Falscher Alarm

Alarm im Haus der Berliner Festspiele: „Le Sacre du Printemps“ musste unterbrochen werden. © Rolf Hiller

Wieder passierte es im Haus der Berliner Festspiele. Die beeindruckende Choreografie zu Igor Strawinskys “Le Sacre du Printemps” hat eben in dichten Nebelschwaden nach der Pause begonnen, als schrille Alarmsirenen ertönen. Wir müssen das Haus umgehend verlassen, selbst meine Tasche wird mir in der noch besetzten Garderobe nicht mehr ausgehändigt. Also raus vor die Tür, die Regenschauer sind zum Glück nur schwach – wir müssen auf die Feuerwehr warten. Der Intendant des Hauses, Matthias Pees, gibt sich optimistisch, und tatsächlich dürfen Sasha Waltz & Guests noch einmal beginnen. Die Musik kommt (leider) vom Band, trotzdem fesselt Strawinskys packende, stark vom Rhythmus geprägte Komposition auch hier. Die Truppe steckt die Unterbrechung weg, findet immer neue Bilder und Bewegungen, bis das “Frühlingsopfer” bestimmt ist. Das archaische Ritual nimmt seinen Lauf, erst noch wehrt sich die fantastische Tänzerin, dann streift sie ihre Kleidung ab – bereit sich zu opfern. Langer Applaus für Sasha Waltz & Guests, die in diesem Jahr ihr 30. Jubiläum feiern. 

Als der Alarm ertönte, dachten wir sofort an den islamistischen Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz vor bald acht Jahren. Damals saßen wir auch im Haus der Berliner Festspiele und erlebten “Palermo. Palermo” von Pina Bausch. Obwohl die schreckliche Nachricht sich im Publikum verbreitete, Unmut & Unruhe aufkamen, wurde das Stück bis zum Ende gespielt. Darf man im Angesicht des Schreckens weitermachen? Man muss es sogar. Wir leben unser Leben, wir müssen die Kriege & Katastrophen immer wieder ausblenden, ohne abzustumpfen. Dieses News-Detox ist notwendiger denn je. Zufällig stoße ich in der Zeitung auf ein Wort des italienischen Denkers Antonio Gramsci aus seinen Gefängnisheften, das ich sofort notiere: “Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.” Zum Pessimismus des Verstandes brauche ich nicht permanent Nachrichten zu hören, von Social Media ganz zu schweigen. 

Gelesen habe ich diesen Satz im Zug, der pünktlich fuhr; die Zweitklässler durften sogar in einem Wagen der Ersten Klasse reisen, der ICE war nur mäßig besetzt, alles funktionierte – eine perfekte Reise nach Frankfurt. Tags drauf war Schluss mit der Idylle. Der eben noch in der App angezeigte ICE wurde wegen “Unwetter” ersatzlos gestrichen, der RB war stickig & voll. Schicksal vieler Pendler, die das mit stoischer Geduld hinnehmen. Dass ein desolates Schienennetz Strukturschulden für die nächsten Generationen sind, schert die Gralshüter des deutschen Sonderwegs “Schuldenbremse” nicht die Bohne. Die ausländischen Fans staunen nicht schlecht über den miserablen Zustand der Deutschen Bahn. Der flotte Werbe-Spruch “Alle reden vom Wetter. Wir nicht” aus den 60er Jahren klingt genauso unvorstellbar wie die Litanei von der Wiederauflage des deutschen Sommermärchens anno 2006. Die Zeiten haben sich geändert. Dass es nun Gerüchte über die Ausdünnung oder gar Streichung von Verbindungen in Ostdeutschland gibt, ist Wasser auf die Mühlen der Populisten. Dümmer geht’s immer. 

Loose Ends

Ein neuer Zuckerwürfel in Wiesbaden: das Museum Reinhard Ernst (mre). © Rolf Hiller

Wir haben uns zuletzt vor dem Krieg getroffen, vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, oder sogar noch vor Corona. In Krisen wird die Erinnerung noch trügerischer. Es gibt unvergessliche Bilder und Erinnerungen, aber wer wüsste heute noch die einzelnen Phasen der Pandemie zu unterscheiden, wer kann heute noch die Maßnahmen zeitlich zuordnen, geschweige denn begreifen. Jetzt beherrschen der Ukraine-Krieg und seine politischen Folgen und das Wahlkampfthema Migration die Schlagzeilen. Die aktuellen Umfragen zur Landtagswahl in Thüringen am 1. September sind beängstigend: AfD 28%, CDU 23%, BSW 21 %, Linke 11% und SPD 7%. Was tun? Nach den bitteren Ergebnissen der Europawahl wäre eine schonungslose Analyse der Lage angezeigt, aber der Kanzler gibt sich unbeeindruckt und macht einfach so weiter. Das dürfte sich noch bitter rächen. 

Wir wollen in die legendäre Frankfurter Apfelweinkneipe “Zu den drei Steubern”, die wir in allerbester Erinnerung haben und die nach dem Tod von Adolf Wagner lange Zeit leer stand. Einst waren wir froh, uns irgendwo dazwischen quetschen zu können. Dann stand schon der Ebbelwoi auf dem Tisch, den der ruppig-herzliche Kellner ungefragt abstellte. Herrlich. Demnächst läuft die Schänke unter dem Label “Daheim bei den Drei Steubern”. Dann brechen in der Dreieichstraße andere Zeiten an, wie wir in einer anderen Daheim-Filiale im Ebbelwoi-Viertel erlebten. Das Lokal ist draußen mäßig belegt, wir setzen uns einfach an einen der freien Tische und bekommen vom Kellner eine dicke Zigarre. Man habe sich grundsätzlich anzumelden und werde dann platziert; das Lokal sei nämlich grundsätzlich ausgebucht. Zumindest an diesem Abend war das keineswegs der Fall, und der Herr der Tische ließ uns gnädig sitzen. Ebbler & Essen sind von guter Qualität. 

Unbedingt möchte ich mir am nächsten Tag noch “Max Pechstein. Die Sonne in Schwarzweiß” anschauen. Die klug kuratierte Ausstellung im Museum Wiesbaden kontrastiert die farbkräftigen Gemälde des bedeutenden, expressionistischen Malers mit seinen “handgemachten” Druckgrafiken, die in ihrer vermeintlichen Reduktion um so nachhaltiger wirken. Seine Arbeiten in Schwarzweiß bekommen in Zeiten des Klimawandels zudem eine apokalyptische Grundierung. Die Sonne verursacht schon jetzt in vielen Ländern fatale Dürren – die schwarze Sonne könnte man als Vorbotin des Todes sehen. Mit dieser Deutung gehe ich ein Haus weiter: zum Zuckerwürfel, wie die Wiesbadener:innen schon vor der Eröffnung am 23. Juni das “mre” nennen. Das Museum Reinhard Ernst, das seine spektakuläre Sammlung moderner Kunst zeigt, wurde vom kürzlich verstorbenen japanischen Architekten Fumihiko Maki gebaut und schmückt den Anfang der Wilhelmstraße. Sicherlich hätte ihm gefallen, was der grandiose Schauspieler Donald Sutherland († 20. Juni 2024) über den Tod sagte – “eine kleine, einsame Reise”.    

Sirenenalarm

Bis hierher und nicht weiter: Hinter dem Seil beginnt das Naturschutzgebiet. © Karl Grünkopf

Mitten in der Nacht schreckt mich der Heulton der Sirenen auf; flackerndes Blaulicht ist zu sehen. Auf dem Feldweg stehen zwei Feuerwehrautos und der Polizeiwagen der Insel. Der Einsatz scheint schon beendet zu sein. Was passiert ist, werden wir erst am nächsten Tag erfahren. Ein junger Mann aus dem Haus gegenüber feierte mit ein paar Freunden. Weit nach Mitternacht machten sie dann vor dem Haus ein Feuer, um alte Sachen abzufackeln. Eine Schnapsidee. Die Flammen schlugen hoch; ein Nachbar rief die Feuerwehr. Es ging glimpflich aus. In den letzten Tagen hatte es immer wieder geregnet, und der Wind kam von Westen. Wäre es trocken gewesen und der häufig drehende Wind wäre von der anderen Seite gekommen, hätte eine Katastrophe passieren können. Viele Häuser in der Nähe der Brandstelle haben ein Reetdach und hätten leicht Feuer fangen können. Seine Fahrlässigkeit kommt den Burschen teuer zu stehen: er muss den Einsatz der Feuerwehr bezahlen. 

Am nächsten Tag ist die Welt scheinbar wieder in Ordnung. Wir fahren mit dem Rad zur Nordspitze der Insel und machen vom Dornbusch einen langen Spaziergang am Strand entlang bis ans Ende der Welt. Hier beginnt das nur mit einem alten Seil abgetrennte Naturschutzgebiet des Neubessin. Bei den Sturmfluten im Herbst und Winter wird immer Sand von der Steilküste abgetragen und hier angespült. Man wähnt die Veränderungen mit bloßem Auge zu erkennen. Einst werden wohl Rügen und Hiddensee zusammenwachsen. Vor diesen gewaltigen Naturprozessen relativieren sich die politischen Verhältnisse. Bei der Wahl zur Gemeindevertretung spielen die traditionellen Parteien allesamt kaum eine Rolle; dieses Phänomen kann man inzwischen in vielen Gemeinden und kleinen Orten beobachten. Welche Interessen die Akteur:innen vertreten, ist von außen schwer zu beurteilen. Die Insel muss sich weiter entwickeln, ohne sich wie die Balearen und Kanaren dem Tourismus auf Gedeih und Verderb auszuliefern. 

Dagegen gibt es am Ausgang der Europawahl nichts zu deuteln. Gewonnen haben in Deutschland die Union und die Populisten, deren einfache Antworten auf komplizierte Fragen gerade in Ostdeutschland und bei jungen Wähler:innen verfangen. Der Jugendstudie 2024 nach blicken sie ”so pessimistisch wie nie” in die Zukunft. Ihre Erfahrungen in der Corona-Zeit, der Ukraine-Krieg, die immer konkreteren Folgen des Klimawandels, Angst vor Altersarmut und Wohnungsnot in den Großstädten – die Leichtigkeit der frühen Jahre ist dahin. Viele Menschen in Ostdeutschland sind hingegen fest von ihrer Opfererzählung überzeugt. Ficht das den Kanzler ohne Nerven gar nicht an? Heute, am 14. Juni, feiert der sogenannte Scholzomat seinen 66. Geburtstag und hört vielleicht sogar den bekannten Song von Udo Jürgens mit diesem Titel. Es steht nicht gut um die SPD und um das Land, dem er als Kanzler verpflichtet ist. Hört er nicht die Sirenen? 

Aufklärung

Szene aus dem „Horrorfilm“ über den Besuch der Bienen. © Karl Grünkopf

Der Mord in unserer gutbürgerlichen Straße in der letzten Woche hat viele aufgewühlt und ist inzwischen aufgeklärt. Zwei Leser dieses Blogs schickten mir unterschiedliche Quellen, die bestätigten, dass die Frau, die nur einige Häuser weiter wohnte, das Opfer einer Beziehungstat wurde. Ein früherer Geliebter stach sie am helllichten Tag nieder und flüchtete dann. Die Polizei hatte ihn bereits im Fokus, traf ihn aber in seiner Wohnung nicht mehr lebend an. Er hatte seine Mutter und sich selbst umgebracht. Der Fall ist geklärt. Wieder einmal wurde eine Frau Opfer einer Beziehungstat; das passiert aktuell in Deutschland durchschnittlich alle drei Tage. In unserer viel beschworenen Zivilisation gab es vor zwei Jahren 122 Femizide, quer durch alle sozialen Schichten. Nicht minder schockierend: insgeheim gibt es oft sogar noch Verständnis für die Männer.  

Das Unheimliche verliert seine Macht, wenn wir es begreifen. Wir sitzen beim Essen auf der Terrasse und hören ein Brummen, das immer stärker wird. Unzählige Insekten, vermutlich Bienen, nähern sich in einer Wolke. Wir flüchten ins Haus. Im letzten Jahr hatten uns Wespen heimgesucht; viele waren durch einen Spalt in einer Abdeckung bis ins Treppenhaus vorgedrungen. Es ging damals glimpflich aus, weil uns ein furchtloser Hiddenseer beisprang. Die meisten Wespen aber fielen ohne erklärbaren Grund tot zu Boden. Der diesjährige Insektenschwarm schien vorübergezogen zu sein. Abends zeige ich meinen “Horrorfilm” einer Biologin, mit der wir eine vogelkundliche Wanderung über die Insel machen. “Das sind Bienen”, bestätigt sie. Am nächsten Tag gelingt es uns, die ortsansässigen Imker ausfindig zu machen. Sie wohnen am Rande des Hexenberges und haben ihr “Volk” schon gesucht. Das Ehepaar kommt vorbei und kann uns beruhigen: die Königin hat sich mit ihren rund fünftausend Bienen unter dem Reetdach eingenistet. Sie gehören zur Rasse der Carnica und sind überhaupt nicht aggressiv. Welcome! 

Seit fünfzehn Jahren reisen wir schon nach Hiddensee und kommen jedes Jahr ein bisschen mehr an auf der Insel. Manchmal hilft dabei der Zufall. In der Eismanufaktur gibt es eine kleine Unstimmigkeit mit der jungen Frau hinter der Theke. Sie rennt wutentbrannt zu ihrer Chefin, die den Konflikt charmant und souverän klärt und uns zu einer WG-Party einlädt. Nicht nur in Europa wird am Wochenende gewählt, die Hiddenseer können auch über ihren Bürgermeister und die Gemeindevertretung entscheiden. Die Wahlgemeinschaft Hiddensee tritt für einen nachhaltigen Tourismus ein, der sich der kulturellen Tradition der Insel bewusst ist und eine behutsame Erneuerung des Hafens von Vitte anstrebt, in einem Wort: kulturelle Angebote im Geiste der Tradition statt bunter Kapitänsabende. Hier sind wir richtig, lernen viele gute Hiddenseer kennen, erfahren viel Neues über die Inselgesellschaft und stecken uns stolz den WG-Button an. Am Sonntagabend gehen wir wieder in die “Fischerklause” und morgens in den Gottesdienst. Es gibt noch viel zu erfahren.