
An Illusionen herrscht in der Hauptstadt kein Mangel, nicht nur im Regierungsviertel. Etwa dass die Neugestaltung des Potsdamer Platzes nach der Wende ein Beispiel gelungener urbaner Architektur ist. Nach 1989 bestand die Chance, diese Brache mitten in der Stadt neu zu entwickeln. Statt sich Zeit zu lassen und hier visionärer Architektur Raum zu geben, hat man das Gelände Immobilienspekulanten und Konzernen überlassen. Entstanden ist ein öder, funktionaler, menschenfeindlicher Ort, an den sich nur Touris verirren, außer es ist Berlinale. Hat dieses städtebauliche Totalversagen womöglich das Volksbegehren gegen jegliche Bebauung des Tempelhofer Feldes beeinflusst? Die Bürgerinitiative 100% Tempelhofer Feld startete 2014 einen Volksentscheid, der bekanntlich mit deutlicher Mehrheit angenommen wurde. Seitdem ist nichts mehr passiert, nicht einmal ein paar schattenspendende Bäume wurden gepflanzt. Alle Versuche, zumindest eine Blockrandbebauung zu ermöglichen, hatten keinen Erfolg. In Berlin fehlen derzeit mehr als 50.000 bezahlbare Wohnungen!
Auf dem öden Tempelhofer Feld hat das Atze Musiktheater ein kleines Luftschloss errichtet. “Open Air für Berlin!” wird hier von Mai bis September ein vielseitiges Programm geboten. Wir erleben für einen sehr fairen Preis gleich zwei Bands im kleinen Amphitheater aus Holz: Pop-Groove von Krypto Kosmetik und Jazz-Groove des Trios ELEVEN onzelf. In beiden Bands ist Nora Jim am Synthesizer zu erleben. Vielschichtiger sind ihre Kompositionen in ihrem eigenen Trio, in dem sie sich als Musikerin & Sängerin ganz anders profilieren kann; “Salat Alles” heißt ihre letzte Veröffentlichung. Wir verlassen das Luftschloss und fahren mit unseren Rädern über das unwirtliche Gelände. Im Dunkel sehen wir das riesige, halbrunde Gebäude des Flughafens; die Unterhaltskosten werden auf rund 100.000 € täglich geschätzt. Viel, allzu viel Geld für 386 Hektar leere Fläche mitten in der Stadt – darauf hätten über 500 Fußballfelder Platz! Demnächst eröffnet die Komische Oper in einem der Hangars mit “Jesus Christ Superstar” ihre neue Spielzeit. Sicherlich spektakulär, sicherlich teuer.
Wir haben es ja noch, obwohl das BIP im zweiten Quartal 0,3% gegenüber dem ersten gesunken ist. Die Hoffnungen der Bundesregierung auf ein Anspringen der Konjunktur in diesem Jahr könnten sich als Chimäre erweisen; der von Finanzminister Lars Klingbeil für 2027 erwartete Fehlbetrag im Haushalt liegt bei über 30 Milliarden Euro. Durch Trumps erratische Strafzoll-Politik ist für die deutsche Wirtschaft derzeit in den USA nicht viel zu holen, aber vielleicht gewinnt ein deutscher Film im nächsten Jahr den Auslands-Oscar in Hollywood. Pünktlich zum Filmstart am 28. August wurde “In die Sonne schauen” der Regisseurin Mascha Schilinski als deutscher Beitrag für diesen Wettbewerb nominiert. Bereits In Cannes wurde die völlig unbekannte Regisseurin für ihren ästhetisch anspruchsvollen Generationenfilm mit dem Preis der Jury ausgezeichnet, der von „100 Jahren Leben auf einem Bauernhof in der Altmark“ erzählt. Mascha Schilinski (41) hat die Schule abgebrochen, lange in einer Casting-Agentur gejobbt, war jahrelang auf Reisen und hat sogar einmal als Feuerschluckerin in einem Zirkus gearbeitet. Beste Voraussetzungen für gutes Kino.
