christine Lambrecht in der Silvesternacht an einer Straße in Berlin und sagt in den Lärm von Böllern und Raketen hinein die Sätze: ‚Mitten in Europa tobt ein Krieg. Damit verbunden waren für mich ganz viele besondere Eindrücke, die ich gewinnen konnte. Viele, viele Begegnungen mit interessanten, mit tollen Menschen‘. Lambrechts Silvestervideo ist an Peinlichkeit kaum zu überbieten. Mit ihrem publizistischen Blackout hat die Sozialdemokratin ihr Amt und das Land, das sie vertritt, der Lächerlichkeit preisgegeben. Wird sie das politisch überleben?“ (Mainzer Allgemeine Zeitung, 03.01.23) You are never private! Zumindest das sollte einer „Quotenfrau“ (Lambrecht über Lambrecht) in jeder Situation bewusst sein.

Ob der Kanzler seine Verteidigungsministerin entlässt, steht dahin. Der vergessliche Olaf Scholz hat genug andere Probleme, um jetzt schon ein Revirement in seinem Kabinett vorzunehmen, mit dessen Arbeit dem aktuellen ARD- DeutschlandTrend zu Folge nur noch ein Drittel der Deutschen zufrieden ist. Hartnäckig halten sich Gerüchte, dass die Innenministerin Nancy Faeser demnächst ihr Amt aufgibt, um als Spitzenkandidatin der SPD bei der hessischen Landtagswahl im Herbst anzutreten. Ihr würde Christine Lambrecht folgen. Um die Quotenarithmetik der Regierung zu erhalten, müsste Scholz dann wieder eine Frau finden, die das ungeliebte Amt im Verteidigungsministerium übernimmt. Ganz andere Probleme hat dagegen Amerika, wie die Wahl eines neuen Speakers des Repräsentantenhaus auf abschreckend Weise zeigt. 1855 brauchte es 133 Wahlgänge! Sechs Jahre später begann der Bürgerkrieg.