Unversöhnlich

Salome von Richard Strauss an der Komischen Oper Berlin. © Jan Windszus

Womöglich ist das die Operninszenierung des Jahres: “Salome” von Richard Strauss an der Komischen Oper Berlin. Der Regisseur Evgeny Titov – 1980 in Kasachstan (Sowjetunion) geboren – interessiert sich nicht für eine Femme fatale, seine Salome ist besessen von absoluter Macht, Untergangs- und Zerstörungslust. Sie fordert von ihrem Stiefvater Herodes den Kopf des gefangenen Jochanaan, weil der sich nicht von ihr verführen lässt. Salome (grandios Nicole Chevalier) trägt die gesamte Aufführung einen weißen Kokon über dem Kopf, wie man ihn von Bienenzüchtern kennt, und wird zur Allegorie blindwütiger Macht. Letztlich nimmt sie sogar den eigenen Untergang in Kauf, um ihren Willen zu bekommen. Der Gedanke an Hitler und Putin liegt nahe, wird aber in der Inszenierung nicht einmal angedeutet. Eine schlüssige Interpretation des Einakters von Richard Strauss, der bei der Premiere am 6. Dezember 1905 einen Skandal auslöste. Langanhaltender, begeisterter Applaus im vollbesetzten Schillertheater und (fast) einhellige Zustimmung bei der Kritik.  

Deprimierend und wenig ermutigend endete die COP 30 in der brasilianischen Stadt Belém. Als eine Stimme von vielen sei hier die Ulmer Südwest Presse genannt: „Konfrontation, Blockade, Egoismus: Der Ausgang der Konferenz ist ein deprimierender Tiefschlag im Kampf gegen die Erhitzung der Erde. Ging vom Pariser Abkommen vor zehn Jahren das Signal aus, die Weltgemeinschaft halte zusammen, um die Krise gemeinsam zu bekämpfen, ist die Botschaft 2025 das Gegenteil: Ein Plan für die Abkehr von Öl, Kohle und Gas ist in weiter Ferne, jeder ist sich selbst der Nächste, das 1,5-Grad-Ziel unerreichbar.” (24.11.2025) Noch drastischere Worte fand der Vertreter Panamas Juan Carlos Monterrey Gómez und sprach von einer Clowns-Show. „Failing to name the causes of the climate crisis is not compromise. It is denial. Leaving fossil fuels out of the COP30 deal risks turning the talks into a clown show.“ Bundeskanzler Friedrich Merz, einer aus der Generation Glück, wird sich bei der EU dafür einsetzen, das Verbrenner-Aus über das Jahr 2035 zu verschieben. 

Das wird diese deutsche Schlüsselindustrie nicht retten, denn längst liegen in China, dem größten Automobilmarkt der Welt, die New Energy Vehicles bei den Verkäufen vorne. Die Aktien des einstigen Börsenlieblings Porsche haben in den letzten zwölf Monaten über 25 Prozent an Wert verloren. Krisen also, wohin man schaut. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang der Abbau der deutschen Bürokratie gefordert. Der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks Jörg Dittrich berichtete in einem Interview mit dem Tagesspiegel von erstaunlichen Auswüchsen. Es gebe hierzulande 502 Sozialleistungen und nicht mehr nachvollziehbare Verordnungen. “Ein Beispiel sind Verpackungen: Für das Recycling eines Einwegbechers beim Kaffee to go ist der Lieferant zuständig, für den Deckel der Bäcker. Und für die Verpackungstüte muss der Bäcker genau nachweisen, wie viel Gewicht sie enthält, denn erst alles über 500 Gramm gilt nicht mehr als To-go-Tüte.” (24.11.25) Darf’s noch ein bisschen mehr Wahnsinn sein? 

Stimmungen

Allein auf dem Friedhof: Vater und Sohn im Film “Meinen Hass bekommt ihr nicht”. © Komplizenfilm

Glück gehabt. Wir wollen die Dokumentation „Blaues Land – Wie die AfD den Osten verändert“, eine rbb-Produktion von Olaf Sundermeyer, in der ARD-Mediathek sehen, doch aus unerfindlichen Gründen ist das an diesem Abend nicht möglich. Drei Tage später kann man die sehenswerte Reportage ohne Probleme aufrufen. Die AfD ist in Brandenburg sehr erfolgreich und könnte 2029 die Landtagswahl gewinnen. Die Partei gibt sich volkstümlich und volksnah bei ihren Auftritten (Bier und Bratwurst gratis) und verfolgt mit allen Mitteln ihre Ziele: gegen Migranten, gegen Minderheiten, gegen den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, gegen die EU, gegen den Euro, gegen die NATO.Dabei instrumentalisiert die AfD die Institutionen genauso wie Social Media für ihre Zwecke. Mit Unterstützung dieser Partei kam Marek Wöller-Beetz von der CDU ins Amt des Bürgermeisters von Prenzlau. In der Doku meinte er freimütig: “Die Brandmauer ist für mich ein Fremdwort.” Nicht wenige seiner Parteifreunde dürften insgeheim seiner Meinung sein. 

Im November 2015 saßen wir gemütlich in Husum beisammen, als uns die ersten Nachrichten vom Terroranschlag in Paris erreichten. Das ist jetzt genau 10 Jahre her. Zu diesem Anlass ist noch bis zum 10. Dezember ebenfalls in der ARD-Mediathek die herausragende Verfilmung des Buches “Meinen Hass bekommt ihr nicht“ von Antoine Leiris aus dem Jahr 2022 zu sehen. Der Autor hat bei dem brutalen Angriff auf das Bataclan seine Frau verloren und muss versuchen, sein Leben als Witwer mit seinem 17 Monate alten Sohn wieder in den Griff zu bekommen, ohne zu verzweifeln, zu verbittern und zu hassen. Das hat Leiris in einem bewegenden Facebook-Post veröffentlicht, der eine große Resonanz hatte und als Basis seines Buches dient. Kongenial hat der Regisseur Kilian Riedhof (“Gladbeck”), der auch am Drehbuch mitgearbeitet hat, diese bewegende Geschichte eines Verlustes verfilmt. Den Vater verkörpert Pierre Deladonchamps, den Sohn Zoé Iorio. Ich nutze bewusst dieses Wort, denn man hat den Eindruck, eine beklemmende Reportage zu erleben. Trotz der Leere und Verzweiflung gelingt es den beiden, ein neues Leben zu finden. Auf dem Friedhof am Grab der Mutter trampelt der Kleine in eine Pfütze und quietscht vor Vergnügen. 

Biographisch hätte der Kanzler Friedrich Merz, der kürzlich seinen 70. Geburtstag beging, mit uns Abitur in Mainz machen können. Dann hätte der Westfale einen Rat unseres Biologielehrers mit auf den Weg bekommen: Erst nachdenken, dann noch einmal nachdenken und dann den Mund halten. Merz hat weder ein Sensorium für die Stimmung in seiner Partei noch für die Wirkung seiner Worte. „Ich habe einige Journalisten, die mit mir in Brasilien waren, letzte Woche gefragt: Wer von euch würde denn gerne hierbleiben? Da hat keiner die Hand gehoben.“ Zu Recht waren die brasilianischen Gastgeber der UN-Klimakonferenz COP30 in Belém empört über die wieder einmal unbedachten Worte des deutschen Bundeskanzlers. Im Rheinhessisch-Mainzer Schimpf-Lexikon wird das schöne Wort “Debb” so erklärt: “Jemand, der etwas falsch gemacht hat.” Ein Kanzler sollte indes nicht zu oft den Debben geben. 

Unterbrechung

Antje Pode mit verblüfft mit einer Jonglage von Taschen und Koffern. © Rolf Hiller

Bis kurz vor der Veranstaltung reden wir über den Klimawandel und die Generationengerechtigkeit. Dann ist Schluss, und wir wechseln von der “Wunderbar” ins Neue Theater Höchst, wo im Herbst immer Varieté auf dem Programm steht, teilweise mit 2 Shows am Tag. Die Auslastung liegt dieses Mal bei 93%. Es gibt also noch viele andere, die für ein paar Stunden die Welt draußen lassen wollen; nicht mehr an die multiplen Krisen dieser Welt denken, nicht mehr ständig neue Nachrichten bekommen. Wieder führt die schwäbische Komikerin Rosemie durchs Programm, ein herrlich selbst ironisches Urvieh auf der Bühne mit vielen Talenten. Immer wieder gelingt es den Programmmachern Paulsen & Consorten, Künstler:innen zu finden, die Fans des Varieté noch nicht gesehen haben. Antje Pode verblüfft mit ihrer Jonglage von Taschen und Koffern, Anna Abrams am Vertikalseil und David Buletts Tellerbalance kann man immer wieder sehen. 

In bester Stimmung verlassen wir das Neue Theater und nehmen die Leichtigkeit mit in den nächsten Tag. Da geht es weiter um den Klimawandel, seine Leugner und Ignoranten, um die Weltklimakonferenz im brasilianischen Belem, wo 50.000 Teilnehmer:innen versuchen, die Weltgemeinschaft auf eine gemeinsame Linie zu bringen, um die Erderwärmung zu begrenzen. Das Ziel, deutlich unter 2°C zu bleiben, ist nicht mehr zu schaffen. Worst-Case-Berechnungen gehen von einem Temperaturanstieg bis 2050 von 2,4–2,6 °C über vorindustriellem Niveau aus, bis 2100: sogar von 4,4°C! Zynisch könnte man sagen, dass die 30 COPs (Conference of the Parties) dem Klima mehr geschadet als genutzt haben. Bei der COP 28 waren 86.000 Teilnehmende vor Ort! Ungeachtet der schönen Reden ist die Dekarbonisierung in der Bundesrepublik Deutschland derzeit nicht mehr angesagt – es geht um den Wirtschaftsstandort, um billige, fossile Energie, die man brauche, um wettbewerbsfähig zu bleiben, um endlich wieder Wachstum zu schaffen.  

Nun wird Deutschland die Welt nicht retten. Im Ranking der Top 10 Länder nach CO₂-Emissionen 2025 liegen wir mit 1.49% am globalen CO₂-Ausstoß auf Platz 9. Ganz vorne natürlich China, gefolgt von den USA und Indien. “Eine Beschränkung der Geschwindigkeit auf 130 km/h spart nach Berechnungen des Bundesumweltamtes jährlich 600 Millionen Liter Kraftstoff ein”, notierte ich am 15.07.2022 an dieser Stelle. Damit würde Deutschland zu allen anderen Staaten aufschließen, denn überall sonst auf der Welt gilt eine generelles Tempolimit auf Autobahnen. Die jetzige Bundesregierung hat dieses Thema nicht auf dem Schirm. Stattdessen wird die Pendlerpauschale erhöht, das Dienstwagenprivileg nicht angetastet und das Verbrenner-Aus hinausgeschoben. Die Vergangenheit hat aber keine Zukunft. “Freie Fahrt für freie Bürger!” hieß eine Kampagne des ADAC in den 1970er Jahren. Laut ARD-DeutschlandTrend waren 2024 64 % der Befragten für ein Tempolimit von 130 km/h, 33 % dagegen, der Rest unentschieden. In der Berliner Blase scheint das noch immer nicht angekommen zu sein. Nicht nur das grenzt an Realitätsverweigerung! 

Die Welt in Flammen

Die Kunst des Duos bei der Verleihung des Albert-Mangelsdorff-Preis 2025: die Preisträgerin Lauren Newton mit der Bassistin Joëlle Léandre. © Rolf Hiller

Das Motto der 62. Ausgabe des JazzFest Berlin war trefflich gewählt: “Where Will You Run When the World’s on Fire?” Diese Frage hat der Gitarrist Marc Ribot auf seinem letzten Album aufgeworfen, aber der griesgrämige Singer-Songwriter fand bei der Deutschlandpremiere seines neuen Programms im „Quasimodo“ natürlich keine Antworten. Musik kann die Welt nicht retten, aber gewissermaßen im Vorgriff neue Formen des Miteinanders ausprobieren. Bei den fast durchweg ausverkauften Konzerten des JazzFest beeindruckten die Orchester am stärksten, nicht die blassen Stars früherer Tage wie der Trompeter Wadada Leo Smith, dessen Dialog mit dem wunderbaren Pianisten Vijay Iyer nicht einen Moment in Gang kam. Der Tenorsaxophonist David Murray machte sich einen schlanken Fuß und tauchte immer wieder hinter der Bühne ab; immerhin konnte der Bassist seines Quartetts überzeugen. 

Die großen Formationen, allen voran das furiose London Jazz Composers Orchestra, begeistern das Boomer-Publikum. Mit dem neuen Programm “Double Trouble III” spielte die international besetzte Bigband unter der Leitung von Barry Guy ein fantastisches Konzert. Auf jede und jeden kommt es dabei an – nur zusammen gelingt dieses Projekt. Das “Fire! Orchestra” erreichte zum Abschluss des JazzFest Berlin diese Intensität nicht, ebenso wenig wie der mit Spannung erwartete Auftritt von Felix Henkelshausens “Deranged Particles” am ersten Abend. Wer sich indes zur Verleihung des Albert-Mangelsdorff-Preises 2025 an Lauren Newton (Mitgründerin des Vienna Art Orchestra) angemeldet hatte, erlebte die Kunst des Duos auf höchstem Niveau – ein federleichter und doch so eindringlicher Dialog von Newtons Stimme mit dem Bass (Joëlle Léandre). Am Ende des so kurzen wie intensiven Konzerts legten die Künstlerinnen ihre Köpfe auf das Instrument. Diese beiden hätten einen Auftritt auf der Hauptbühne verdient, wo eine andere junge Musikerin auftrumpfte: die aus Mexiko stammende Vibraphonistin Patricia Brennan. Sie spielte in der Band von Mary Halversom, die wie Angelika Nescier nicht zum ersten Mal von der künstlerischen Leiterin Nadin Deventer zum JazzFest Berlin eingeladen wurde. 

August Diehl in „Das Verschwinden des Josef Mengele“. © ©Lupa Film, CG Cinema, Hype Studios

Nach so viel Musik zieht es uns endlich einmal wieder ins Kino. Wir wollen den hoch gelobten Film “Das Verschwinden des Josef Mengele” von Kirill Serebrennikov sehen. Vorher rasch noch etwas Pasta & Pizza, doch der “Wartesaal” macht dieses Mal seinem Namen schlechte Ehre. Wir müssen das vom Kellner vergessene Essen einpacken lassen und eilen los. Kaum beginnt die Vorstellung, habe ich Hunger & schlechte Laune vergessen. Die im Stil des Film Noir gedrehte Verfilmung des Romans von Olivier Guez (136 Minuten) zieht mich sofort in Bann. Der “Todesengel von Auschwitz“, eindringlich gespielt von August Diehl, taucht nach dem Ende des 2. Weltkriegs in Südamerika unter und lebt dort unbehelligt bis zu seinem Tod. Ein herrischer, selbstgerechter, unbelehrbarer Nazi und zuletzt ekelhafter dirty old man, den die Fragen des Sohnes nach seinen sadistischen Experimenten an Menschen überhaupt nicht berühren. “Ein klaustrophobisches Psychogramm des Bösen – formal brillant und moralisch verstörend“ (Le Monde). Diesen Film werde ich nie vergessen.