
Zu den Ritualen nach einer Demonstration gehört, dass die Veranstalter und die Polizei unterschiedlich viele Teilnehmende zählen. Während die Initiatoren von “Nie wieder ist jetzt! Deutschland steht auf” über 10.000 Menschen zählten, ging die Polizei nur von etwas mehr als 3.000 Leuten aus, die bei Regen in Berlin von der Siegessäule zum Brandenburger Tor liefen. Es ist ewig her, dass ich bei einer Demo gewesen bin. Wir stehen unter Schirmen und staunen nicht schlecht, als der Moderator uns launig viel Spaß zur Begrüßung wünscht. Das ist keine Party, an diesem Tag demonstrieren “zu wenige” (Michel Friedman) gegen Antisemitismus, Judenhass, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Deutliche Worte findet Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, vor ihm hatte die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas gesprochen, und für den Schlagersänger Roland Kaiser war es keine Frage, dass er an diesem Tag dabei war. Ein beeindruckend klares Bekenntnis für eine Pluralität der Religionen gibt Eren Güvercin ab (Mitglied der 4. Deutschen Islamkonferenz und Gründer der Alhambra Gesellschaft e.V.).
Wir können nicht bis zum Ende dabeibleiben und verpassen u.a. Herbert Grönemeyer; das Programm war – bei solchem Wetter erst recht – deutlich zu lang. Aber Einigkeit zu spüren in Zeiten wie diesen, ist wichtig und kann doch nur für Momente trösten. Allenthalben machen sich Frust und Enttäuschung breit. Auf einem Foto verfolgt eine junge Frau der Delegation von den Marshall Inseln die COP28 in Dubai, deren unverbindliche Abschlusserklärung nicht einen Funken Hoffnung für ihre Heimat verspricht. “Den Vertretern vieler Inselstaaten”, bilanziert der Konstanzer Südkurier, “war gar nicht nach Feiern zumute angesichts der Zukunftsaussichten für ihre Heimat. Noch bis 2050 wollen die Vertragsstaaten Kohle, Öl und Gas verheizen. Kiribati und die Marshallinseln im Pazifik oder die Malediven und Tuvalu im Indischen Ozean werden bis dahin schon ganz oder zu weiten Teilen im Meer versunken sein. Aber wen kümmern schon abgelegene Inseln und deren Bewohner am anderen Ende der Welt? Die fossile Industrie und die Staaten, die sich wieder mit vagen Formulierungen begnügen, jedenfalls nicht.” (14.12.23)
“Freiheit/Extasis” heißt eine Choreographie von Sasha Waltz & Guests, die im Rahmen eines kleinen Festivals zum 30-jährigen Bestehen ihrer Compagnie im Berliner Radialsystem zu erleben ist. Die live produzierten Sounds von Diego Noguera, gehen buchstäblich durch Mark und Bein; das Publikum erhält zum Selbstschutz Ohrstöpsel, die Sitze vibrieren. In neblig düsterer Atmosphäre finden die Tänzer:innen teils mit Masken verstörende Formationen. Beklemmende Endzeitstimmung. Keine Hoffnung nirgends. So düster könnte man heutzutage sicher auch Tennessee Williams Stück “Die Katze auf dem heißen Blechdach” inszenieren, das 1955 am Broadway Premiere feierte. Auf der Bühne des Deutschen Theaters schleift die Regisseurin Anne Lenk diese Familientragödie der Enttäuschungen & Intrigen zu einem langweiligen Stück Boulevardtheater. Zum Glück gibt es aber eine Alternative: die Verfilmung mit Elisabeth Taylor und Paul Newman. Kleine Fluchten müssen sein!
