Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral

Berlin wird in sieben Jahren nicht klimaneutral sein, aber eine Mehrheit beim Volksentscheid wäre trotzdem ein starkes Signal.

Bertolt Brechts allseits bekannte Sentenz aus der „Dreigroschenoper“ ist so aktuell wie eh und je – erst denkt man an sich, dann an die anderen. Wir alle wissen inzwischen, dass sich die globale Erderwärmung nicht mehr aufhalten lässt; wir alle wissen, dass unser Lifestyle zu Lasten des globalen Südens geht. Was wir alle tun können, ist sattsam bekannt: weniger heizen, weniger reisen, weniger Fleisch essen. Das kann jede:r sofort umsetzen und muss es mit sich selber ausmachen, ob er/sie es lässt. Unerträglich wird es, wenn die „Klimaschutzbewegung religiöse Züge“ (Tagesspiegel, 19.03.23) annimmt, wenn Gut- und Bessermenschen sich legitimiert fühlen, Kunstwerke zu beschädigen, wenn Menschen ihr Verhalten zum absoluten Maß erheben und alle anderen danach beurteilen. Natürlich beteiligen wir uns am Volksentscheid „Berlin 2030 Klimaneutral“, natürlich wissen wir, dass es damit nicht getan ist.

Ein Leben ohne Widersprüche gibt es nicht. Wir schauen uns die Netflix-Produktion „Im Westen nichts Neues“ von Edward Berger nach dem Roman von Erich Maria Remarque im Kino an. Der Film wurde mit 4 Oscars ausgezeichnet und erzählt eindringlich vom Leben und Sterben junger Soldaten im Ersten Weltkrieg – am Ende steht die nüchterne Feststellung, dass sich in diesen vier Jahren der Frontverlauf kaum geändert habe. Im „Grande Guerre“ verloren etwa 17 Millionen Menschen ihr Leben. Während des Films denke ich immer wieder an den Krieg in der Ukraine, von dem in den Nachrichten nur noch gelegentlich die Rede ist. Das Leiden und Sterben dort geht weiter, es ist keine „news“ mehr. Wir sitzen in bequemen Ledersesseln mit Liegefunktion, viele knabbern Snacks, trinken etwas und goutieren das Grauen. Darf man einen solchen Film so erleben? Weltweit gibt es derzeit über 20 Kriege, von den meisten habe ich noch nie gehört.

„Besser Doppelmoral als gar keine Moral“, befand Luisa Neubauer in einem Podcast. Sie ist Klimaaktivistin und Mitglied der Grünen. Mit dieser Einstellung lässt sich noch alles rechtfertigen, etwa der Flug der Kulturstaatsministerin Claudia Roth zur Oscar-Verleihung nach Hollywood. Die Einladung hatte der Regisseur Edward Berger im Namen von Netflix ausgesprochen, und sie habe „gerne angenommen, um das Filmteam bei dieser Preisverleihung zu unterstützen und ihm seine Anerkennung im Namen der Bundesregierung vor Ort auszusprechen“. (Der Spiegel. 23.03.23). Die Kulturstaatsministerin hat die Kosten für diese Reise Netflix inzwischen aus privaten Mitteln erstattet. Ob sie selbst auch für die Aufrüstung ihrer Dienstlimousine mit weißen Lederpolstern aufkommt, wenn sich die hartnäckigen Gerüchte in der Hauptstadt bestätigen, steht dahin. In der Nacht auf Sonntag werden wieder die Uhren umgestellt. Zumindest diese Zeitenwende sollte gelingen.

Bald ist Spargelzeit

An die Windräder, im Volksmund Spargel genannt, werden wir uns alle noch mehr gewöhnen müssen. © Rolf Hiller

Volle Häuser, volle Züge. Wo war ich wann und warum in dieser Woche? Die Corona-Warn-App zeigt ”Begegnung an 1 Tag mit erhöhtem Risiko” am Sonntag, aber diese Warnungen versetzen niemanden mehr in Angst & Schrecken. Am Sonntag treffen wir vorm Theater Freunde zum Essen und ziehen dann weiter ins  Berliner Ensemble. Gegeben wird ”Der Theatermacher” von Thomas Bernhard in einer Inszenierung des Hausherrn Oliver Reese. Immer wieder wurde spekuliert, wen von den Regietitanen seiner Zeit der Schriftsteller in seinem Stück wohl gemeint haben könnte. Die Figur ist naturgemäß so lächerlich wie boshaft und selbstgefällig. Stefanie Reinsperger – die Besetzung zumindest ist ein Coup – kapriziert sich auf die Lächerlichkeit und reduziert den Theatermacher zum bloßen Hanswurst. Alles ist übertrieben, alles ist zu viel – eine Knallcharge, die lang & länger wird. Thomas Bernhard hätte bestimmt zu einer Tirade über die Verhunzung seines Stückes ausgeholt.

Zwei Tage davor bei Tschechows ”Möwe” in der schaubühne verging die Zeit wie im Flug, obwohl es zuweilen in Thomas Ostermeiers Inszenierung doch recht albern zugeht. Und Mitte der Woche dann endlich wieder ins Kasseler “Theaterstübchen”, wo ich unvergessliche Konzerte erlebt habe. Der Laden stand Anfang des Jahres auf der Kippe, aber der unermüdliche und doch nicht mehr unverwüstliche Markus Knierim konnte Sponsoren gewinnen. Das Aki Takase Quintett spielt fabelhaft vor vollem Haus; zumindest die Gagen sind damit gedeckt. Das ist die Crux vieler Clubs: Ohne Subventionen und Partys zur Querfinanzierung kommen sie nicht über die Runden. Einvernehmen im Publikum nach dem Auftritt der Pianistin Aki Takase mit ihrem international besetzten Quintett: ein großartiges Konzert!

Im Frankfurter Hauptbahnhof steht eine Spielzeugeisenbahnanlage – ganz auf der Höhe der Zeit mit einem Windrad. Leider habe ich keine Muße, die Loks für einen Euro fahren zu lassen. Im Neuen Theater Höchst wartet das nächste volle Haus dieser Woche – das Varieté im Frühling ist bis auf den letzten Platz ausverkauft. Der Frankfurter Entertainer Jo van Nelsen führt mit Liedern der 20er Jahre durchs Programm, die Nummern der Artist:innen müssen keinen Vergleich scheuen. Die Woche geht zu Ende, der ICE ist bis auf den letzten Platz besetzt. Sei’s drum. Besser als auf der Autobahn. Viele Deutsche haben mittlerweile begriffen, dass wir unser Verhalten ändern müssen, um die CO2-Emissionen zu senken. Das ficht den Bundesautobahnminister Volker Wissing (FDP) nicht an; er schreibt stur seine Politik der Vergangenheit fort, wie die Rheinische Post aus Düsseldorf konstatiert: “Deutschland hat auf dem Verkehrssektor komplett versagt. Als einziger Sektor hat er nicht nur sein gesetzliches Einsparziel verfehlt, sondern seine CO2-Emissionen im Vergleich zum Vorjahr sogar noch gesteigert – trotz Inflation und höherer Spritpreise. Verkehrsminister Wissing muss jetzt liefern. Mehr Schiene, weniger klimaschädliche Subventionen, Tempolimit und Verbrenner-Aus – der FDP-Minister wird diese Kröten schlucken müssen.” (16.03.23) Seine Ampel steht längst auf Rot!

Abschied

Martin Grubinger beendet mit gerade einmal 40 Jahren seine Karriere als Perkussionist. © Simon Pauly

Der Typ ist einmalig. Beiläufig teilt Martin Grubinger am Ende seines grandiosen Auftritts in der Alten Oper mit: „Das war mein letztes Konzert in Frankfurt“. Er bekäme oft Anfragen von jungen Kerlen, wie es funktioniere, dass seine Sticks bei einem Solo wie mit magischen Kräften durch die Luft wirbeln. „Haltet’s einfach drauf mit Euren Handys. Dann könnt Ihr sehen, wie das geht.“ Nichts können wir sehen und sind um so mehr gebannt, wie er mit den grünen Stöcken bei der Zugabe zaubert. Einmal tanzt einer schwerelos auf seinem Arm. Auf seiner letzen Tournee begeistern Grubinger und seine Band (4 Schlagzeuger und 1 Pianist) aber nicht bloß mit Virtuosität, das Programm ist überaus anspruchsvoll. Werke von Ioannis Xenakis, Steve Reich (ein Abschnitt aus „Drumming“) und die komplexe Komposition „Inferno“ des jungen isländischen Komponisten Daniel Bjarnason reißen das Publikum mit. Das letzte Konzert von Martin Grubinger findet am 28. Juli während des Rheingau Musik Festivals im Kurhaus Wiesbaden statt. Hingehen, staunen & jubeln!

Gute Kritiken bekommt auch der Film „Tár“ von Todd Field mit Cate Blanchett in der Hauptrolle, der für 6 Oscars nominiert ist. Der Film des Monats von FRIZZ Das Magazin erzählt die Geschichte vom Absturz einer Dirigentin, die (im Film) als erste Frau die Berliner Philharmoniker leitet. Anstatt sich auf diese Rolle im Musikbusiness zu konzentrieren, verliert sich der Regisseur in Details und Nebenwegen. Wir erleben im zähen Anfang des Films, wie Lydia Tár ihre Meisterklasse belehrt, manch klug-langatmiges Gespräch führt und lernen eine selbstgefällige Frau im Zenit ihrer Macht kennen, die sich nimmt, was sie will. Sie lebt mit der Konzertmeisterin des Orchesters (Nina Hoss) zusammen, hat eine kleine Adoptivtochter und immer wieder Affären mit jungen Musikerinnen. Ein bisschen viel von viel will Todd Field erzählen und verliert immer wieder den Faden. „Im Kreise der illustren Besatzung wächst Cate Blanchett einmal mehr über sich hinaus – und bringt uns die Hyperperfektionistin Lydia Tár näher, indem sie dem arbeits-egomanischen Kotzbrocken menschliche Tiefe verleiht.“ (Horst E. Wegener) Darüber ließe sich trefflich streiten. Bei der Oscar-Verleihung ging „Tár“ leer aus. Gut so.

Ob Franziska Giffey (SPD) und Kai Wegner (CDU) das Traumpaar der Berliner Politik werden, steht mittlerweile in den Sternen. Die einstige Bezirksbürgermeisterin von Neukölln konnte nicht einmal dort ihren Wahlkreis gewinnen; nun stimmte der Kreisverband der SPD dort gegen eine Koalition mit der CDU. Eine Klatsche für Giffey, der weitere folgten. Nach dem historisch schlechtesten Wahlergebnis der SPD bei der Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin wächst der Widerstand gegen Franziska Giffey und ihren umtriebigen Parteikollegen Raed Saleh. Sollten die Koalitionsverhandlungen mit der CDU scheitern, werden die beiden nicht im Amt bleiben können. Franziska Giffey hätte sich ihren Abschied aus der Berliner Politik wohl anders vorgestellt, wird aber sicher auf die Füße fallen. Die Affäre um den erschlichenen Doktortitel hat ihrer politischen Karriere erstaunlicherweise nicht geschadet.

And the Winner is …

Ihre Zeit als Regierende Bürgermeisterin von Berlin neigt sich dem Ende zu: Franziska Giffey holt sich Inspiration beim Filmteam von „Sonne und Beton“. © Alexander Janetzko / Berlinale 2023

Der Neustart der Berlinale ist gelungen. Nach den schwierigen beiden letzten Jahren, die von der Pandemie geprägt waren, kamen Promis & Zuschauer:innen wieder in Scharen zum größten Publikumsfestival der Welt. Zufrieden bilanzierte das Leitungsduo Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian: „Volle Kinosäle, bewegende Momente, zahlreiche prominente Gäste und ein neugieriges Publikum kennzeichnen die Berlinale 2023. Das ist für uns gelebte Kinokultur in all ihrer Vielfalt.“ 320.000 Tickets wurden in diesem Jahr ans Publikum verkauft – das Motto „Let’s get together“ war Programm. Zu entdecken gab es bei der 73. Berlinale allerhand, etwa einen digital restaurierten Film („A Woman of Paris“) von Charles Chaplin aus dem Jahr 1923, in dem er nur in einer Szene kurz zu sehen ist. Großartig auch „Golda“ mit Helen Mirren in der Hauptrolle, „Tár“ mit Cate Blanchett und Nina Hoss oder „Sonne und Beton“ von David Wnendt. Diese drei Filme liefen leider nicht im Wettbewerb, dem Aushängeschild der Berlinale, der nach einhelliger Meinung heuer allenfalls durchschnittlich gewesen ist.

Die Entscheidungen der unabhängigen Jury unter der Präsidentin Kristen Stewart waren politisch korrekt, setzen aber keine Zeichen. Diese Unentschiedenheit spiegelt sich strukturell in dem Preispotpourri wider: es gibt den Goldenen Bären, den Großen Preis der Jury und den Preis der Jury; es wird nur noch ein Preis für die beste Hauptrolle vergeben. Sei’s drum. Neben den bereits genannten Filmen beeindruckte uns am meisten „Roter Himmel“ (Großer Preis der Jury) von Christian Petzold. In einigen Szenen lachte das Publikum amüsiert, obwohl es am Ende nichts mehr zu lachen gibt. Großes Kino mit Thomas Schubert und Paula Beer, ein überzeugendes Buch, kurz ein Film, in dem mehr streckt, als zu sehen ist. Diese Vielschichtigkeit fehlt „Sonne und Beton“, der mich immer wieder an „Victoria“ von Sebastian Schipper erinnert hat. Dicht und geradezu physisch packend wird das Coming-of-Age von vier Freunden in der Berliner Gropiusstadt erzählt, wo das Recht das Stärkeren gilt. Quintessenz ihrer Erfahrungen: „Der Klügere tritt nach.“

Dass diese noch nicht ganz verhärteten Jungs nicht abdriften ins kriminelle Milieu der Gangs und Clans, ist eine der vielen Herausforderungen des Siegers bei der Berliner Wiederholungswahl. Kai Wegner und seine CDU, die nun eine Koalition mit der Wahlverliererin SPD unter Franziska Giffey eingehen möchten, stehen in der größten Stadt Deutschlands vor gewaltigen Herausforderungen. Die Agenda ist lang. Berlin muss sich radikal ändern, um im Wettbewerb mit anderen Metropolen bestehen zu können. Ein funktionierende Verwaltung wird es ohne eine Verfassungsreform nicht geben, eine klimaneutrale Stadt nicht mit Verkehrskonzepten der Vergangenheit, sozialen Frieden nicht ohne ausreichend Wohnraum. Schaffen es CDU und SPD sich zusammenzuraufen, stellen Wegner und Giffey persönliche Ambitionen hinter die gemeinsame Sache? An ihren Ergebnissen werden sie gemessen. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ (Hermann Hesse) Womöglich werden Franziska Giffey und Kai Wegner noch das Traumpaar der Berliner Politik.

Was tun?

Auf der Suche nach sich selbst und einem Thema: Thomas Schubert (Leon) in „Roter Himmel“ von Christian Petzold. © Christian Schulz, Schramm Film

Damit hätte vor einem Jahr niemand gerechnet. Der Angriffskrieg Russlands auf die ganze Ukraine, die nach Meinung von Zar Putin „von den Nazis befreit werden“ muss, dauert nun schon ein Jahr. Ausgang ungewiss. Immer mehr Flüchtlinge kommen in die EU-Länder, die Inflation ist höher denn je nach dem Zweiten Weltkrieg, wir sind (noch) in einer milden Rezession. Womöglich geht der Krieg in einen frozen conflict über, womöglich geht den Unterstützer-Staaten der Ukraine irgendwann das Geld aus, oder die Zustimmung der Bevölkerung bricht ein. Amerika soll dieser Krieg schon 30 Milliarden Dollar gekostet haben! Alte und neue Militärexperten wie etwa Anton Hofreiter von den Grünen führen das große Wort. Um so wichtiger, dass sich in der Süddeutschen Zeitung (15.02.23) erneut der Philosoph & Soziologe Jürgen Habermas zu Wort gemeldet hat.

Seine nüchterne und wohl bedachte Analyse der Lage unterscheidet sich angenehm von den Parolen der „Bellizisten“ jedweder Couleur. Nun weiß Habermas natürlich, dass einem Putin nicht mit dem „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ beizukommen ist. „Für die Regierung Biden tickt die Uhr“, analysiert er. „Schon dieser Gedanke müsste uns nahelegen, auf energische Versuche zu drängen, Verhandlungen zu beginnen und nach einer Kompromisslösung zu suchen, die der russischen Seite keinen über die Zeit vor dem Kriegsbeginn hinausreichenden territorialen Gewinn beschert und doch ihr Gesicht zu wahren erlaubt.“ Die chinesische Friedensinitiative von Kaiser Xi Jinping sollte man nicht überbewerten, aber sie zielt – unter Wahrung der Interessen dieser Großmacht – zumindest in die richtige Richtung. Wie Indien hat sich China bei der Verurteilung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine durch die UN-Vollversammmlung der Stimme enthalten.

Natürlich sind die Ukraine und ihr medial ausgebuffter Präsident Selenskyi auch auf der Berlinale präsent, die nach den Jahren der Pandemie wieder ganz normal stattfinden kann. Die Digitalisierung der Festivalorganisation ist für das Publikum und die Kritiker aus aller Welt ein Segen – gebucht wird mobil oder am Rechner. Freilich krankt die Berlinale weiter an ihrem Aushängeschild. Im Wettbewerb sind zu viele schwache Filme. Warum dort überhaupt Animationsfilme und Dokus laufen, ist mir nicht nachvollziehbar. Weniger wäre mehr gewesen. Vielleicht gewinnt ja in diesem Jahr der neue Film von Christian Petzold, der mit leichter Hand die vielschichtige Begegnung von vier jungen Leuten an der Ostsee erzählt. Einer von ihnen ist Leon, ein junger Schriftsteller in einer Schaffenskrise, den Thomas Schubert so spielt, als würde er nicht spielen. Ein Film wie das Leben, dessen Verlauf niemand kennt. „Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?“ Womöglich würde „Roter Himmel“ sogar Thomas Bernhard gefallen.

Hier steppt der Bär

Kopfstand kann der Bär auch. © Rolf Hiller

Morgens ist die Welt noch in Ordnung. Wir radeln entspannt zur Nelson Mandela Schule in Berlin-Wilmersdorf und geben unsere Stimmen ab. Nach der sog. Skandalwahl von 2021 wollte man alles besser und richtig machen – es gibt genug Wahlhelfende (Aufwandsentschädigung: 240 Euro pro Kopf) und Wahlkabinen. Geht doch. Die Wahlwiederholung kostet schlappe 40 Millionen Euro und endet mit einer Überraschung. Die SPD hat 113 Stimmen mehr als Die Grünen inkl. der verspätet in Lichtenberg ausgezählten Briefwahlstimmen. Klarer Sieger dieser Wahl ist die CDU; mit ihrem Spitzenkandidaten Kai Wegner holte die Partei 28,2 % der Stimmen und 9 der 12 Bezirke. Wenn es Wegner nicht gelingt, eine Koalition zu schmieden, bleibt er aber ein König ohne Land. Keine Lösung für die Stadt wäre, wenn die rot-grün-rote Koalition in derselben Konstellation irgendwie weiterwurschtelt.

Was tun? Ein kluger Vorschlag kommt von Hamid Djadda. Djadda who? Er ist Besitzer der Ohde Marzipanfabrik in Neukölln – dort hat die einstige Bezirksbürgermeisterin und SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey ihr Direktmandat übrigens verloren – und Eigentümer der Avus-Tribüne, die er vor dem Verfall bewahrte. Er schlägt eine große Koalition aus CDU, SPD und Grünen vor. „Warum eine Dreierkoalition mit den Grünen?“, fragt der Tagesspiegel (13.02.23). „Weil sie so eine Zweidrittel-Mehrheit haben und man, um größere Probleme zu lösen, die Verfassung ändern muss. Das geht nur so.“ Recht hat er. Eines der vielen Probleme dieser Stadt ist das Kompetenzwirrwar, das in der zweistufigen Verwaltung aus Senat und Bezirken begründet ist. Djaddas klare Analyse & Diagnose wünschte man den vielen Piefkes & Postenhubern in der Berliner Politik. Könn wa nich, wolln wa nich ändern, ist ihre Devise. Parteiübergreifend!

Tappst der Bär mit schwerem Gepäck durch die Untiefen der Berliner Politik, fängt er am Potsdamer Platz an zu steppen. Berlinale is back, heißt es allenthalben. Stars wie Kristen Stewart, Anne Hathaway, Steven Spielberg, Sean Penn oder Cate Blanchett sind in der Stadt, der Eröffnungsfilm und der erste Wettbewerbsfilm sind klasse – die Stimmung ist gut, und die Erwartungen sind hoch. Endlich wieder Kino ohne Corona! Wir sitzen in einem der frisch renovierten Säle des CinemaxX in Reclinern aus feinem Leder und erleben die herrlich schräge Liebesgeschichte einer Schlepperkapitänin mit einem kleinwüchsigen Komponisten („She came to me“ von Rebecca Miller). Tags drauf sehen wir „BlackBerry“ von Matt Johnson nach dem Bestseller „Loosing the Signal“ – Aufstieg & Fall einer Marke mit schrägen Nerds und skrupellosen Zockern. „Junge, die Welt ist schön“ von Tony Marshall haben diese guys bestimmt nie gehört. Gestern starb der „Stimmungsmacher der Nation“. Jetzt muss der Bär ohne ihn weiter steppen.

Die Qual der Wahl

Kongenial bringt der Regisseur Jossi Wieler in einer viel beachteten Uraufführung Elfriede Jelineks Text „Angabe der Person“ im Deutschen Theater auf die Bühne – mit Fritzi Haberlandt, Susanne Wolff, Linn Reusse © Arno Declair

Unverhofft kommt oft. Ich möchte ein halbes Körnerbrot in einem Biomarkt mit einem 50-Euro-Schein bezahlen. Die freundliche Bedienung hat zu dieser frühen Stunde noch kein Wechselgeld in der Kasse; einer Kollegin von ihr geht es nicht besser. „Dann kann ich eben nichts kaufen“, maule ich und will von dannen ziehen. Eine junge Frau schaltet sich ein. „Ich übernehme das auf meiner Karte“, sagt sie locker. Ich danke überrascht und biete ihr meine letzten Münzen an. „Ist schon okay.“ „Dann übernehme ich beim nächsten Mal“, gebe ich zurück. Wenn irgendjemand ein paar Cent an der Kasse fehlen, bin ich schon eingesprungen, aber die souveräne Tat der jungen Frau ist damit nicht zu vergleichen. Lernen am Modell hat sich die Soziokognitive Lerntheorie auf die Fahnen geschrieben, Zur Nachahmung dringend empfohlen.

Es schadet nie, seine Voreinstellungen & Vorurteile zu hinterfragen. Ohne es weiter begründen zu können, mochte ich die „geniale Nervensäge“ (Tagblatt) Elfriede Jelinek nicht. Eine, die immer weiß, was richtig ist, die Inkarnation des guten Gewissens. Durch die sehr guten Kritiken nach der Premiere der Bühnenadaption ihres Buches „Angabe der Person“ wurden wir neugierig und sitzen nun nach einem langen Arbeitstag im Deutschen Theater Berlin. Zweieinhalb Stunden fast nur Monologe, keine Pause. Ohne Scho-Ka-Kola (mit ordentlich Koffein) nicht zu schaffen. In diesem Buch nimmt sie die erniedrigenden Erfahrungen einer Steuerprüfung zum Anlass, lapidar, ironisch und entlarvend.über das System der Bürokratie nachzudenken – heute geht’s um Geld, damals ging’s um die Juden. Einige Verwandte von Elfriede Jelinek wurden im Nationalsozialismus ermordet. Diese Textflächenüberwältigung hat der Regisseur Jossi Wieler kongenial und mit sparsamen Mitteln auf die Bühne gebracht – mit den drei großartigen Schauspielerinnen Fritzi Haberlandt, Susanne Wolff und Linn Reusse. Von der Kritik am meisten Lob bekam die Haberlandt, aber ihre Kolleginnen müssen sich nicht hinter ihr verstecken. Großer Applaus für einen großen Abend im Theater ohne Theaterstück!

Im Wahlkampf hielten sich die Polit-Promis merklich zurück; das Ergebnis dürfte die Stadt kaum weiterbringen, aber am Sonntag schaut das ganze Land auf Berlin. Erstmals in der Geschichte der Republik musste eine komplette Wahl wiederholt werden; es gab Pleiten, Pech & Pannen zu Hauf. Wie gewohnt, werden abends in den Medien alle Wahlkämpfer:innen gute Miene zum bösen Spiel machen; am Montag beginnt dann der Katzenjammer, und die CDU könnte in die Röhre schauen. Anders als in Hessen oder NRW dürfte es in Berlin für das Modell Schwarz-Grün keine Chance geben, zu weit gehen die politischen Ansichten & Ziele auseinander. Endgültig entscheidet das Bundesverfassungsgericht erst in ein paar Monaten über die Wiederholung der Berliner Chaoswahl von 2021. Der Demokratie haben die Verantwortlichen so oder so einen Bärendienst erwiesen. Bis jetzt weiß ich nur, welche Partei ich am 12. Februar nicht wählen werde.

Masken runter

©️ 2019, OSGEMEOS

Vor drei Tagen war noch alles anders in den Zügen der Deutschen Bahn. Alle trugen eine Maske, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. Am 2. Februar fiel auch dort die Maskenpflicht, und nun fahren alle genauso selbstverständlich ohne. Hin und wieder sehe ich auf der Fahrt nach Köln noch Reisende mit dem Mund-Nasen-Schutz, aber die Maskierten sind eine verschwindende Minderheit. Natürlich habe ich noch eine dabei, weiß aber nicht, in welcher Situation ich noch einmal nach ihr greifen würde. Wenn der ICE noch voller wäre oder die Corona-Warn-App anspringt? Nachdem es in der letzten Woche wieder in einem Regionalzug eine tödliche Attacke auf Fahrgäste gab, habe ich mir Pefferspray besorgt. Ich bin viel mit dem Zug unterwegs und habe mich immer wieder einmal gefragt, was ich bei einem Angriff tun würde. Ob das Spray helfen könnte? Es ist zumindest beruhigend, eins in der Reisetasche zu wissen.

Nach dem Ende der Pandemie ist die Pandemie natürlich noch nicht zu Ende. Die Viren sind jetzt bei uns heimisch geworden; nun gilt es, Fehler & Folgen festzustellen. Staunend lese ich meine Beiträge aus dem Jahr 2020 – Hamsterkäufe (kein Toipa nirgends), Geschäftsschließungen, aberwitzige Verbote. Lesen im Park war nicht erlaubt, und man durfte sich nicht einmal auf eine Bank setzen. Die Verunsicherung war gewaltig, und so nahmen wir lammfromm allerlei aberwitzige Regeln hin. Derweil machten findige Gschaftlhuber glänzende Geschäfte mit Masken, Testzentren oder Schnelltests. Bisweilen bekam man/frau das Ergebnis, ehe überhaupt getestet wurde. Auch BioNTech oder Moderna haben in diesem unserem kapitalistisch strukturierten System mit ihren Impfstoffen satte Gewinne einstrichen. Die psychosozialen Folgen lassen sich dagegen noch nicht ermessen. Was diese gestohlenen Jahre bei Kindern und Jugendlichen auslösen werden, wird sich erst noch weisen.

Die Maske heruntergelassen hat nun endlich die Innenministerin Nancy Faeser. Seit Monaten kursierten die Gerüchte, sie wolle als Spitzenkandidatin der SPD zur Landtagswahl in Hessen antreten. Nun ist es offiziell; und sie bleibt im Wahlkampf weiter Innenministerin. Die konservative Opposition heult auf – beide Aufgaben könne sie nicht bewältigen. Dabei vergessen CDU/CSU geflissentlich, dass ihr ungeliebter Kanzlerkandidat Armin Laschet gleichzeitig Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen war. Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern. Schnell wechseln die Stimmungen, und schwups liegt Bettina Jarasch, die Spitzenkandidatin der Grünen in Berlin, auf Platz 3 der aktuellen Umfragen zur Wiederholungswahl. Vorne liegt derzeit Kai Wegener (CDU), der noch kein politisches Amt innehatte, über keinerlei Verwaltungserfahrung verfügt und sich trotzdem zutraut, in Berlin alles besser zu machen. Die noch Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey von der SPD lächelt derweil tapfer in jede Kamera und spekuliert wohl insgeheim auf ein Comeback als Bundesministerin. Während sich in Paris oder London Bürgermeister:innen für höhere Ämter empfehlen, ist es in Berlin gerade umgekehrt. Hier murkst die zweite Reihe seit Jahrzehnten vor sich hin, sehr zum Nachteil dieser tollen Stadt!

Rote Linien

© Vinzenz Lorenz M auf Pixabay

Heuer soll wieder ein großes Familientreffen stattfinden. Beim letzten Mal waren es knapp 90 Personen. Es ist gar nicht so einfach, ein passendes Quartier zu finden, das alle unsere Erwartungen & Wünsche erfüllt. Um so gespannter sind wir auf ein Gutshaus im Süden Brandenburgs, das sich natürlich Schloß nennt. Schön gelegen, ansprechende Gesellschaftsräume, Zimmer & Wohnungen für alle Bedürfnisse, mehrere Saunen. Herz, was willst du mehr. Die Schlossherrin bewirtet uns mit Kaffee und Kuchen, der Kamin knistert. Die Führung durch das Haus übernimmt der Schlossherr, ein weitgereister Mann im rustikalen Look mit roter Mütze. Golf habe man nicht spielen wollen im Ruhestand, also machte sich das Ehepaar mit viel Geschick daran, ein altes, fast leeres Herrenhaus wieder herzurichten. Möbel, Geschirr und passende Ahnenbilder gab’s im Internet, Kamine und alte Fliesen wurden auch schon mal mit einem Hänger herangeschafft. Glück hatten die beiden auch noch. Die Nähe zu Babelsberg machte das Schloß für Dreharbeiten interessant – hier wurde „Ein russischer Sommer“ mit Helen Mirren gedreht. Frohgemut machen wir uns auf den Heimweg, doch abends ist plötzlich alles anders: der Schlossherr ist für die AfD in der Kommunalpolitik aktiv gewesen.

Der Charme des Hauses ist verschwunden, das Schloss liegt hinter einer roten Linie. Das Familientreffen wird nicht an diesem Ort stattfinden. Punktum. Das würde der Kanzler, der übrigens nicht zur Familie gehört, bestimmt genauso sehen, aber Olaf Scholz hat es bekanntlich mit roten Linien von ganz anderem Kaliber zu tun. Nach einer monatelangen Merkelei steht jetzt eine Panzerkoalition; die Ukraine bekommt nun doch den Kampfpanzer Leopard. Kaum ist diese Frage geklärt, tun sich neue auf. Die Ukraine fordert Kampfjets und soll von den USA und Frankreich solche Maschinen erhalten. Bleibt der Kanzler der europäischen Führungsmacht, wie die SPD, seine Partei, nun Deutschland einschätzt, standhaft und überschreitet diese rote Linie nicht? Würde Deutschland damit Kriegspartei und müsste einen russischen Angriff befürchten? Könnte das den 3. Weltkrieg auslösen? Trägt Deutschland noch immer eine historische Schuld wegen Hitlers Überfall auf die Sowjetunion? Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee Auschwitz…

Mag man Scholz‘ Zaudern & Zögern in der Leopardenfrage noch verstehen, so bleibt seine Passivität in der Verkehrspolitik vollkommen rätselhaft. Dass unser aller Auto seine Zukunft schon hinter sich hat, dass wir auch seinetwegen unsere Klimaziele (wieder) verfehlen, begreifen außer CDU/CSU und FDP (fast) alle draußen im Lande. Trotzdem beharrt der Autoverkehrsminister von den Freien Demokraten auf seiner anachronistischen Klientelpolitik, wie die Märkische Oderzeitung in wünschenswerter Deutlichkeit kommentiert. „Es wird eng für Verkehrsminister Volker Wissing. Die Ampel-Partner verlieren die Geduld. Die Länder machen Druck. Der FDP-Minister muss schnell Lösungen präsentieren, wie der Verkehrssektor die Klimaschutzziele einhalten kann. Bisher reichen seine Maßnahmen nicht aus. Dabei gibt es durchaus kurzfristige Mittel, wie Emissionen reduziert werden können. Denen verweigert sich der Minister allerdings. Die Lösungen lauten: Dienstwagen-Besteuerung umkrempeln, Pendlerpauschale auf klimafreundliche Verkehrsmittel wie Bus, Bahn und Rad ausrichten, ein Tempolimit auf Autobahnen einführen. Dadurch ließen sich Millionen Tonnen CO2 einsparen. Anpacken wird er die Themen aber nicht. Sie würden FDP-Wähler verschrecken – und das kann sich die Partei angesichts der diesjährigen Landtagswahlen nicht leisten.“ (23.01.23) Nach uns die Sintflut.

Bestellfehler

Endloser, fast menschenleerer Strand in Graal-Müritz. © Gitti Grünkopf

Wer kennt diese Nachricht in Zeiten des Online-Handels nicht: Ihr Paket wurde bei Ihrem Nachbarn abgegeben. Ich renne runter zum Briefkasten und finde wieder keine Benachrichtigung vor. Also erneut dem Kundendienst von Amazon eine Mail geschrieben, die sofort aus England anrufen. Das Paket sei abgegeben worden, bei einem Nachbarn, dessen Name ich noch nie gehört habe. Ich poltere los: das hat doch schon beim letzten Mal nicht geklappt. Die freundliche Amazone buchstabiert mir zweimal, wer meine Sendung entgegengenommen habe. Ich summe die Melodie der Krimiserie „Der Kommissar“ und mache mich an die Ermittlungen. Ein paar Hausnummern weiter soll die Sendung angekommen sein. Tatsächlich finde ich dort im Parterre den Empfängernamen, und tatsächlich wohnt dort eine Frau, die den gleichen Nachnamen trägt wie ich. Wie konnte das nur passieren? Ich hatte die falsche Hausnummer bei der Bestellung angegeben und rufe sofort bei Amazon an, um mich zu entschuldigen.

„Menschen machen Fehler, Fehler machen Menschen“, tröstet uns der Aphoristiker Erhard Horst Bellermann. Und manchmal hat ein Fehler ja auch sein Gutes. Wir wollten am Wochenende an die See fahren und warteten mit der Buchung der Unterkunft bis zum allerletzten Moment. Wer weiß in diesen Tagen schon, ob er wirklich gesund bleibt und die Reise auch antreten kann. Schließlich hatten wir gerade erst vor einigen Wochen einen kompletten Strandurlaub bezahlt, ohne je ans Ziel gekommen zu sein. Also setzten wir diesmal auf last minute – und verloren. Aber, wie der Zufall so spielt, landet eine Mail von Travelzoo im Posteingang und bietet uns eine Unterkunft in Graal-Müritz an. Gecheckt, gebucht. Das Hotel liegt direkt hinter der Düne, zum herrlichen Ostsee-Strand sind es nur ein paar Schritte. Im Sommer muss hier der Teufel los sein, aber jetzt sind nur wenige Häuser für Gäste geöffnet. Wir genießen die langen Spaziergänge am endlosen Strand und nehmen am Ende noch ein paar Pullen der „Männerhobby Brennerei“ mit. Wir kommen wieder.

Ob Kanzler Scholz mit seinem Zaudern & Zögern Fehler macht, wird sich weisen. Sein kerniger Satz „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“ wird immer mehr zur hohlen Phrase. Dass wohl Christine Lambrecht selbst ihren Rücktritt vom Amt der Verteidigungsministerin an die ungeliebten Medien durchstach, passt ins Bild; ebenso die Klärung einer Nachfolge auf den letzten Drücker. Boris Pistorius, der neue Mann (!) im Amt und zuvor 10 Jahre niedersächsischer Innenminister, hat sich von Scholz ins kalte Wasser werfen lassen. Er muss nun den NATO-Partnern deutlich machen, dass sich Deutschland in Europa als „Führungsmacht“ versteht, wie sein Parteikollege Nils Schmid jüngst schwadronierte. „Welche unserer transatlantischen Partner“, fragte die Publizistin Stefanie Babel im Tagesspiegel, „will Deutschland denn auf Grundlage welcher Vision und mit welchen Fähigkeiten anführen.“ (12.01.23) Durch die Lieferung von Kampfpanzern wird sich diese Frage nicht erübrigen.