Elend und Luxus

Warum in die Ferne schweifen: Pfauenauge in Mecklenburg-Vorpommern. © Karl Grünkopf

Deutschland erlebt in diesem Jahr einen durchwachsenen Sommer mit sehr viel Regen. Um so dankbarer waren wir für einen richtig schönen Tag in Ludorf an der Müritz, dem größten deutschen See in Mecklenburg-Vorpommern. Wir fahren mit dem Rad nach Röbel/Müritz, wo sich einst eine kleine jüdische Gemeinde in einer Synagoge traf. Vormittags kann man das liebevoll restaurierte Fachwerkhaus besuchen und deutsche Pogrom-Geschichte an dieser Dorfgemeinschaft, die keine war, nachvollziehen. Die meisten haben weggeschaut damals, manche sogar profitiert. Auf einer Gedenktafel steht unter den Namen der “Röbeler Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns” ein Satz von Kofi Annan, der von 1997 bis 2006 Generalsekretär der Vereinten Nationen war und 2001 den Friedensnobelpreis erhielt: “Alles, was das Böse benötigt, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit.” 

Nichts hat dieses Wort von seiner Wahrheit verloren, doch die klugen Appelle verhallen damals wie heute, auf vielen Gebieten. “Wir spielen mit unserem Planeten russisches Roulette”, sagte UN-Generalsekretär António Guterres am Mittwoch in einer großen Klima-Rede in New York. “Es gibt eine Ausfahrt vom Highway zur Klimahölle.” Das wissen inzwischen fast alle – und trotzdem verdrängen die meisten diese Tatsache und leben einfach so weiter. Guterres redet Klartext und bezeichnet diejenigen, die immer noch auf fossile Energiequellen setzen und von ihnen profitieren, “Paten des Klimachaos”. Damit wird er wieder so wenig Einsicht stiften wie die Proteste der sog. Klimakleber auf deutschen Flughäfen. Niemand möchte auf Lifestyle & Luxus verzichten, auf die Flüge rund um die Welt, das bequeme Auto vor der Tür und das leckere Fleisch auf dem Teller. 

Mag man die Letzte Generation als selbstgerechte Idealisten abtun, die Proteste der Opfer des Massentourismus lassen sich damit nicht wegwischen. In Palma de Mallorca gingen am letzten Wochenende 50.000 (Angabe der Veranstalter) auf die Straße, um auf ihre Lebensverhältnisse aufmerksam zu machen. Sie sehen sich zu Recht als Opfer des Tourismus; letztes Jahr verzeichnete die Insel über 18 Millionen Gäste. “Euer Luxus, unser Elend” oder “Killerflüge” stand auf den Transparenten. Viele Inselbewohner:innen sind zunehmend von den Folgen eines ausufernden Tourismus betroffen: hohe Preise, steigende Mieten, Umweltverschmutzung, Wassermangel und Lärm. Auf den Kanaren gab es auch schon Massenproteste gegen den Overtourism. “Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet“, diagnostizierte der Publizist Hans Magnus Enzensberger schon 1957. Seine hellsichtige Analyse ist mit den Jahren immer wahrer geworden. „Bleibe im Land und nähre dich redlich!“ ist ein Bibelwort, auf das man getrost vertrauen kann. 

Wilder Westen

Zum Abschluss gibt es bei den Karl-May-Festspielen am Wochenende immer ein Feuerwerk. © Karl Grünkopf

Von Husum nach Bad Segeberg sind es knapp 140 Kilometer. Mit der Bahn dauert die Reise fast drei Stunden; man muss zweimal umsteigen. Die Regionalzüge sind am Sonnabendvormittag sehr voll. Es gibt offensichtlich eine hohe Nachfrage nach diesem Angebot. Das mobile Leben in der Provinz ist deutlich beschwerlicher als in einer Großstadt, wenn man kein Auto besitzt. Wir leben in einem Staat, in dem die Verkehrspolitiker jahrzehntelang der individuellen Mobilität den Vorrang gegeben haben. Von der im Grundgesetz proklamierten Gleichheit der Lebensverhältnisse kann keine Rede sein – wer auf dem Land kein Auto besitzt, hat eben geloost. Wenn dann noch Krankenhäuser und Arztpraxen schließen (müssen), haben Populisten jedweder Couleur leichtes Spiel, im Osten wie im Westen. 

Ziemlich beste Freunde aus Berlin haben ein smartes Auto und holen uns an der Haltestelle mitten im Gewerbegebiet von Bad Segeberg ab. Wir wollen abends endlich einmal zu den Karl-May-Festspielen gehen, die sich seit ihrer Gründung im Jahr 1952 zu einem Publikumsmagneten entwickelt haben. Die braven Inszenierungen locken mit TV-Stars und sind massenwirksam angelegt. Taschenkontrollen gibt es nicht; man darf Getränke & Essen mitnehmen. Heuer steht Winnetou II auf dem Programm ohne Old Shatterhand, das Alter Ego von Karl May im Wilden Westen. Das hatte ich genauso vergessen wie die schöne Ribanna, die der edle Apachenhäuptling selbstlos seinem Rivalen Old Firehand überlässt. Am Ende seines Lebens bezeichnete Karl May seine Abenteuerromane als “Vorwerk” und hielt 1912 kurz vor seinem Tod in Wien die viel beachtete, pazifistische Rede “Empor ins Reich der Edelmenschen”. (Wikipedia) 

Am nächsten Tag geht ein ikonisches Bild um die Welt: unmittelbar nach dem beinahe tödlichen Anschlag steht Donald Trump auf, reckt die Faust nach oben und ruft: “Fight!” Der Bursche ist hart im Nehmen. Skandale, Prozesse und Verurteilungen scheinen an ihm abzuprallen. Geschickt gibt sich der Multimilliardär und Dealmaker (in eigener Sache) als Stimme der weißen amerikanischen Underdogs aus (“make America great again”). Wie ein 21Jähriger an ein Schnellfeuergewehr und Sprengstoff kommen konnte, steht wieder einmal nicht zur Diskussion. Nicht einmal Barack Obama hat sich mit der einflussreichen amerikanischen Waffenlobby angelegt und strengere Gesetze auf den Weg gebracht. Der harmlose Wilde Westen von Bad Segeberg ist in Amerika jeden Tag blutiger Ernst, nicht nur wenn ein Präsidentschaftskandidat im Fadenkreuz steht. Donald Trump dürfte wohl die nächste Wahl im November gewinnen. Dann wird es richtig ernst werden für die “weltbesten Trittbrettfahrer” (Wolfgang Ischinger) aus Deutschland. Und nicht nur für die! 

Kampf gegen die Zeit

Von Berliner Fernsehturm nach Madrid ist es 1.000 km weiter als nach Kiew. © Rolf Hiller

Nachrichten im Fernsehen sehe ich fast nie. Während der EURO 2024, die ich sehr sporadisch live verfolge, kam im ZDF heute journal ein Bericht, wie sich die Menschen in der Ukraine auf die permanente Kontingentierung des Stroms einstellen. Eine Mutter berichtet, dass sie ihr kleines Kind in den 22. Stock tragen müsse, und natürlich die Lebensmittel. Eine andere Frau steht nachts auf, kocht dann und macht ihren Job im Home Office. Sie klagen nicht an, sie geben nüchtern zu Protokoll und beeindrucken um so mehr. Wenn bei uns mal das Internet für ein paar Momente ausfällt, fangen schon alle an zu hyperventilieren. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dauert jetzt schon zweieinhalb Jahre und regt niemanden mehr auf, es sei denn Putins willige Armee bombardiert ein Kinderheim. 

Wie lange kann die Ukraine noch durchhalten, wo nehmen die Menschen dort ihre Kraft und ihre scheinbare Gelassenheit her? Die Zeit scheint gegen sie zu laufen. In Europa haben die Rechtspopulisten & Putin-Adepten immer mehr Zulauf, und in Amerika spielt die Zeit dem Kriegsverbrecher in die Hände. Die Chancen für Joe Biden, erneut gegen Donald Trump zu gewinnen, stehen schlecht; den Demokraten läuft die Zeit davon. Es dürfte ihnen kaum mehr gelingen, eine Kandidatin oder einen Kandidaten aufzubauen, der eine Chance gegen den Lügen-Rambo Trump hätte. Was das für die Ukraine, was das für die NATO und für uns Europäer bedeuten wird, kann man sich nicht schaurig genug ausmalen. Für die Grünen gibt es da nichts zu gewinnen; deshalb dürfte Annalena Baerbock der Verzicht auf die Kanzlerkandidatur für ihre Partei nicht schwergefallen sein. Dass die (noch) amtierende deutsche Außenministerin ihre Entscheidung in Amerika verkündete, macht sie auch nicht bedeutsamer. 

Derweil geht der deutsche Wechselsommer ohne Märchen weiter. Unser Team schlug sich weit besser als befürchtet und schied unglücklich gegen die großartigen Spanier aus. Die Verlängerung erlebten wir – offline versteht sich – im Zelt am Roten Rathaus. Dort spielte die Komische Oper Berlin vier Wochen lang vor ausverkauftem Haus die Operette “Messeschlager Gisela” von Gerd Natschinski. Während der in jeder Beziehung harmlosen Schmonzette aus der Modewelt wurde das begeisterte Publikum en passant über das Ergebnis des Spiels informiert. Draußen war die Stimmung nach der unglücklichen Niederlage überhaupt nicht aufgeheizt oder aggressiv. Man bewunderte den von einem Sponsor illuminierten Fernsehturm und ging an diesem frischen Abend seiner Wege. Von dort ist es nach Kiew deutlich kürzer als etwa nach Madrid. Daran kann man nicht immer denken. Wir sollten es aber nicht vergessen. 

Mythen

Das Autokino in Zempow war das einzige in DDR. Inzwischen wird es von einem Verein weiter betrieben. © Karl Grünkopf

Zu den deutschen Fußballmythen zählt die legendäre Wasserschlacht am 3. Juli 1974 im Frankfurter Waldstadion, die ich miterlebt habe. Der Bruder hatte ein Ticket gewonnen und es an mich abgetreten, weil er mit den Eltern nach Dänemark fuhr. Ich war dabei, doch die Erinnerungen sind verwaschen. Habe ich das einzige Tor des Matches von Gerd Müller wirklich im Stadion gesehen? Wo habe ich geparkt? Wie bin ich vollkommen durchnässt nach Hause gekommen? Die Begeisterung nach dem deutschen WM-Titel dann war unbeschreiblich. Daran fühlte ich mich erinnert bei dem Spiel Deutschland – Dänemark bei der EURO 2024 – lange nicht mehr so gebrüllt bei einem Match. Was Wunder, denn ich gucke schon lange nicht mehr das Millionenspiel Fußball. Derzeitiger Spitzenreiter im Big Business ist der Portugiese Cristiano Ronaldo, der in der Hofnarrenliga der Saudis kickt und alles in allem 247 Millionen Euro (Forbes) pro Jahr kassiert, also schlappe 676.712,33 Euro pro Tag!!! 

Mit einem Wochensalär könnte der Kicker wahrscheinlich locker den gesamten Kulturetat der Stadt Wittstock Dosse tragen. Zu dieser Kleinstadt im Nordwesten von Brandenburg zählt der Ortsteil Zempow mit 116 Einwohnern (31.12.2023). Dort gab es das einzige Autokino der DDR, das immer noch existiert und inzwischen von einem Verein getragen wird. Das Kino liegt am Ende der Welt und beeindruckt mit einem spannenden, ungewöhnlichen Programm mit interessanten Filmgesprächen. Ein Besuch dieser Legende steht schon lange auf meiner Bucket-List, aber heuer wollte es sich wieder nicht fügen. Es ist in Zeiten wie diesen wichtig, dass eine Institution wie das Autokino Zempow weiter bestehen kann, nicht aus Sentimentalität, sondern um ein Stück authentischer DDR-Kultur in dieser dünn besiedelten, entlegenen Gegend zu erhalten. 

Wie wichtig es ist, eine eigene Identität zu behaupten, kann man in dem aufschlussreichen Band “Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt” (edition suhrkamp) des Soziologen Steffen Mau erfahren. Dass sich eine Wiedervereinigung nicht planen oder steuern lässt, steht außer Frage. Nach über dreißig Jahren muss die ”Eule der Minerva” ihren Flug beginnen. Und keiner bringt das besser auf den Begriff als Mau, der übrigens in Rostock geboren wurde. Er analysiert messerscharf den von der Bundesrepublik dominierten Prozess der deutschen Einheit – die Folgen dieser ”Kolonialisierung”, wie es manche nennen, sind bis heute spürbar und werden von rechten und linken Populisten raffiniert instrumentalisiert. “Obwohl es den meisten Ostdeutschen heute deutlich besser geht als vor der Einheit (…), gibt es doch in nennenswerten Bevölkerungsgruppen eine unterschwellige Verletzung, einen Eindruck des Zu-kurz-Kommens, der nicht selten in Ressentiment und eine skeptische Haltung gegenüber staatlichen Institutionen, Politik und Medien umschlägt.“ Mau entlarvt die deutsche Einheitserfolgsgeschichte als gefährliche Illusion. Mythen können sehr lange Beine haben.