Klein und groß

Der Rahmenbau, das Wahrzeichen der documenta 6, in Kassel. © Rolf Hiller

Kurz nach 16 Uhr verlassen wir das Wahllokal am letzten Sonntag; es ist kaum etwas los. Zu diesem Zeitpunkt, erzählt ein Wahlhelfer freudig, hätten schon 90% der Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben. Der Trend bestätigt sich: die Wahlbeteiligung von 82,5% war die höchste seit der Wiedervereinigung. Gewinner sind die CDU und die AfD, die Parteien der sog. Fortschrittskoalition wurden abgestraft. Obwohl die Grünen vergleichsweise glimpflich davonkamen, hat ihr Spitzenkandidat, der selbsterklärte Bündniskanzler Robert Habeck, die Verantwortung für diese Niederlage übernommen und will kein Amt in der Partei übernehmen. Der Daueroppositionelle in der abgewählten Koalition, Christian Lindner (FDP), wird sich sogar ganz aus der Politik zurückziehen. Das ficht Lars Klingbeil und Saskia Esken nicht an. Statt die Verantwortung für das schlechteste Ergebnis der SPD bei einer Bundestagswahl zu übernehmen, kleben die beiden Parteivorsitzenden an ihren Posten. Klingbeil wird sogar zusätzlich noch den Fraktionsvorsitz übernehmen. 

Das verheißt nichts Gutes für die Koalitionsverhandlungen, die der künftige Bundeskanzler Friedrich Merz bis Ostern abschließen möchte. Während Deutschland in Europa wieder eine Führungsrolle übernehmen soll, verlangt der Söder Markus eine erneute Wahlrechtsreform, Klingbeil Entlastungen für die “arbeitende Mitte” und eine Stabilisierung der Renten; zudem wird die SPD zur möglichen Koalition mit CDU/CSU noch eine Mitgliederbefragung durchführen. Das dürfte kaum zu schaffen sein bis Ostern. In einer solchen Lage braucht es politische Erfahrung und diplomatisches Verhandlungsgeschick. Darüber verfügt Merz nicht; er war noch nie in Regierungsverantwortung und schafft sich jetzt noch selbst Probleme. Seine Einladung an den israelischen Premier Benjamin Netanjahu etwa, der mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, müsste dessen umgehende Verhaftung in Deutschland zur Folge haben. 

Genauso unbedacht war seine Äußerung, in Kassel habe es 2019 keine Solidaritätsbekundungen nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) gegeben. Im Spiegel (27.02.25) äußerte sich seine Witwe empört: “’Nach der Ermordung meines Mannes gab es ein starkes gesellschaftlich breites Bekenntnis zu unserer Demokratie und ihren Werten.’ Tausende Menschen seien auf die Straße gegangen, um sich ‘klar gegen Gewalt, Hass und Hetze sowie eindeutig für Demokratie, Freiheit und Menschlichkeit’ zu positionieren.’” Mit dabei waren auch zwei Mitarbeiter:innen von FRIZZ Das Magazin für Kassel, die ich abends treffe. Vorher schaue ich mir wieder einmal den Rahmenbau an, das Wahrzeichen der documenta 6. Später sitze ich im Café Nenninger am Friedrichsplatz und lese ein Interview mit Daniel Cohn-Bendit in der Frankfurter Rundschau. Er hat sofort erkannt, welcher Verlust den Grünen droht: “Genau dieses Weiterdenken von Robert Habeck brauchen die Grünen (…) als aktiver Impulsgeber – sowohl in der Partei als auch in der Gesellschaft.” (26.02.25) Fast eine halbe Million Menschen haben schon einen Offenen Brief an Robert Habeck unterzeichnet – “Du bist für viele ein Hoffnungsträger. Und Hoffnungsträger dürfen nicht gehen, wenn sie am meisten gebraucht werden, sondern müssen Führung und Verantwortung übernehmen.” Wie wahr! 

Vergesst den Wettbewerb!

Ohne sie hätte es „The Köln Concept“ nie gegeben: Mala Emde als Vera Brandes. © Wolfgang Ennebach / AlamodeFilm

Same procedure as every year. Die Berlinale ist klasse, der Wettbewerb schwach. Die neue Festivalchefin Tricia Tuttle konnte bei der 75. Ausgabe des Festivals da (noch) keine neuen Impulse setzen. Warum Filme im Wettbewerb laufen, lässt sich oft nicht nachvollziehen. Das mag strategische Gründe der Verleiher haben, zeigt aber wieder einmal, dass die Berlinale zwar das größte Publikumsfestival der Welt ist, Cannes und Venedig aber ein größeres Renommée besitzen. Die stärksten Filme, die wir in diesem Jahr gesehen haben, liefen nicht im Wettbewerb sondern in anderen Sektionen. “Köln 75” etwa erzählt spannend von der ersten bis zur letzten Minute die Geschichte des legendären Köln Concert von Keith Jarrett, das die erst 18-jährige Vera Brandes allen Widrigkeiten zum Trotz durchführte. Längst hat dieses Ereignis einen eigenen Eintrag bei Wikipedia: “The Köln Concert ist die Albumaufnahme des Improvisations-Solokonzertes des Pianisten Keith Jarrett, das in der Kölner Oper am 24. Januar 1975 stattfand. Es ist die meistverkaufte und bekannteste Veröffentlichung von Jarrett, außerdem die meistverkaufte Jazz-Soloplatte und meistverkaufte Klavier-Soloplatte.” 

Im Berlinale Special liefen auch “Das Licht” von Tom Tykwer, das Biopic “A Complete Unknown” über den jungen Bob Dylan (Timothée Chalamet ist für den Oscar nominiert) und “Mickey 17”, der großartige neue Film des koreanischen Regisseurs Bong Joon-ho (“Parasite”). Dieser Mickey ist das 17. Reprint des Helden, dessen Mission es ist, immer wieder zu sterben. Aber in “Niflheim” ist das kein Problem: der 3D-Drucker spuckt problemlos den nächsten Mickey aus. Mit dieser Technologie kann man Menschen beliebig oft reproduzieren. Das wird hoffentlich nie gelingen. 137 Minuten fesselt diese Utopie wahrer Menschlichkeit, die mit einer zutiefst weisen Entscheidung endet. In dieser Sektion lief gleichfalls “Heldin” mit Leonie Benesch in der Hauptrolle. Quasi dokumentarisch schildert Petra Volpe den ganz normalen Wahnsinn einer Schicht auf einer onkologischen Station, die von nur zwei Schwestern eigentlich nicht zu schaffen ist. Erstaunlicherweise lässt sich ein überwiegend junges Publikum genauso auf die 245-minütige Doku “Palliativstation” ein; das Delphi ist nachmittags voll besetzt. 

Man darf gespannt sein, wie die aktuellen Disruptionen in der Welt auf der nächsten Berlinale reflektiert werden. Oder ist das gar nicht mehr möglich, diese Dynamik der Veränderungen in Filmen einzufangen. Trump und seine Tech-Oligarchen verschieben die Machtverhältnisse in Amerika dramatisch zu ihren Gunsten und kündigen die bisherige Weltordnung auf, in deren Windschatten sich Deutschland bestens eingerichtet hatte. Womöglich raufen sich die Europäer nun endlich zusammen, statt sich von den USA und Russland spalten zu lassen. Danach sieht es derzeit aber nicht aus. Der französische Präsident Emmanuel Macron und der britische Premierminister Keir Starmer reisen nächste Woche nach Washington. Von der EU-Spitze ist niemand dabei, ebenso wenig der noch amtierende Kanzler Olaf Scholz. Nach der Bundestagswahl am Sonntag geht die Ära Merkel endgültig zu Ende. 

Leben ohne Halt

Der Gamer, gespielt von Julius Gause, in Tom Tykwers Film „Das Licht“, mit der die 75. Berlinale eröffnet wurde. © Frederic+Batier_X_Verleih_AG

Wieder ein Anschlag in Deutschland. Ein 24-jähriger Asylant mit Aufenthaltsrecht ist in München in eine Demonstration der Gewerkschaft ver:di gerast und 37 Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt; eine Mutter und ihre zweijährige Tochter starben zwei Tage danach. Fassungslosigkeit, Entsetzen, Trauer und dann die gewohnten Reaktionen der politischen Parteien. Nach diesem Anschlag verfestigt sich weiter ein Gefühl der Unsicherheit – es kann jeden und jede treffen, eine absolute Sicherheit ist nicht möglich. Daneben belasten die Rezession, die diversen Strukturkrisen in Deutschland und eine disruptive amerikanische Politik, die auf ein Europa der Uneinigkeit keine Rücksicht mehr nimmt, die Deutschen. Zur gedämpften Stimmung trägt nicht minder bei, dass dem amtierenden Kanzler und seinem Herausforderer zündende Ideen fehlen – das Aussetzen der Schuldenbremse fordert der eine, mehr Wachstum der andere. Nicht bloß das Handelsblatt ist nach dem ersten TV-Duell ernüchtert. „Was fehlt, ist der Blick nach vorn. Warum Merz und Scholz nicht von sich aus über Bildung, Innovation, Künstliche Intelligenz und Forschung sprachen, bleibt ein Rätsel. Ein Kanzler sollte eine Vision für das Land entwickeln und die geopolitischen Entwicklungen in den Blick nehmen. Unsere Autoindustrie sucht Wege aus der Krise, und andere verdienen bald viel Geld mit Biotechnologie, Robotik oder Quantencomputern. So kann es nicht weitergehen. Doch während US-Präsident Trump voll auf KI setzt, ist sie Merz und Scholz in einer so wichtigen Debatte kein Wort wert.“ (11.02.25) 

Der Eröffnungsfilm der 75. Berlinale schildert die Situation einer etablierten, linksalternativen Berliner Familie, deren Situation zusehends außer Kontrolle gerät. Tom Tykwer will viel, allzu viel erzählen in “Das Licht”, seinem ersten Kinofilm nach neun Jahren. Die Ehe der Eltern (sie Leiterin von Entwicklungshilfeprojekten in Afrika, er Kommunikationsberater bei einem Thinktank), gespielt von Nicolette Krebitz und Lars Eidinger, ist seit der traumatischen Geburt der Zwillinge in einer Dauerkrise – man lebt nebeneinander her. Die Tochter ist Aktivistin, meist auf Droge, erlebt eine Abtreibung und findet dann eine lesbische Freundin, ihr Bruder, ein Gamer, lebt in seinen Spielwelten. Es regnet die ganz Zeit. Gegen Ende verlieren beide Eltern ihren Job und stehen vor dem Nichts. Zum Glück hat bei ihnen eine syrische Haushaltshilfe angeheuert. Die studierte Psychologin arbeitet mit einer Lampe, die neuronale Zonen im Rückenmark aktiviert, wie bei der Geburt und beim Tod. Die Therapie scheint zu gelingen; und gleichzeitig werden noch traumatische Fluchterlebnisse auf einem Schiff im Mittelmeer bewältigt. 

Ins Konzept der Amerikanerin Tricia Tuttle, der neuen Chefin der Berlinale, passt “Das Licht” perfekt. “In diesem Jahr ist auffällig”, konstatiert sie im Interview mit dem Tagesspiegel, “dass viele Filme von Menschen handeln, die mit der Komplexität der Gegenwart hadern und vor der Herausforderung stehen, durch das Leben zu navigieren und dabei ihre seelische Gesundheit zu bewahren.” (04.02.25) Mit einem Berlin-Film zur Eröffnung geht sie jedenfalls kein Risiko ein. Der Verzicht auf die parallel zum Wettbewerb laufende Reihe “Encounters” ist ebenso sinnvoll wie eine neue Spielstätte am Potsdamer Platz im Theater der Blue Man Group, das übrigens Ende August geschlossen wird.. Horst E. Wegener befindet: “Kein leichter Start für Tricia Tuttle: Nicht nur, dass gleich ihre erste Ausgabe als neue Berlinale-Chefin ein Jubiläums-Jahrgang sein wird, der zudem ausgerechnet in der heißen Phase des bundesdeutschen Polit-Wahlkampfs stattfindet, auch gilt es nach einer die Abschlussgala der Vorjahres-Berlinale überschattenden Israelhass-Debatte, umsichtig und rhetorisch gewappneter denn je zu sein.” (FRIZZ Das Magazin für Frankfurt & Vordertaunus 02/25). Bleibt zu wünschen, dass Tricia Tuttle ihre erste Berlinale ohne Stroboskoplicht übersteht. 

Das Geschenk

“Aufstand der Anständigen – Demo für die Brandmauer” vor der CDU-Parteizentrale in Berlin. © Rolf Hiller

Zum Ritual nach Demonstrationen gehört, dass die Veranstalter immer mehr Teilnehmer:innen zählen als die Polizei. Zwischen 250.000 und 160.000 waren am Sonntag beim “Aufstand der Anständigen – Demo für die Brandmauer” in Berlin auf der Straße. Die Abschluss-Kundgebung fand vor der CDU-Parteizentrale statt. Immer wieder skandierte die Menge “Shame on you CDU” als Reaktion auf Friedrich Merz’ Entscheidung, das Zustrombegrenzungsgesetz bei der Abstimmung im Bundestag auch mit Unterstützung der AfD durchbringen zu wollen. Diese All-in-Strategie ging bekanntlich nicht auf und wird von der Altkanzlerin Angela Merkel scharf kritisiert; auch einige CDU-Ministerpräsidenten gingen auf Distanz zu Merz, etwa Hendrik Wüst aus Nordrhein-Westfalen. Erstaunlicherweise kommen wir gut durch bis zum Lautsprecherwagen und hören die eindringlichen und nachdenklichen Worte der Publizistin Carolin Emcke. Sie erinnert daran, dass Deutschland die Demokratie geschenkt bekommen habe und es nun gelte, dieses Geschenk in Ehren zu halten – und zu verteidigen. 

Es geht ums Ganze, die Verteidigung der Demokratie, die sich die Bürgerrechtler der DDR 1989 erkämpften. Nach der umjubelten Wiedervereinigung, die ein Beitritt der DDR zur BRD gewesen ist, begannen für viele Menschen in Ostdeutschland bittere Jahre. Viele verloren ihre Jobs, die meisten Unternehmen wurden von der Treuhand abgewickelt, die Spitzenpositionen wurden und werden von Westdeutschen besetzt. Die Wiedervereinigung war eine freundliche Übernahme der DDR durch den Kapitalismus. Goldgräberstimmung herrschte, Ostdeutschland eine leichte Beute, an der sich viele eine goldene Nase verdienten. Um so wichtiger wäre es gewesen, einen symbolträchtigen Ort wie den Palast der Republik zu erhalten, der weit mehr war als der Sitz der Volkskammer. Bekanntlich wurde das asbestverseuchte Gebäude mitten in Berlin bis 2008 abgerissen. Dort steht nun das Humboldt Forum, ein steriler Nachbau des Berliner Schlosses – clean mit der Atmosphäre eines Kaufhauses. 

Statt die Bedeutung des hochmodernen, sehr funktionalen und von weiten Teilen der Bevölkerung geliebten Palastes der Republik anzuerkennen, stimmte der Bundestag für den Abriss auch der Grundmauern, die nach der Asbestsanierung noch standen. In einer lieblosen Ausstellung im Humboldt Forum (bis zum 16. Februar) kann man sich noch einmal einen Eindruck verschaffen. Aufschlussreich sind die Kommentare, die die Besucher:innen an verschiedenen Stationen abgeben können. “Vor dem Abriss: Kulturpalast höchster Qualität – Nach dem Beitritt: Siegermentalität + Demütigung”. “HUMBOLDT-FORUM ABREISSEN” ist gleich am Eingang zu lesen. Der AfD ist es in Ostdeutschland gelungen, dieses Gefühl der Demütigung zu instrumentalisieren und sich zum Fürsprecher von Bürger:innen zu machen, deren Leben ungeachtet einer materiellen Absicherung von Verlusten geprägt ist. Ihnen verleiht die AfD vermeintlich eine Stimme und bedroht das Geschenk der Demokratie, das die Bürgerrechtler einst für sie erkämpften. Ihre Parole war damals “Wir sind das Volk”. Geschichtsvergessenheit kann sich bitter rächen.