Realitätsschock

„Nach dem 11. September 2001 wird der 24. Februar 2022 als das zweitwichtigste Datum in die Geschichte des 21. Jahrhunderts eingehen: als Datum der Rückkehr des Krieges in Europa.“ (Le Parisien / Paris, 25.02.22) © Pixabay

Wir sind explizit gewarnt worden. Vor den heftigen Gewaltszenen in dem kasachischen Film „Baqyt“ (Happiness), der den Panorama Publikums-Preis (PPP) von radioeins und rbb Fernsehen bekommen hat. Mit Wucht erzählt die Regisseurin Askar Uzabayev vom Scheitern einer Ehe, dem Versuch einer Frau, aus der Hölle ihres Lebens auszubrechen. Als sie ihrem Mann mit Charme & List nahebringen will, er solle sich doch eine Jüngere suchen, rastet der vollkommen aus – sie muss ins Krankenhaus. Dass sie von ihrer Schwägerin, einer fiesen Apparatschik, dazu gedrängt wird, ihren Bruder nicht anzuzeigen, spiegelt die Verhältnisse im neuntgrößten Land (!) der Welt wider. Schließlich entlädt sich die über Jahrzehnte angestaute Wut der Frau (großartig: Laura Myrzakhmetova); wie von Sinnen schlägt sie mit einem Hammer auf den schlafenden Schläger ein. Am Ende von „Baqyt“ – bei der Berlinale uraufgeführt – bugsiert sie ihren Mann im Rollstuhl zurück in die Wohnung; vom Gericht dazu verurteilt, auf immer bei ihm zu bleiben. Die Gewalt hat ein Ende, die Hölle auf Erden nicht.

„Wir – Festivalmacher*innen, Künstler*innen, Filmemacher*innen… – sind in Gedanken bei unseren Freund*innen in der Ukraine und stehen ihnen in einem Aufruf zum Frieden zur Seite“. Das wurde gestern in einem Berlinale-Statement zur Situation der Ukraine per Mail verbreitet. „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock nach einer Sitzung des Krisenstabs im Auswärtigen Amt. Stimmt, aber über Nacht wurde die Welt keine andere. Seit Wochen informieren die Amerikaner über russische Truppenbewegungen, ihr Präsident Biden sprach aus, was Kanzler Scholz erst nicht über die Zunge gehen wollte: im Falle einer Invasion in der Ukraine wird Nord Stream 2 gestoppt. Seit Jahren wurden die deutschen Putin-Versteher von den NATO-Partnern dafür kritisiert, seit Jahren ist der Zustand der Bundeswehr bekannt. Jetzt rächt sich diese Naivität bitter. Ebenso ist es illusorisch zu glauben, Zar Putin hätte die Sanktionsdrohungen der EU nicht einkalkuliert. Schon bei der Aussetzung des Swift-Abkommens gibt es wieder keine Einigkeit in der EU. Angeblich verfügt Russland derzeit über fast 700 Milliarden Euro an Devisenreserven; auf Gas, Kohle und Öl von dort ist besonders Deutschland weiter angewiesen.

Zur Wahrheit zählt auch, dass die NATO ohne die Amerikaner nicht viel taugt. „Nur die USA garantieren die Sicherheit Europas“, hält die Magdeburger Volksstimme (19.02.22) fest. Heute zieht die kroatische Zeitung Jutarnji List aus Zagreb einen naheliegenden Vergleich und malt eine düstere Perspektive aus: „Putins Angriff auf die Ukraine ist eine Kopie von Hitlers Angriff auf Polen am 1. September 1939. Die transatlantische Allianz muss jetzt koordiniert und entschlossen Putin entgegentreten. Andernfalls wird es das Ende der liberalen Demokratie sein.“ (25.02.22) Diese Zitate habe ich der Internationalen Presseschau im Deutschlandfunk entnommen, die ich sehr empfehlen kann. Gerade hat der russische Außenminister Sergej Lawrow der ukrainischen Regierung die demokratische Legitimation abgesprochen. Zynischer geht’s nicht. Nicht auszudenken, was wäre, wenn der amerikanische Präsident noch Donald Trump hieße…

Bataclan

Céline (Noémie Merlant) und Ramón (Nahuel Pérez Biscayart) scheinen den Terroranschlag bewältigt zu haben. „Un año, una noche“ © Bambu Producciones, Mr. Field & Friends Cinema, La Termita Films, Noodles Productions

Wer wagt, gewinnt! Carlo Chatrian (Künstlerische Leitung) und Mariette Rissenbeek (Geschäftsführung) hatten ganz darauf gesetzt, dass die 72. Berlinale wieder als Live-Veranstaltung stattfindet. Was hatte man den beiden nicht alles um die Ohren gehauen. Teilnehmer:innen seien gezwungen, Russisch Roulette zu spielen; die Organisatoren würden „die bewusste Inkaufnahme einer Durchseuchung des eigenen Publikums“ riskieren. Geht’s noch ein bisschen apokalyptischer? Während der Berlinale sprang meine Corona-Warn-App wieder auf Grün, obwohl ich täglich im Seuchengebiet Kino unterwegs war. Das Hygienekonzept war für Journalist:innen strenger als für das normale Publikum; aber es hat funktioniert, obwohl die Omikron-Wand oder, etwas weniger dramatisch formuliert, die fünfte Welle der Pandemie Deutschland überrollte. Ein ganz starkes Signal für die Kultur – noch vor den Lockerungen, die nun schrittweise ab 4. März auch hierzulande kommen. Vertraut man berufenen & selbst ernannten Expert:innen, dann schwächt sich Corona zu einer Endemie ab, die indes alles andere als harmlos ist.

Ein Zurück in das alte, gewohnte Leben vor Corona wird es aber nicht geben, auch nicht für die Berlinale, der ein Sprung in die Digitalisierung gelungen ist. Vorbei die Zeiten, als die Fans am Potsdamer Platz eine ganze Nacht vor den Ticket-Shops ausharrten oder die Journalist:innen sich täglich aufs Neue wg Karten anstellen mussten. Das Online-Ticketing hat hervorragend funktioniert. Wir hatten uns schnell daran gewöhnt, morgens ab 7.30h buchen zu können. Weil’s so einfach war, haben wir so viele Filme wie noch nie bei einer Berlinale gesehen, Entdeckungen gemacht und bei manchen Filmen aber auch immer wieder auf die Uhr geschaut. Wann haben wir zuletzt einen Hitchcock (Mr. & Mrs. Smith) im Kino gesehen? Hätten wir je eine skurrile Trouvaille wie das missglückte Porträt des introvertierten Pianisten Thelonious Monk zu Gesicht bekommen. Für Entdeckungen jedweder Art ist die Berlinale immer gut, unabhängig von der Qualität des Wettbewerbs, die alle Jahre wieder reklamiert wird.

Nicht einmal nach der Uhrzeit schaute ich bei der französisch-spanischen Produktion „Un año, una noche“ (Ein Jahr, eine Nacht), obwohl davor noch lang & lieblos die European Shooting Stars ’22 gekürt wurden. Der Film erzählt die Geschichte eines Paares, das den Anschlag auf den Club Bataclan 2015 in Paris überlebt hat. Céline (Noémie Merlant) und Ramón (Nahuel Pérez Biscayart) – beide spielen, als würden sie nicht spielen – reagieren ganz unterschiedlich. Sie verdrängt, er versucht, das Grauen durch intensive Auseinandersetzung zu bannen. Der Regisseur Isaki Lacuesta hält die Angst der Besucher:innen nach dem Massaker fest, bei dem 89 Menschen ermordet wurden, und verzichtet ganz auf Schockeffekte. Nicht nach unten schauen, werden die Überlebenden angehalten, nicht nach unten schauen zu den Toten und Sterbenden. „Un año, una noche“ wurde von der Kritik mäßig aufgenommen und bekam keinen einzigen der vielen Berlinale Bären. Gewonnen hat in diesem Jahr der spanische Film „Alcarràs“, den wir uns zum Glück noch anschauen können, da die Publikumstage heuer verlängert wurden. Gut so!

Ich bin ein Berliner

Spannung am Morgen. Ab 7.30 Uhr kann man Pressekarten für die Berlinale buchen.

John F. Kennedy hat natürlich nie in Berlin gewohnt. Das wollen aber viele Menschen, ungeachtet der bekannt schlechten Verwaltung in der Stadt. Es knirscht immer wieder systematisch zwischen dem Senat und den Bezirken. Nun darf man sich diese nicht als Stadtteil vorstellen; viele Bezirke haben mehr Einwohner:innen als deutsche Mittelstädte. So hat Pankow über 400.000 Einwohner:innen, Mitte erreicht diese Zahl (noch) nicht ganz. Da man oft monatelang auf einen Termin beim Amt warten muss, hatte ich nicht viel Hoffnung, als ich mich an den Rechner setzte. Ich wollte meinen Wohnsitz verlegen – und bekam online für den gleichen Tag um 14.12h einen Termin zugeteilt. Pünktlich erschien ich im Bürgeramt, wurde etwas vor der Zeit aufgerufen – und war um 14.15h Berliner. Ich war begeistert, lobte die sichtlich erfreute Mitarbeiterin und vergab nur Bestnoten bei der Bewertung.

Die gibt’s natürlich nicht für den Wechselbalg Söder Markus, der das – auch von der CSU – verabschiedete Gesetz zur Impfpflicht für die Beschäftigten im Gesundheitswesen in Bayern erst einmal nicht anwenden möchte. Ob das rechtlich überhaupt haltbar ist, wird sich weisen – das politische Signal ist fatal. Nicht nur die Mitteldeutsche Zeitung ist entsetzt: „Die Ankündigung, das Gesetz nicht umsetzen zu wollen, wirkt wie ein Brandbeschleuniger für die ‚Querdenker‘-Szene. Darüber hinaus gilt: Von demokratisch gewählten Parlamenten verabschiedete Gesetze binden Bürger und Staat in gleicher Weise. Das ist die Essenz des Rechtsstaates.“ (09.02.22) Dass man vor der Verabschiedung des Gesetzes seine Konsequenzen nicht bedachte, wirft kein gutes Licht auf die politische Klasse. Wer soll diese Impfpflicht kontrollieren? Etwa die überlasteten Gesundheitsämter? Was passiert, wenn noch mehr Mitarbeiter:innen ihren Job aufgeben oder wechseln. Geklatscht wird schon lange nicht mehr für diese Held:innen.

Umstritten ist nach wie vor, ob man angesichts immer neuer Rekorde und einer immer roten Corona-Warn-App überhaupt schon wieder Großveranstaltungen wagen sollte. Mit einem strengen Hygiene-Konzept und nur zur Hälfte besetzten Kinosälen geht die Berlinale in ihre 72. Auflage. Es gilt die 2G-plus-Regel mit Maske für das Publikum, die Journalist:innen müssen darüber hinaus täglich einen aktuellen Coronatest vorlegen. Im Vorfeld haben Carlo Chatrian (Künstlerischer Leiter) und Mariette Rissenbeek (Geschäftsführung) ganze Arbeit geleistet, damit das größte Publikumsfestival der Welt wieder stattfinden kann; anders als die Buchmesse in Leipzig, die erneut abgesagt wurde. Die Berlinale sendet ein positives Signal für die Filmwirtschaft, für die Kinos, die dramatische Umsatzrückgänge verkraften müssen, und für die Kultur insgesamt. Alles ist in diesem Jahr anders: die morgendliche Buchung der Tickets, die strengen Kontrollen beim Einlass, die halb leeren Säle bei den Vorführungen. Ein bisschen Wehmut kommt auf. Dagegen könnten gute Filme helfen. „Rimini“ von Ulrich Seidl, erstaunlicherweise im Wettbewerb gezeigt, gehört schon mal nicht dazu. Die Berlinale hat’s nicht leicht.

Rätselworte

ANTIKRIST, Regie: Ersan Mondtag, Premiere 30. Januar 2022 Deutsche Oper Berlin. © Thomas Aurin

Karte gesucht! Obwohl oder weil dieses Werk in der Deutschen Oper Berlin überhaupt erst das vierte Mal aufgeführt wird, ist das Interesse groß. Geschrieben und selbst überarbeitet hat der dänische Einzelgänger Rued Langgaard „Antikrist“ in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Zur Uraufführung kam es erst 1999 in Innsbruck, es schlossen sich bis dato nur noch Kopenhagen (2002) und Mainz (2018) an. Diese Zurückhaltung hat Gründe. Anders als in seiner „Sphärenmusik“, in der erstmals die Saiten in einem aufgeklappten Flügel angeschlagen wurden, erobert Langgaard im „Antikrist“ kein musikalisches Neuland. Spätromantische Klänge untermalen ein verschrobenes Libretto, in dem Luzifer und Gottes Stimme einen Pakt zur Rettung der verderbten Welt eingehen. „Rätselworte“ hören wir viele an diesem Abend. Die Sänger:innen und Ersan Mondtags bildstarke Inszenierung mit durchweg präsenten Tänzer:innen retten die „Kirchenoper“ in einer „Lärmes Kirchen Ödnis“, in der zum guten Schluss natürlich Luzifer dran glauben muss und ein androgyner Christus obsiegt. Die kundige ARD-Kulturkorrespondentin Maria Ossowski war von diesem „biblischen Roadmovie“ in 90 Minuten durchaus angetan.

Nach dieser Wiederentdeckung steht zwei Tage später die nächste an: „Mein Name sei Gantenbein“ im Berliner Ensemble. Der Intendant Oliver Reese hat diesen Roman von Max Frisch für die Bühne eingerichtet und mit Matthias Brandt einen wunderbaren Schauspieler gefunden, der seit 20 Jahren das erste Mal wieder im Theater zu erleben ist. Natürlich sind alle Vorstellungen ausverkauft. In knapp zwei kurzen Stunden nimmt Brandt verschiedene Identitäten an. Wenige Requisiten und sparsame Gesten reichen ihm allemal, um in ein „neues“ Leben zu schlüpfen. „Erkenntnisgewinn durch das Hineintreten in andere Identitäten“ sei das Wesen des Schauspielerns, stellte er in einem Gespräch mit Ute Büsing im Inforadio fest. Mit minimalen, aber effektiven Mitteln kommen auch Inszenierung und Bühnenbild aus. Es wechselt der Rahmen aus Neonröhren oder die Musik – schon schafft Matthias Brandt eine ganz neue Situation. „Ich probiere Geschichten an wie Kleider“, heißt ein gern zitierter Satz aus dem 1964 erschienenen Roman, der heute, wo man sich beliebig im Netz in anderen Identitäten verstecken kann, so wahr ist wie ehedem. Lang anhaltender Applaus für diese Soloperformance. Jammerschade, dass Matthias Brandt derzeit keine weiteren Theaterpläne hat.

Wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing‘. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, ein gut bezahlter Lobbyist von Putins Gnaden, verstörte wieder einmal die Öffentlichkeit mit seinen bizarren Äußerungen zur Ukraine-Krise und gewahrte in dem Land, das von russischen Soldaten umzingelt ist, ein „Säbelrasseln“. Seine Partei bringt er damit erneut in die Bredouille – wo steht eigentlich die SPD in dieser Krise? Das Lavieren des Kanzlers wirkt sich schon in den Umfragen aus; bei Nord Stream 2, bei der Bekämpfung der Pandemie oder bei der Haltung zu den Olympischen Spielen macht Olaf Scholz keine gute Figur. Der Politiker, der Führung versprochen hatte, scheint nach zwei Monaten im Amt noch immer nicht angekommen zu sein und wirkt seltsam blass. Beim aktuellen ARD-DeutschlandTrend liegt die SPD mit 22% deutlich hinter der CDU/CSU (27%); mit der Arbeit von Olaf Scholz sind nur noch 43% zufrieden. Heute beginnen in Peking die Olympischen Spiele. Ohne mich, versteht sich!