Ausgelaugt

Der Goldene Bär ging bei der 74. Berlinale an den Dokumentarfilm „Dahomey“ von der Regisseurin und Produzentin Mati Diop. © Richard Hübner / Berlinale 2024

Mit einem Eklat begann die 74. Berlinale, mit einem Eklat endete sie auch. Herrschte am Anfang helle Empörung über die Einladung einiger AfD-Abgeordneter zur Eröffnungsgala – in den Vorjahren nahm daran übrigens niemand Anstoß -, nutzten einige die Abschluss-Veranstaltung zur Abrechnung mit Israel. Keine Rede davon, dass die Hamas den Angriff auf Israel am 7. Oktober begann, kein Wort darüber, wie zynisch diese Terrororganisation die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen als Geisel nutzt. Keine Reaktion im Publikum und bei den anwesenden Politiker:innen. Die Leitung der Berlinale, Mariëtte Rissenbeek (Geschäftsführung) und der Künstlerische Leiter Carlo Chatrian, distanzierten sich erst am nächsten Tag pflichtschuldigst und wurden einmal mehr zu Getriebenen, wie so oft in ihrer glücklosen Amtszeit. Sie hätten gewarnt & gewappnet sein müssen, zumal sich die Berlinale doch ganz explizit als politisches Filmfestival versteht. 

Über dem Eklat zum Abschluss gerieten Licht & Schatten der filmischen Qualität bei der 74. Berlinale in den Hintergrund. Der Wettbewerb fand bei der Kritik wenig Anerkennung – zu viele schwache Filme. Warum die neue Arbeit von Julia von Heinz (“Treasure”) in Berlin ihre Weltpremiere feierte, aber nicht im Wettbewerb lief, verstehe, wer will. Warum es bei der Berlinale nur eine (!) Auszeichnung für den/die beste/n Hauptdarsteller:in gibt, verdankt sich wohl einer merkwürdigen Anpassung an den Zeitgeist. Die Entscheidungen der Jury überraschen immer wieder, aber man muss sie klaglos hinnehmen. Den Goldenen Bären erhielt wieder wie im Vorjahr ein Dokumentarfilm – “Dahomey” von Mati Diop. Sicher eine gut gemeinte Entscheidung, die aber zeigt, dass Berlin gegen die Festivals in Cannes und Venedig weiter an Bedeutung verliert. “Der Goldene Bär zieht nicht mehr” (FAZ) und “Festival in Schieflage” (Tagesspiegel) bilanzierten die Experten.  

Derweil eskaliert die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen immer weiter. Auch wenn Israel nicht für den Angriff der Hamas verantwortlich ist, müssen sich die Regierung und die ganze Welt der Situation stellen. Aber ob das ohne einen Wechsel im Amt des israelischen Ministerpräsidenten möglich sein wird? Eines Tages wird hoffentlich unzweifelhaft geklärt, ob Benjamin Netanjahu die Warnungen seines Geheimdienstes bewusst ignoriert hat, um weiter im Amt zu bleiben. Der Mossad soll schon ein Jahr vor dem Überfall der Hamas genau davor gewarnt haben. Dass Israel einen Krieg gegen die Hamas und andere Terrororganisationen im Nahen Osten nicht gewinnen kann, liegt auf der Hand. Dass die demografische Entwicklung in dieser Krisenregion gegen Israel spricht und eine international garantierte Zwei-Staaten-Lösung der einzige Weg ist, dort halbwegs stabile Verhältnisse zu schaffen, müsste allen Kriegstreibern klar sein. Aber die Stimme der Vernunft findet derzeit kein Gehör! Es ist zum Verzweifeln. 

Anstand lohnt sich immer

Johannes Hegemann und Liv Lisa Fries im Film „Alles Liebe, Eure Hilde“ von Andreas Dresen © Frederic Bartier / Pandora Film

Ein bisschen Glück schadet nie bei der Berlinale. Wir konnten beim morgendlichen Booking am Rechner fast alle Filme bekommen, die wir sehen wollten, und haben nur einen echten Flop erlebt. Eine gute Bilanz für einen wieder einmal sehr durchwachsenen Wettbewerb, bei dem man sich immer wieder fragen muss, was dort Filme wie die verquaste Lovestory “Black Tea” zu suchen haben. Andererseits gab es Weltpremieren, etwa “Andrea lässt sich scheiden” von und mit Josef Hader, die in der Sektion Panorama liefen. Vielleicht schafft es Tricia Tuttle, die neue Intendantin der Berlinale, im nächsten Jahr, die Qualität des Wettbewerbs zu erhöhen und die Reihen klarer zu positionieren. “Encounters”, das Lieblingsprojekt des scheidenden künstlerischen Leiters Carlo Chatrian wird es dann hoffentlich nicht mehr geben. Bei ihrem ersten Auftritt in Berlin machte Tricia Tuttle, die zuvor das BFI London Film Festival geleitet hat, einen sehr guten Eindruck. Die Berlinale braucht dringend frische Ideen & Impulse. 

Dabei waren im Wettbewerb heuer durchaus hervorragende Filme vertreten, etwa “Sterben” (183’) von Matthias Glasner, mit Corinna Harfouch und Lars Eidinger prominent besetzt. Gleichfalls in Erinnerung bleiben “My Favourite Cake”, Glück und Leid einer kurzen Liebe im Alter, von Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha, das berührende Coming-of-Age zweier junger Frauen in “Langue Étrangère” oder der dänisch-schwedische Beitrag “Vogter”, eine dichte, packende Täter-Opfer Geschichte in einem Gefängnis. Vielleicht gewinnt aber Andreas Dresen mit “In Liebe, Eure Hilde” den Goldenen Bären 2024, der das historisch verbürgte Leben der jungen Hilde Coppi (Liv Lisa Fries) erzählt, die durch ihren Freund im Widerstand gegen die Nazis aktiv wird – und wie alle anderen der jungen Idealisten unter dem Schafott endet. Dresen hat den Stoff bewusst enthistorisiert und verzichtet auf Genre-Klischees. 

“Anstand lohnt sich immer”, sagt Drehbuchautorin Leila Stieler anschließend auf der Pressekonferenz. Ein Satz, der nachhallt und dem sich jede:r in Zeiten wie diesen stellen muss. Am 24. Februar vor zwei Jahren begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und setzte bei uns jede Menge Realitätsschocks in Gang. Inzwischen lässt sich nicht mehr ausschließen, dass die ausgepowerte Ukraine den Krieg verliert. Dann steht der nächste Realitätsschock bevor, wenn der Diktator Putin das Baltikum angreift und damit die NATO. Am 25.02.2022 notierte ich an dieser Stelle: “Gerade hat der russische Außenminister Sergej Lawrow der ukrainischen Regierung die demokratische Legitimation abgesprochen. Zynischer geht’s nicht. Nicht auszudenken, wenn der amerikanische Präsident noch Donald Trump hieße…” Es ist leider nicht auszuschließen, dass der nächste amerikanische Präsident wieder Donald Trump heißt, allen Anklagen & Prozessen zum Trotz. Zur nächsten Berlinale wissen wir mehr. Schlimmer geht’s leider immer. 

Glanz ohne Gloria

Ein Coup der Berlinale 2024: die Jurypräsidentin Lupita Nyong’o. © Nick Barose

Und täglich grüßt das Murmeltier. Morgens auf der Homepage der Berlinale anmelden, dann geht’s weiter in den Warteraum für Akkreditierte; ab 7.30h können wir Tickets buchen. Jedes Jahr vergesse ich wieder, dass es zwei unterschiedliche Accounts gibt: einen für die Startseite und einen für die Karten. Und vor jeder Berlinale ist mir noch entfallen, dass es bei jeder neuen Ausgabe des erfolgreichsten Publikumsfestival der Welt einen Erst-Login mit noch mal anderen Anmeldedaten gibt. Wie schaffen das eigentlich die vielen Journalist:innen aus aller Welt? 2023 waren bei der Eröffnung der Berlinale die Klimaaktivist:inen am Werk, dieses Mal war die (späte) Ausladung einiger AfD-Politiker:innen der große Aufreger vor dem Festival. Es gab sogar Gerüchte, dass die Jurypräsidentin Lupita Nyong’o ihr Amt niedergelegt hätte, hätten Carlo Chatrian, der Künstlerische Leiter der Berlinale, und Mariëtte Rissenbeek (Geschäftsführung) die Rechtsradikalen nicht wieder ausgeladen. 

Mit der Verpflichtung des Oscarpreisträgerin (2014 für ihre Nebenrolle in “12 Years a Slave”) ist dem Leitungsduo bei ihrer nun letzten Berlinale ein Coup gelungen. Die Kenianerin “Nyong’o ist die Botschafterin für ein anderes Kino, für andere Geschichten. Und für ein neues weibliches, kosmopolitisches Selbstbewusstsein. Ihre Auftritte – ob bei den Oscars oder auf der Met-Gala – sind farbenfrohe Fashion Statements, sie bringt jeden roten Teppich zum Leuchten”, jubelt Andreas Busche (Tagesspiegel, 15.02.24). Nach der Euphorie kommt die Ernüchterung. Der Eröffnungsfilm kann zwar mit einem Weltstar punkten, reiht sich aber ein in die lange Reihe allenfalls durchschnittlicher Produktionen im Berlinale Wettbewerb. Cillian Murphy spielte die Hauptrolle in “Oppenheimer” und gibt in “Small Things like these” einen melancholischen Kohlenhändler, der seine Familie im Irland der 80er Jahre mehr schlecht als recht durchbringt. Er beliefert auch eine Einrichtung der Katholischen Kirche, die sog. Magdalenen-Wäscherei. 

Bis in die 90er Jahre wurden dort gefallene junge Frauen weggesperrt und schikaniert, vorgeblich um sie auf den Weg der Tugend zu führen. Von der unheilvollen Rolle der Katholischen Kirche erfährt man in Tim Mielants’ elegischem Film aber viel zu wenig. Im Abspann wird nur knapp darauf hingewiesen, dass über 30.000 junge Frauen bis in die 90er Jahre in Mariannen-Wäschereien ihr Leben fristeten. Hatte Mielants nicht die Courage, diesen Skandal in einem Film zu erzählen, oder einfach nicht die dramaturgischen Möglichkeiten? Diese Fragen gehen uns auch nach “La Cocina” durch den Kopf. Im Mikrokosmos einer Restaurant-Küche in New York bündeln sich viele Konflikte. Alle hängen noch dem American Dream nach und wissen doch, dass sie keine Chance haben. Alonso Ruizpalacios Film hat ganz starke Szenen und verliert dann wieder seine dramaturgische Linie. “La Cocina” dauert manchmal sehr lange 139 Minuten. Weniger wäre mehr gewesen. 

Film & Politik

Emma Stone als Bella in „Poor Things“. Photo by Yorgos Lanthimos, Courtesy of Searchlight Pictures. © 2023 Searchlight Pictures All Rights Reserved.

Mit der Berlinale 2024 geht die Ära von Carlo Chatrian (Künstlerischer Leiter) und Mariëtte Rissenbeek (Geschäftsführung) zu Ende, die von Beginn an unter keinem guten Stern stand. Sie starteten mit Corona, dann sprangen reihenweise Sponsoren ab, die staatlichen Mittel wurden zusammengestrichen, Kinos machten dicht, andere Spielstätten waren wegen Renovierung geschlossen. Mit einem Politikum geht ihre Zeit in Berlin nun zu Ende. Auf ihrer Seite verkündete die Berlinale einen Rückzieher; der Druck aus der Branche war offensichtlich zu stark geworden. “Gerade auch angesichts der Enthüllungen, die es in den vergangenen Wochen zu explizit antidemokratischen Positionen und einzelnen Politiker*innen der AfD gab, ist es für uns – als Berlinale und als Team – wichtig, unmissverständlich Stellung zu beziehen für eine offene Demokratie. Wir haben daher heute alle zuvor eingeladenen AfD-Politiker*innen schriftlich ausgeladen und sie darüber informiert, dass sie auf der Berlinale nicht willkommen sind“, schreibt das Leitungsduo der Berlinale (08.02.24) Das sind ehrenwerte und nachvollziehbare Motive, zumal sich das größte Publikumsfestival der Welt immer schon politisch verstanden hat. 

Der Medienhype spielt indes der AfD in die Hände und wird von den Rechtsradikalen weidlich für ihre Propaganda ausgeschlachtet – die sog. Systemparteien würden die AfD ausschließen. Die publikumswirksame Aktion läuft damit Gefahr, über kurz oder lang nach hinten loszugehen. “Die Ausladung der fünf AfD-Politiker könnte”, befindet David Steinitz in der SZ, “Wasser auf die Mühlen der Kultur- und Diversitätsfeinde sein, die sich in all ihren Vorurteilen gegenüber der Berlinale und des Berliner Polit- und Kulturbetriebs nur zu gerne bestätigen lassen. Weniger Aufmerksamkeit und Publicity hätte die AfD – mal wieder – vermutlich ohne diese Ausladung bekommen.” (09.02.24) 

Das Programm der Berlinale 2024 liest sich jedenfalls vielversprechend, wenn auch die großen Filme in Cannes oder Venedig ihre Premieren feiern. “Poor Things”, ein neues Meisterwerk von Yorgos Lanthimos, hätte der Berlinale gut zu Gesicht gestanden. Die Uraufführung fand aber am Lido statt, und bis dato hat der Film schon einige Preise eingeheimst. Für die Oscars, die Anfang März verliehen werden, gibt es 11 Nominierungen, natürlich auch für Emma Stone. “Lanthimos’ schwarzromantische Sexhorrormär”, befindet Horst E. Wegener, “folgt dem Roman des Schotten Alasdair Gray, der wiederum als feministische Überarbeitung des Frankenstein-Themas von Mary Shelley bei der Kritik gefeiert wurde. Die filmische Adaption, ein visuell surreal-wuchtiger Trip, bekam im Vorjahr in Venedig den Goldenen Löwen zugesprochen – und beschert Emma Stone für ihre unerschrockene Performance die Rolle ihres Lebens.” (FRIZZ Das Magazin für Frankfurt 01/24) “Poor Things” (141 Min.) hat bis jetzt in Deutschland fast 300.000 Besucher:innen angezogen. Immerhin. 

Ums Ganze

Deadly Games beim 20. OVAG-Varieté in Bad Nauheim. © Anne Naumann

Aufregend ist der Abend schon vor dem Internationalen OVAG-Varieté, das heuer sein 20. Jubiläum feiert. Ich sitze in einer Regionalbahn und muss in Hanau umsteigen. Kurz nach dem Start kommen wir schon wieder zum Halten, weil wir schnellere Züge vorbeifahren lassen müssen. Das tägliche Pendlerschicksal. Würde ich den Anschluss in Hanau verpassen, käme ich zu spät zur Show in Bad Nauheim. Aber ich habe Glück, der Anschlusszug steht am Nachbargleis und zuckelt dann irgendwann los. Die künstlerische Leitung des OVAG-Varietés – Andreas Matlé und Anne Naumann – hat im Jubiläumsjahr ein besonders feines Programm zusammengestellt, das über drei Stunden dauert. Mehr als 34.000 Tickets wurden verkauft – wieder ein neuer Rekord. Ein Coup ist ihnen mit der Verpflichtung von Simone Stiers als Conférencière gelungen. Unter ihrem Künstlernamen Simone Sauberland ist sie der Megastar in deutschen Kinderzimmern und verkauft in Deutschland mehr CD’s als Helene Fischer. 

Angenehm knapp hält sie ihre Ansagen und überzeugt auch als Sängerin. Besonders beeindrucken mich Jay Niemi & Jade Devine. Eben noch verschwand die frühere Star-Tänzerin des Moulin Rouge in einer Box, im nächsten Moment ist sie leer. Wie geht dem? Das möchte ich zu gerne wissen und bin gleichzeitig froh, den Trick nicht zu durchschauen – und mich verzaubern zu lassen. Ums Ganze geht es dann bei den “Deadly Games”. Der Brasilianer Alfredo wirft mit Messern auf seine polnische Partnerin Aleksandra; krachend schlagen sie in eine Holzwand. Damit nicht genug greift der Meister zum Bogen; die Pfeile landen knapp neben der “Frau ohne Nerven”. Doch die beiden treiben es noch toller. Alfredo schießt mit einem schwarzen Beutel über dem Kopf, navigiert von seiner Partnerin. Zum Finale steht er mit dem Rücken zu ihr und kontrolliert sein Ziel per Handy. Dem Publikum stockt der Atem, obwohl der Zielpunkt neben Aleksandra per Laserstrahl fixiert wird. Der Vorverkauf für 2025 läuft, die Erfolgsgeschichte des OVAG-Varietés geht weiter. 

Unterbrechungen vom anstrengenden & bedrückenden Alltag müssen sein. Am 24. Februar jährt sich der russische Überfall auf die Ukraine zum zweiten Mal, im Gazastreifen zeichnet sich keine Lösung ab, in Deutschland geht die Wirtschaftsleistung zurück, Streiks, leere Kassen – eine Lage, die Parteien mit einfachen Lösungen die Wähler:innen zutreiben. Dass ein Verfahren, das die Verfassungsfeindlichkeit der AfD überprüfen soll, Jahre dauern wird, ist nicht nachvollziehbar. Zwar gehen Hunderttausende gegen die Rechtspopulisten jede Woche auf die Straße, zwar hat Christian Herrgott (CDU) die Landratswahl gegen den AfD-Kandidaten in Ost-Thüringen gewonnen, zwar hat diese Partei im letzten ARD-DeutschlandTrend etwas an Zustimmung verloren – aber die Demokratie ist in Deutschland weiter in größter Gefahr, und nicht nur dort. Inzwischen formieren sich hierzulande auch die Linkspopulisten. Das BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht), könnte aktuell mit 5% rechnen. Diese Partei ist gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für das Ende des Energieembargos gegen Russland. Zar Putin lacht sich ins Fäustchen. 

Reiseglück

Lok a.D. auf der Insel Langeoog. © Karl Grünkopf

Wer viel mit der Deutschen Bahn unterwegs ist, weiß es sehr wohl zu schätzen, pünktlich und ohne Probleme ans Ziel zu kommen. Einen Ersatzfahrplan während eines Streiks habe ich bisher noch nie genutzt. Immer wieder schaue ich auf die App, ob der ICE wirklich fahren soll. Am Vortag meiner Fahrt von Hannover nach Berlin war der Zug ausgebucht, und mir schwante nichts Gutes. Was würde passieren, wenn er hoffnungslos überfüllt wäre oder gar nicht erst startet. Angeblich passiert das bei Normalbetrieb im Schnitt sechsmal pro Tag. Wenn nicht genug Fahrgäste von sich aus wieder aussteigen, räumt die Bundespolizei kurzerhand den Zug. Auf dieses Erlebnis muss ich noch ein bisschen warten. Der ICE kam pünktlich in Hannover an, erreichte das Ziel vor der Zeit und war nur durchschnittlich besetzt. Die meisten Kund:innen des Staatskonzerns trauten dem Ersatzfahrplan nicht. Bis Montagabend wird der längste Streik der Gewerkschaft der Lokomotivführer noch dauern und einen volkswirtschaftlichen Schaden von 1 Milliarde Euro anrichten. 

Dagegen nehmen sich die Boni des Konzernvorstands für lächerliche Ziele geradezu läppisch aus. Dass diese Sonderzahlungen vom Aufsichtsrat genehmigt wurden, in dem auch Arbeitnehmervertreter sitzen, verschweigt Claus Weselsky, der Chef der Spartengewerkschaft mit gerade einmal 40.000 Mitgliedern, natürlich geflissentlich. Die gemütliche Inselbahn auf Langeoog zwischen Hafen und Ortskern gehört nicht zur Deutschen Bahn, fuhr aber an einem Tag trotzdem nicht. Wegen eines Sturmtiefs musste der Schiffsverkehr eingestellt werden; das Leben auf der autofreien Insel schien noch gemächlicher zu verlaufen. Im ruhigen Gleichmaß der Tage – zum Glück außerhalb der Saison – fügen wir uns in den Rhythmus der Insel. Die meisten Restaurants machen Winterpause; die wenigen geöffneten bieten abends warme Küche allenfalls bis 19 Uhr. 

Trotz Internet sind wir der verrückten Welt ein gutes Stück entrückt. In Hamburg haben uns die Kinder eines Cousins noch Geschichten aus dem ganz normalen Wahnsinn an deutschen Gymnasien erzählt. Mathe unterrichtet ein Student, der nur Teile seines Fachs beherrscht, die Lateinlehrerin sucht Vokabeln bei Google, und der schräge Comedian von der Kneipe gegenüber versucht seine Fähigkeiten im Stand Up zu vermitteln. Besser irgendein Angebot ohne pädagogische Minimalkenntnisse als gar kein Unterricht scheint die Devise zu sein, nicht bloß in Hamburg. Da kommt das überraschende Ergebnis einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wie gerufen. 2035 droht demnach eine Lehrerschwemme an deutschen Grundschulen. Eine andere aktuelle Untersuchung dürfte dagegen niemanden überraschen: Wie in der Katholischen gibt es auch in der Evangelischen Kirche sexualisierte Gewalt. Hier wie dort wird die Aufklärung hintertrieben und behindert. Beide Kirchen haben in den letzten Jahren Millionen Mitglieder verloren. So schaffen sich diese Glaubensgemeinschaften selbst ab. 

Störungen

                                       © Immo Schulz-Gerlach auf Pixabay

Die erste Fahrt nach Frankfurt in 2024 lässt sich gut an. Der ICE ist mäßig besetzt, die Bordgastronomie ist geöffnet. Bis Erfurt also eine Fahrt, die keine Wünsche offenlässt. Dann bleiben wir dort im Bahnhof verdächtig lange stehen; irgendwann kommt doch eine Durchsage – Signalstörung auf dem vor uns liegenden Streckenabschnitt. Nach einer Stunde geht es weiter mit einem Umweg über Würzburg. Kann passieren, passiert immer häufiger, weil die Infrastruktur des Schienennetzes in Deutschland schon lange in keinem guten Zustand mehr ist. Wie so oft und nicht bloß bei der Deutschen Bahn hapert es an der Kommunikation. Tags darauf wird in ganz Hessen Extremwetter erwartet; reihenweise fallen S-Bahnen und Züge aus. Wir stehen am Gleis und warten. Plötzlich wird auf der Anzeigetafel still & leise ein Gleiswechsel angezeigt – alle rennen los. Das wäre gar nicht nötig gewesen, denn der Regionalzug steht noch lange im Bahnhof. Irgendwann vermeldet der Lokführer eine Störung, er wisse nicht, wann es weitergehe. 

Dass es sog. Störungen im Betriebsablauf geben kann, wissen Vielfahrer natürlich aus leidvoller Erfahrung. Jede Reise ein kleines Abenteuer. Dass es mit der Kommunikation hapert, ist ein Skandal. Und doch so typisch für die aktuelle Lage hierzulande. Plötzlich fallen uns die beschaulichen Merkel-Jahre auf die Füße. Krisen, wohin man schaut: Bauernproteste, marode Schulen, Straßen und Schienen, Mangel an bezahlbaren Wohnungen, eine bedingt einsatzfähige Bundeswehr, Geldnöte in einem der teuersten Gesundheitssysteme der Welt, eine verschlafene Wende in der Energie- und Umweltpolitik. Das alles soll eine Koalition stemmen, die sich schon lange nicht mehr grün ist und – wie so viele – unterschätzt hat, “wie ernsthaft die Bedrohungen für unsere Demokratie inzwischen geworden sind.“ (Thomas Haldenwang). Das Unwort des Jahres ist nicht vom Himmel gefallen, von der ”Remigration” war sogar schon im Bundestag die Rede. 

Zumindest formiert sich jetzt die Mitte der Gesellschaft gegen die AfD und namentlich gegen den Faschisten Björn Höcke. Eine Petition “Wehrhafte Demokratie: Höcke stoppen” haben fast eineinhalb Millionen Menschen unterschrieben. Ziel der Aktion: die Bundesregierung, das Parlament oder der Bundesrat sollen beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Grundrechtsverwirkung für Björn Höcke stellen. Dagegen werden nun mit Gründen Bedenken erhoben: man müsste der AfD politisch Paroli bieten, das Verfahren in Karlsruhe könnte Jahre dauern. Das eine darf das andere nicht ausschließen, darauf wies eindringlich ein Leser:innenkommentar von Ceebee am 13.01.24 auf taz.de hin: “Ich finde eine Diskussion darüber, ob wir besser dieses oder jenes gegen die Faschisten unternehmen, müßig. Wir sollten Alles gegen sie tun. Petitionen, persönliche Konfrontation, Massendemonstrationen, Verbotsanträge etc etc., es muss von allen Seiten kommen und es muss massiv sein!” In Zeiten wie diesen tut ein Abend mit der Dresdner Kabarettistin Anna Mateur so gut, die mit ihrem grandiosen Programm ”Kaoshüter” im Neuen Theater Höchst in Frankfurt begeisterte. Am besten haben mir ihre surreal überdrehten Geschichten gefallen, die sie zwischen ihre Songs streut. Sie und ihre beiden Buddies an der Gitarre haben nur ein Tagesvisum bekommen, verrät sie verschmitzt; dann wird es keine Probleme mit ihrer Remigration nach Dresden geben. Das Lachen bleibt mir im Halse stecken.  

Wut

Wut ist immer ein schlechter Ratgeber. © Gerd Altmann auf Pixabay

Kann jemand besser Wut ausdrücken als die Schauspielerin Hannah Herzsprung? Sie spielt, als würde sie gar nicht spielen. Mit dem Film “4 Minuten” von Chris Kraus hatte sie 2006 ihren Durchbruch. Hannah Herzsprung ist dort in der Rolle einer hochbegabten Pianistin zu sehen, die wegen Mordes im Gefängnis sitzt. Insgesamt 60 Auszeichnungen bekam der Film, erfahren wir bei der Premiere der Fortsetzung “15 Jahre” im Kino International. Der Regisseur Chris Kraus ist an diesem Abend nicht dabei und deutet in einem verlesenen Brief extrem schwierige Bedingungen bei dieser jahrelangen Produktion an. Seine Partnerin Uta Schmidt – im Leben wie im Beruf – hat es als Editorin immer wieder geschafft, die Produktion zu retten. Sie starb im November mit 58 Jahren, und Chris Kraus wollte ohne sie nicht zur Premiere nach Berlin kommen. “15 Jahre” erzählt die verschlungene Geschichte der Pianistin Jenny von Loeben nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis und wird wieder getragen von der grandiosen Hannah Herzsprung. Sie hält Film wie Plot zusammen und wird nach 144 niemals langen Minuten mit Standing Ovations gefeiert. 

Wer wollte die Wut einer jungen Frau nicht verstehen, die fünfzehn Jahre unschuldig im Gefängnis verbrachte. Wenn sich individuelle Wut kollektiv artikuliert, wird es aber gefährlich. Nicht auszudenken, hätte Wirtschaftsminister Robert Habeck in der letzten Woche versucht, die Fähre in Schüttsiel (Schleswig-Holstein) zu verlassen. Dass die Bauern sich trotz hoher Subventionen (mehr als 40% ihrer Einnahmen kommen aus öffentlichen Töpfen) gegen die Kürzung der Zuschüsse beim Agrardiesel wehren und Straßen blockieren, kann man gerade noch nachvollziehen. Wenn aber Protestler zum Mob werden, ist eine rote Linie überschritten. Aufgestachelt von rechten Scharfmachern attackierten Bauern in Brandenburg Fahrzeuge des Rundfunk Berlin Brandenburg. Die Saat geht auf, wenn bis in die Mitte unserer Gesellschaft hinein die Sender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Staatsmedien diffamiert werden. 

Die AfD, die eigentlich für die Abschaffung aller Subventionen ist, nutzt jede Möglichkeit, um Stimmung gegen die Ampel, gegen “das System” zu machen. In “Prantls Blick” vom 07.01.24 zitiert Heribert Prantl aus einem zynischen Text des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels: “Das wird immer einer der besten Witze der Demokratie bleiben”, heißt es in “Die Dummheit der Demokratie”, “dass sie ihren Todfeinden die Mittel selber stellte, durch die sie vernichtet wurde. Die verfolgten Führer der NSDAP traten als Abgeordnete in den Genuss der Immunität, der Diäten und der Freifahrkarte. Dadurch waren sie vor dem polizeilichen Zugriff gesichert, durften sich mehr zu sagen erlauben als gewöhnliche Staatsbürger und ließen sich außerdem die Kosten ihrer Tätigkeit vom Feinde bezahlen. Aus der demokratischen Dummheit ließ sich vortrefflich Kapital schlagen.“ Der durch das Recherchenetzwerk CORRECTIV aufgedeckte “Rechtsextreme Geheimplan gegen Deutschland”* lässt mir den Atem stocken. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, hat sich dazu eindringlich geäußert: “Man hat sich sehr in seinem komfortablen Privatleben eingerichtet und man nimmt nicht hinreichend wahr, wie ernsthaft die Bedrohungen für unsere Demokratie inzwischen geworden sind.“ Sage nur niemand, er habe nichts gewusst! 

Perfect Days

Perfect Days gibt’s derzeit nur im Kino in dem wunderbaren Film von Wim Wenders mit Koji Yakusho in der Hauptrolle. © 2023 MASTER MIND Ltd

Einmal sagt die Besitzerin eines kleinen Restaurants in dem wunderbaren Film “Perfect Days” von Wim Wenders: “Warum kann nicht alles so bleiben, wie es ist.” Oder wie es einmal gewesen ist, als die Welt vermeintlich noch in Ordnung war. Gewissenhaft erledigt ein Toilettenmann in Tokio seinen Job; sein Leben & seine Tage verlaufen in ruhigem Gleichmaß. Meisterhaft erzählt der Regisseur diese Geschichte ohne Längen, obwohl fast nichts passiert in den zwei Stunden. Koji Yakusho spielt diesen Toilettenmann, als würde er gar nicht spielen. Gebannt verfolgt das Publikum seinen fast immergleichen Alltag, den Wenders immer wieder neu erzählt. Aufstehen, Bett machen, rasieren, Kaffee aus dem Automaten, in den Lieferwagen, auf der Fahrt zur Arbeit alte Kassetten hören (der Titelsong stammt von Lou Reed), Mittagspause im Park, mit einer analogen Kamera Bilder vom Blätterdach eines Baumes machen, ohne durch die Linse zu schauen, etwas essen gehen, im Bett noch in einem Buch lesen, einschlafen. Hirayama von “The Tokyo Toilet” redet wenig und wenn überhaupt sehr bedächtig.  

Natürlich passiert noch ein bisschen mehr im Leben dieses Philosophen, der unerschütterlich in sich ruht – ein moderner Diogenes. Dass solch ein Leben gelingen könnte in Zeiten wie diesen zieht das Publikum sanft in seinen Bann. “Perfect Days” schauen wir uns im gut besuchten Delphi an, für viele das schönste Kino Berlins. In diesem Gebäude fand die erste Ausstellung der Berliner Secession statt, hier stellte der norwegische Maler Edvard Munch 1902 seine damals schockierenden Bilder seelischer Zustände aus. Sein Debüt in Berlin wenige Jahre zuvor hatte einen handfesten Skandal ausgelöst. Die Ausstellung wurde nach wenigen Tagen geschlossen und machten den Maler berühmt. Glücklich wurde er aber nie. “Ich habe gleichwohl das Gefühl”, notierte er, “dass alle Lebensangst eine Notwendigkeit für mich ist ebenso wie die Krankheit. Ohne Lebensangst und Krankheit wäre ich wie ein Schiff ohne Steuer.” 

Diogenes oder Munch. Wir sehnen uns alle nach Perfect Days und müssen bloß die Nachrichten hören und bekommen Lebensangst. Die Konsequenzen des Klimawandels sind mit Händen zu greifen; fast das ganze Bundesland Niedersachsen steht unter Wasser. Die Kämpfe um die knapper werdenden staatlichen Mittel eskalieren. Der Wirtschaftsminister Robert Habeck, immer offen für Gespräch und Reflexion, wurde von aufgebrachten Bauern am Verlassen einer Fähre gehindert. Die Zustimmung für die Unterstützung der Ukraine schwindet, die Umfragewerte der AfD steigen. Das Ansehen der Ampelkoalition ist im freien Fall, Scholz’ Beliebtheit sinkt immer weiter. Der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland bröckelt, weltweit sind Populisten, Autokraten und Diktatoren auf dem Vormarsch. Keine Perfect Days nirgends. Immanuel Kant, dessen 300. Geburtstag am 22. April ansteht, soll dennoch und wie hier schon vor zwei Jahren das letzte Wort behalten: “Drei Dinge helfen, die Mühseligkeiten des Lebens zu tragen: Die Hoffnung, der Schlaf und das Lachen.“ 

Land unter!

Die Elbe bei Coswig.© Rolf Hiller

Die Deutsche Bahn ist immer für Überraschungen gut. Da die Züge nach Weihnachten sehr stark gebucht waren, wollte ich mir auf meine Jahreskarte ein Upgrade in die 1. Klasse besorgen. Das Ticket gibt es aber (noch) nicht digital, sondern kommt per Post, also frühestens im Neuen Jahr. Wir rufen die Hotline an. Ein freundlicher Berater kann helfen und schickt mir eine Mail. Im Anhang ist mitnichten das Ticket, sondern ein Code, mit dem ich das Upgrade an einem Fahrkarten-Automaten drucken lassen kann; dazu gibt es noch eine Gebrauchsanleitung. Der DB-Mann wusste sogar, wie man auf der App eine Sitzplatzreservierung (ohne Fahrkarte) bekommt, gab aber unumwunden zu, dass keiner aus seiner Verwandtschaft das geschafft habe. Für eine tadellos funktionierende App hätten die Vorstände des Konzerns Boni verdient, nicht aber für die lächerlich geringe Anhebung der Frauenquote. Immerhin kann man seine Entschädigungen inzwischen digital beantragen. In weniger als 24 Stunden war mein Fall erledigt.   

Auf meiner letzten Fahrt über Erfurt/Halle saust der ICE in der Nähe von Coswig über die Elbe, die weite Teile der Auen überspült hat. Die Lage in Dresden ist zum Glück längst nicht so gefährlich wie 2002. In Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen bleibt die Situation indes sehr kritisch, zumal über den Jahreswechsel neue, ergiebige Niederschläge erwartet werden. In Zeiten des Klimawandels müssen wir uns auf extreme Wetterlagen einstellen und unser Verhalten anpassen. Dass Schaulustige mit ihrer Handy-Kamera die Arbeit der Feuerwehr behindern, Privatdrohnen über den Überschwemmungsgebieten fliegen, von den aufgeweichten Deichen Sandsäcke geklaut und Helfer:innen sogar angegriffen werden, ist vollkommen unverständlich. Nicht bloß bei Naturkatastrophen erodiert der Zusammenhalt der Gesellschaft. 

Die nächste Nagelprobe steht zum Jahreswechsel an, für den die Rettungskräfte in Berlin besser gewappnet sein wollen, um Ausschreitungen und Krawalle wie vor Jahresfrist zu verhindern. Warum sich die Politik nur auf begrenzte Böllerverbote verständigen konnte, verdankt sich populistischen Motiven – man wolle doch niemand den Spaß verderben. Ein Böllerverbot wäre eine klare Ansage gewesen; zudem hätte man 1% der jährlichen Feinstaub-Belastung eingespart und die Straßenreinigung entlastet. Die Frankfurter Neue Presse spricht sich mit guten Gründen für ein generelles Verbot von Privat-Feuerwerk aus: “Dass Raketen in falschen Händen schnell zu Waffen werden und gefährliches Macho-Verhalten verstärken können, weiß jeder, der in Großstädten schon an beliebten öffentlichen Orten Silvester gefeiert hat. (…) Aber selbst dort, wo friedlich geböllert wird, verletzen sich Menschen und belasten Kliniken, die durch fehlendes Personal und Krankheitswellen bereits am Limit sind. Genauso wie die Polizei, die in den vergangenen Krisenjahren Angriffe von vielen Seiten ertragen musste und in der Silvesternacht jetzt wieder zu erwarten hat.” (29.12.2023) Land unter, wohin man schaut. Und trotzdem die Hoffnung nicht verlieren. Dieser Optimismus wird 2024 mehr denn je gebraucht!