Loose Ends

Ein neuer Zuckerwürfel in Wiesbaden: das Museum Reinhard Ernst (mre). © Rolf Hiller

Wir haben uns zuletzt vor dem Krieg getroffen, vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, oder sogar noch vor Corona. In Krisen wird die Erinnerung noch trügerischer. Es gibt unvergessliche Bilder und Erinnerungen, aber wer wüsste heute noch die einzelnen Phasen der Pandemie zu unterscheiden, wer kann heute noch die Maßnahmen zeitlich zuordnen, geschweige denn begreifen. Jetzt beherrschen der Ukraine-Krieg und seine politischen Folgen und das Wahlkampfthema Migration die Schlagzeilen. Die aktuellen Umfragen zur Landtagswahl in Thüringen am 1. September sind beängstigend: AfD 28%, CDU 23%, BSW 21 %, Linke 11% und SPD 7%. Was tun? Nach den bitteren Ergebnissen der Europawahl wäre eine schonungslose Analyse der Lage angezeigt, aber der Kanzler gibt sich unbeeindruckt und macht einfach so weiter. Das dürfte sich noch bitter rächen. 

Wir wollen in die legendäre Frankfurter Apfelweinkneipe “Zu den drei Steubern”, die wir in allerbester Erinnerung haben und die nach dem Tod von Adolf Wagner lange Zeit leer stand. Einst waren wir froh, uns irgendwo dazwischen quetschen zu können. Dann stand schon der Ebbelwoi auf dem Tisch, den der ruppig-herzliche Kellner ungefragt abstellte. Herrlich. Demnächst läuft die Schänke unter dem Label “Daheim bei den Drei Steubern”. Dann brechen in der Dreieichstraße andere Zeiten an, wie wir in einer anderen Daheim-Filiale im Ebbelwoi-Viertel erlebten. Das Lokal ist draußen mäßig belegt, wir setzen uns einfach an einen der freien Tische und bekommen vom Kellner eine dicke Zigarre. Man habe sich grundsätzlich anzumelden und werde dann platziert; das Lokal sei nämlich grundsätzlich ausgebucht. Zumindest an diesem Abend war das keineswegs der Fall, und der Herr der Tische ließ uns gnädig sitzen. Ebbler & Essen sind von guter Qualität. 

Unbedingt möchte ich mir am nächsten Tag noch “Max Pechstein. Die Sonne in Schwarzweiß” anschauen. Die klug kuratierte Ausstellung im Museum Wiesbaden kontrastiert die farbkräftigen Gemälde des bedeutenden, expressionistischen Malers mit seinen “handgemachten” Druckgrafiken, die in ihrer vermeintlichen Reduktion um so nachhaltiger wirken. Seine Arbeiten in Schwarzweiß bekommen in Zeiten des Klimawandels zudem eine apokalyptische Grundierung. Die Sonne verursacht schon jetzt in vielen Ländern fatale Dürren – die schwarze Sonne könnte man als Vorbotin des Todes sehen. Mit dieser Deutung gehe ich ein Haus weiter: zum Zuckerwürfel, wie die Wiesbadener:innen schon vor der Eröffnung am 23. Juni das “mre” nennen. Das Museum Reinhard Ernst, das seine spektakuläre Sammlung moderner Kunst zeigt, wurde vom kürzlich verstorbenen japanischen Architekten Fumihiko Maki gebaut und schmückt den Anfang der Wilhelmstraße. Sicherlich hätte ihm gefallen, was der grandiose Schauspieler Donald Sutherland († 20. Juni 2024) über den Tod sagte – “eine kleine, einsame Reise”.    

Sirenenalarm

Bis hierher und nicht weiter: Hinter dem Seil beginnt das Naturschutzgebiet. © Karl Grünkopf

Mitten in der Nacht schreckt mich der Heulton der Sirenen auf; flackerndes Blaulicht ist zu sehen. Auf dem Feldweg stehen zwei Feuerwehrautos und der Polizeiwagen der Insel. Der Einsatz scheint schon beendet zu sein. Was passiert ist, werden wir erst am nächsten Tag erfahren. Ein junger Mann aus dem Haus gegenüber feierte mit ein paar Freunden. Weit nach Mitternacht machten sie dann vor dem Haus ein Feuer, um alte Sachen abzufackeln. Eine Schnapsidee. Die Flammen schlugen hoch; ein Nachbar rief die Feuerwehr. Es ging glimpflich aus. In den letzten Tagen hatte es immer wieder geregnet, und der Wind kam von Westen. Wäre es trocken gewesen und der häufig drehende Wind wäre von der anderen Seite gekommen, hätte eine Katastrophe passieren können. Viele Häuser in der Nähe der Brandstelle haben ein Reetdach und hätten leicht Feuer fangen können. Seine Fahrlässigkeit kommt den Burschen teuer zu stehen: er muss den Einsatz der Feuerwehr bezahlen. 

Am nächsten Tag ist die Welt scheinbar wieder in Ordnung. Wir fahren mit dem Rad zur Nordspitze der Insel und machen vom Dornbusch einen langen Spaziergang am Strand entlang bis ans Ende der Welt. Hier beginnt das nur mit einem alten Seil abgetrennte Naturschutzgebiet des Neubessin. Bei den Sturmfluten im Herbst und Winter wird immer Sand von der Steilküste abgetragen und hier angespült. Man wähnt die Veränderungen mit bloßem Auge zu erkennen. Einst werden wohl Rügen und Hiddensee zusammenwachsen. Vor diesen gewaltigen Naturprozessen relativieren sich die politischen Verhältnisse. Bei der Wahl zur Gemeindevertretung spielen die traditionellen Parteien allesamt kaum eine Rolle; dieses Phänomen kann man inzwischen in vielen Gemeinden und kleinen Orten beobachten. Welche Interessen die Akteur:innen vertreten, ist von außen schwer zu beurteilen. Die Insel muss sich weiter entwickeln, ohne sich wie die Balearen und Kanaren dem Tourismus auf Gedeih und Verderb auszuliefern. 

Dagegen gibt es am Ausgang der Europawahl nichts zu deuteln. Gewonnen haben in Deutschland die Union und die Populisten, deren einfache Antworten auf komplizierte Fragen gerade in Ostdeutschland und bei jungen Wähler:innen verfangen. Der Jugendstudie 2024 nach blicken sie ”so pessimistisch wie nie” in die Zukunft. Ihre Erfahrungen in der Corona-Zeit, der Ukraine-Krieg, die immer konkreteren Folgen des Klimawandels, Angst vor Altersarmut und Wohnungsnot in den Großstädten – die Leichtigkeit der frühen Jahre ist dahin. Viele Menschen in Ostdeutschland sind hingegen fest von ihrer Opfererzählung überzeugt. Ficht das den Kanzler ohne Nerven gar nicht an? Heute, am 14. Juni, feiert der sogenannte Scholzomat seinen 66. Geburtstag und hört vielleicht sogar den bekannten Song von Udo Jürgens mit diesem Titel. Es steht nicht gut um die SPD und um das Land, dem er als Kanzler verpflichtet ist. Hört er nicht die Sirenen? 

Aufklärung

Szene aus dem „Horrorfilm“ über den Besuch der Bienen. © Karl Grünkopf

Der Mord in unserer gutbürgerlichen Straße in der letzten Woche hat viele aufgewühlt und ist inzwischen aufgeklärt. Zwei Leser dieses Blogs schickten mir unterschiedliche Quellen, die bestätigten, dass die Frau, die nur einige Häuser weiter wohnte, das Opfer einer Beziehungstat wurde. Ein früherer Geliebter stach sie am helllichten Tag nieder und flüchtete dann. Die Polizei hatte ihn bereits im Fokus, traf ihn aber in seiner Wohnung nicht mehr lebend an. Er hatte seine Mutter und sich selbst umgebracht. Der Fall ist geklärt. Wieder einmal wurde eine Frau Opfer einer Beziehungstat; das passiert aktuell in Deutschland durchschnittlich alle drei Tage. In unserer viel beschworenen Zivilisation gab es vor zwei Jahren 122 Femizide, quer durch alle sozialen Schichten. Nicht minder schockierend: insgeheim gibt es oft sogar noch Verständnis für die Männer.  

Das Unheimliche verliert seine Macht, wenn wir es begreifen. Wir sitzen beim Essen auf der Terrasse und hören ein Brummen, das immer stärker wird. Unzählige Insekten, vermutlich Bienen, nähern sich in einer Wolke. Wir flüchten ins Haus. Im letzten Jahr hatten uns Wespen heimgesucht; viele waren durch einen Spalt in einer Abdeckung bis ins Treppenhaus vorgedrungen. Es ging damals glimpflich aus, weil uns ein furchtloser Hiddenseer beisprang. Die meisten Wespen aber fielen ohne erklärbaren Grund tot zu Boden. Der diesjährige Insektenschwarm schien vorübergezogen zu sein. Abends zeige ich meinen “Horrorfilm” einer Biologin, mit der wir eine vogelkundliche Wanderung über die Insel machen. “Das sind Bienen”, bestätigt sie. Am nächsten Tag gelingt es uns, die ortsansässigen Imker ausfindig zu machen. Sie wohnen am Rande des Hexenberges und haben ihr “Volk” schon gesucht. Das Ehepaar kommt vorbei und kann uns beruhigen: die Königin hat sich mit ihren rund fünftausend Bienen unter dem Reetdach eingenistet. Sie gehören zur Rasse der Carnica und sind überhaupt nicht aggressiv. Welcome! 

Seit fünfzehn Jahren reisen wir schon nach Hiddensee und kommen jedes Jahr ein bisschen mehr an auf der Insel. Manchmal hilft dabei der Zufall. In der Eismanufaktur gibt es eine kleine Unstimmigkeit mit der jungen Frau hinter der Theke. Sie rennt wutentbrannt zu ihrer Chefin, die den Konflikt charmant und souverän klärt und uns zu einer WG-Party einlädt. Nicht nur in Europa wird am Wochenende gewählt, die Hiddenseer können auch über ihren Bürgermeister und die Gemeindevertretung entscheiden. Die Wahlgemeinschaft Hiddensee tritt für einen nachhaltigen Tourismus ein, der sich der kulturellen Tradition der Insel bewusst ist und eine behutsame Erneuerung des Hafens von Vitte anstrebt, in einem Wort: kulturelle Angebote im Geiste der Tradition statt bunter Kapitänsabende. Hier sind wir richtig, lernen viele gute Hiddenseer kennen, erfahren viel Neues über die Inselgesellschaft und stecken uns stolz den WG-Button an. Am Sonntagabend gehen wir wieder in die “Fischerklause” und morgens in den Gottesdienst. Es gibt noch viel zu erfahren.