Stoff vom Killer

Russland kann nicht nur Gas liefern. © Анатолий Жуков auf Pixabay

Auf den letzten Drücker erreichen wir das Testzentrum, müssen aber trotzdem an diesem kalten Sonnabendvormittag noch eine Weile warten. Viele wollen beim NEUSTART KULTUR in Berlin dabei sein; getestet werden soll bei diesem Projekt, wie in Zeiten der Pandemie Veranstaltungen mit (!) Publikum möglich sind. Erste Voraussetzung ist ein tagesaktueller negativer C-Test, für den die Fans sich gerne anstellen, schließlich winkt als Belohnung ein echter Theaterabend. Was denn heute Abend gespielt wird? „Das ist doch vollkommen egal“, gibt eine junge Frau frohgemut zurück. Hauptsache mal wieder Schauspieler*innen des Berliner Ensembles auf der Bühne erleben. Vor dem Theater am Schiffbauerdamm werden die glücklichen Gäste in zwei Reihen geteilt: Parkett und Rang betreten auf getrennten Wegen das Haus; vorher werden Ticket, Personalausweis und das Testergebnis auf dem Smartphone gecheckt. Wir sitzen sicher mit Masken im Rang, enger als gedacht, und erleben die Autobiografie „Panikherz“ von Benjamin Stuckrad-Barre in einer vom Intendanten Oliver Reese eingerichteten Bühnenfassung. Ein richtiges Theaterstück wäre mir lieber gewesen. Sei’s drum. Das Publikum dankt am Ende mit langem Applaus.

So könnte Theater wieder funktionieren, wenn wir demnächst genug Impfstoff bekommen; Impflinge und Getestete würden in zwei Gruppen geteilt. Und im Sommer reicht vielleicht schon der Impfpass… Bis dahin brauchen wir die viel beschworene Geduld und Nachsicht mit dem politischen Personal. Immerhin hat die Kanzlerin die „Osterruhe“ gleich wieder kassiert und um Verzeihung gebeten; solche Worte konnten wir von ihrem Gesundheitsminister Jens Spahn bis dato nicht vernehmen. „So viel Demut an höchster Stelle im Staat ist selten“, kommentierte Hans-Jürgen Jacobs in seinem Handelsblatt Morning Briefing, „allerdings auch nicht so viel Versagen. Bei Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder wäre eine Politik nach dem Motto ‚Irren ist menschlich‘ undenkbar gewesen.“ (25.03.21) Gefragt sind derzeit pragmatische Lösungen und eine Hemdsärmeligkeit, wie sie den Bürgermeistern von Rostock und Tübingen (Claus Ruhe Madsen und Boris Palmer) eigen ist. Dort werden Tests mit Privilegien (Kino, Theater, Einkaufen) verknüpft – und diese Angebote werden rege genutzt. Warum nicht auch den Impfstoff Sputnik V beim „Killer“ (Joe Biden) bestellen, „wenn er die Voraussetzungen erfüllt.“ (Bayerns Ministerpräsident Söder im ZDF).

Aber vielleicht möchte dieses Vakzin dann doch niemand haben. Eine Freundin erzählte, sie sei mit BionTech erst im Mai dran, eine Impfung mit AstraZeneca wäre indes sofort zu einem beliebigen Termin möglich. Laut Tagesspiegel liegen in Berlin inzwischen „100 000 Dosen AstraZeneca auf Halde“ (25.03.21). Auch hier sind rasch pragmatische Lösungen gefragt: Aufhebung der Impfprioritäten bei diesem Vakzin, Freiwilligenlisten, Spontan-Impfungen abends etc. Was würden wohl Madsen und Palmer machen? „Impfen, impfen, impfen“ (Angela Merkel). Am Wochenende werden in Deutschland die Uhren vorgestellt. Das sollte klappen, und bald ist wieder Somma. Endlich!

Lahme Enten

Mit Rückenwind noch schneller: der Citroen 2 CV, immer noch ein Hingucker. © Günther Schneider auf Pixabay

Glück gehabt! Morgen dürfen wir wieder einmal in ein richtiges Theater gehen, in eine analoge Aufführung mit Publikum. Im Berliner Ensemble wird „Panikherz“ von Benjamin Stuckrad-Barre gegeben. Wir freuen uns wie Bolle, hätten aber alles genommen und hatten beim Ticket-Roulette Glück. Denn frau*man kann nicht einfach eine Bestplatz-Buchung vornehmen, sondern muss sich aus dem Saalplan einen Sitz raussuchen. Wenn jemand anders schneller war – Pech gehabt. So gingen wir beim Test-Konzert der Philharmoniker leer aus und konnten erst beim zweiten Theater-Abend am Sonnabend zuschlagen. Einfach hingehen, ist natürlich nicht in C-Zeiten. Morgen früh müssen wir zum Schnelltest, und wenn der positiv ausfällt, beginnt das übliche Procedere: PCR-Test und Selbstisolation. Spannender war Theater noch nie vor einer Aufführung.

Auf der großen Bühne der Politik gibt es derzeit vor allem eine Verliererin: die Christlich Demokratische Union. Im aktuellen ARD DeutschlandTrend stürzt die CDU auf 29% ab; es scheint sich zu rächen, dass Personalentscheidungen zu spät oder falsch fallen. In Amerika ist die Amtszeit des Präsidenten auf maximal zwei Amtsperioden begrenzt; deswegen werden die Inhaber (bis jetzt waren es nur Männer) nach einer Wiederwahl auch als Lame Duck bezeichnet. Nun ist Angela Merkel natürlich keine Lahme Ente, aber sie stellt sich bekanntlich im Herbst nicht mehr zur Wiederwahl – und hinterlässt so ein Machtvakuum. Wäre sie – Gründe hätten sich finden lassen – vor zwei Jahren zurückgetreten, hätte sich ein*e Nachfolger*in längst eingearbeitet und könnte vom sog. Amtsbonus zehren.

Genau vor einem Jahr hielt die Kanzlerin ihre beeindruckende Fernsehansprache anlässlich der COVID-19-Pandemie; seither ist viel passiert und schief gelaufen für die Menschen draußen im Lande. Kommunikation und Krisenmanagement lassen inzwischen sehr zu wünschen übrig, wie die Neue Osnabrücker Zeitung bilanziert: „Dass man die Briten oder Russen beneidet, wer hätte das vor einem Jahr gedacht? Die einen impften zuletzt unerschrocken weiter, die anderen hatten als Erste überhaupt einen ganz anderen Impfstoff registriert. Die Abweichungen der Ergebnisse waren am Ende gering, aber über alle machte halb Deutschland sich lustig. Oder die Amerikaner und Israelis: Als die Behörden in Europa noch prüften und prüften, waren die Genehmigungen dort längst erteilt. Aber die Impfstoffe für die EU, die sollten ja unbedingt am sichersten sein. Nun zeigt sich: Sie sind es nicht. Zumindest nicht in dem Maße, wie das Volk es hatte glauben sollen. Die Reaktion kann man hysterisch finden oder die Vorsicht richtig, es ändert nichts am katastrophalen Gesamtbild.“ Trösten wir uns mit den Worten des Fußball-Philosophen Jürgen Wegmann: „Erst hatten wir kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu.“

Wer die Wahl hat

Hurra! Bei meiner Wahl (per Brief) zur Frankfurter Stadtverordnetenversammlung hatte ich 93 Stimmen, die ich munter panaschieren oder kumulieren konnte. Klingt komplizierter, als es ist. Ich kann meine Stimmen auf alle Kandidat*innen auch aus verschiedenen Parteien verteilen, dann panaschiere ich. „Das Anhäufen von zwei oder drei Stimmen auf eine Kandidatin oder einen Kandidaten nennt man ‚Kumulieren‘.“ (Wahlanleitung). Wer es einfacher haben möchte, kreuzt oben auf dem Riesenwahlzettel nur eine Partei an. Trotz der Möglichkeiten, eine Wahl stärker zu personalisieren, ist das Interesse an der Kommunalwahl in Hessen gering – 52% gingen 2016 nicht zur Wahl. Da wird die Mobilisierung in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg besser gelingen – die ersten Landtagswahlen im Superwahljahr 2021 gelten als wichtiger Stimmungstest. Insbesondere die CDU dürfte dem Ausgang der Wahlen am Sonntag mit Bangen entgegensehen. Diese Woche traten zwei Abgeordnete aus der Fraktion aus; sie hatten nicht dem Volk gedient, sondern mit Provisionen bei sog. Maskengeschäften kräftig abgesahnt. Noch vor den beiden Wahlen sollen sich alle CDU/CSU-Abgeordneten erklären.

Erstaunlicherweise ist von der Causa Spahn in diesem Zusammenhang (noch) nicht die Rede. Der alerte Gesundheitsminister mit einem jährlichen Einkommen von 285.000 Euro (Focus Online) besitzt mit seinem Ehemann eine „Millionenvilla“ in Berlin-Dahlem und eine Wohnung in Schöneberg, deren Wert auch im siebenstelligen Bereich liegen soll. Wie geht dem? Um unklare Geschäfte zu klären, gilt immer die Devise: folge der Spur des Geldes. Warum beendet Jens Spahn nicht alle Spekulationen um seine Immobiliengeschäfte und erklärt sich unter Wahrung der Privatsphäre – aber der Gesundheitsminister hat natürlich alle Hände voll mit seinem Amt zu tun. Während America First im Mai durch ist mit den Impfungen, klemmt es hierzulande an allen Ecken und Enden. Was Wunder, dass die Stimmung noch schlechter ist als die Lage, wie Beobachter aus dem Ausland mit Staunen konstatieren.

Dabei gibt es ungeachtet der steigenden Inzidenzen (Dritte Welle) doch Grund zur Hoffnung. Die Museen dürfen wieder öffnen, in Berlin waren die Karten für ein Test-Konzert der Philharmoniker für 1.000 Besucher*innen mit aktuellem Schnelltest binnen vier Minuten weg, das Berliner Ensemble bietet nächste Woche einen analogen Theaterabend („Panikherz“) unter den gleichen Voraussetzungen. Zum guten Schluss steht Luca vor dem Durchbruch. Die vom Start-up Nexenio entwickelte App kann man als digitales Kontakttagebuch bezeichnen mit Hin-und Rück-Kanälen zu den Gesundheitsämtern, und sie wird die anachronistische Zettelwirtschaft ersetzen, wenn die Außengastronomie wieder öffnen darf. Bei der Entwicklung hat Smudo von den Fantastischen Vier mitgewirkt, der in einem erfrischenden Interview in SWR 2 äußerte, jeder könne einen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie leisten. In Amerika wäre Smudo längst ein Nationalheld!

Müdigkeit in Zeiten der Pandemie

Erst wägen, dann wagen. Im Film „Ich bin Dein Mensch“ kann eine Wissenschaftlerin (Maren Eggert) dem humanoiden Roboter Tom auf Dauer nicht widerstehen; für Ihre Rolle erhielt die Schauspielerin einen Silbernen Bären. © letterbox Filmproduktion

Überraschung! Per Zufall stoße ich in der Zeitung auf den Hinweis, dass die legendäre Corona-Warn-App nun auch auf älteren I-Phones läuft. Meines ist schon zehn Jahre alt und funktioniert noch tadellos; nur einmal habe ich die Batterie wechseln lassen. Rasch ist die App heruntergeladen, und nun nutze ich sie und schaue mir die aktuellen Zahlen an, die aber auch dauernd im Radio durchgegeben werden. Niemand hört mehr genau hin, die meisten haben die App schon fast vergessen. Heute meldet sie immerhin 1.280 „Warnende Personen“; meine letzten Einkäufe waren aber ungefährlich, obwohl in den Supermärkten die Abstandsregeln notorisch verletzt werden. Noch immer wissen wir in 75% aller Fälle nicht, wo die Infektion stattgefunden hat, und die wackeren Mitarbeiter*innen in den Gesundheitsämtern hecheln dem Geschehen telefonisch hinterher.

Das bereitet zunehmend Frust & Verdruss, sodass der Berliner Tagesspiegel befand: „‚Pandemie-Müdigkeit ist das Wort der Stunde.“ (04.03.21). Zur schlechten Stimmung im Lande trägt zu einem guten Teil die miserable Kommunikation bei. Der Inzidenzwert von 35, zuletzt das Goldene Kalb der Politik, wurde sang- und klanglos kassiert. Dafür erfahren die Apotheker*innen aus dem Radio, dass sie ab Montag Schnelltests anbieten können. Haben sie dafür überhaupt Platz & Personal, wie wird diese Leistung vergütet und abgerechnet, wie kann ein Test-Hopping verhindert werden? Fragen über Fragen. Als es im Dezember plötzlich kostenlose FFP2-Masken gab, kamen die Leute von weither, um sich in den Apotheken unseres Viertels einzudecken. Zum Glück bietet Aldi ab morgen Selbsttests an – das wird den umtriebigen Gesundheitsminister Jens Spahn und seinen glücklosen Kollegen aus dem Wirtschaftsressort Peter Altmaier freuen, die beide im letzten ARD-DeutschlandTrend kräftig abgewatscht wurden.

Sang- und klanglos ging der erste Teil der 71. Berlinale zu Ende, der ausschließlich für Insider aus der Branche und für Journalisten*innen zugänglich war. Die Preise wurden digital verkündet, die feierliche Verleihung folgt im Juni beim zweiten Teil mit Publikum. Den Goldenen Bären gewann der rumänische Film „Bad Luck Banging or Loony Porn“, eine drastisch-plakative Satire über Doppelmoral, den Silbernen Bären für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle gewann Maren Eggert in der Romantic Comedy „Ich bin Dein Mensch“ von Maria Schrader, die von der Kritik freundlich bewertet wurde und hoffentlich bald in den Kinos gezeigt werden darf. Schon vor der Pandemie hatte sich der englische Posaunist Chris Barber von der Bühne zurückgezogen; jetzt ist er im Alter von 90 Jahren gestorben. Er hat als weißer (!) Musiker dem Jazz in seiner Heimat zum Durchbruch verholfen. Zum Glück ist die dogmatische Identitätspolitik noch nicht darauf verfallen, den Jazz ausschließlich für die afroamerikanische Kultur zu reklamieren. Zuzutrauen wäre es ihren Hardlinern allemal.