Drinnen & Draußen

Notruf an der Haustür. © Rolf Hiller

Die Angst geht um in deutschen Landen. Was mache ich, wenn meine Wohnung gekündigt wird und ich keine Alternative finde? In ihrer Not greifen viele zur Selbsthilfe, hängen Zettel aus und versprechen hohe Belohnungen für eine Vermittlung. Neulich bot eine Familie 5.000 Euro an. Letzte Woche hing ein Hilferuf an unserer Haustür: 3.300 in bar für eine Wohnung ab 1.5 Zimmer. Und sie ist bereit, dafür monatlich 900 Euro Miete zu zahlen; natürlich wird sie Kücheneinbauten und Schränke übernehmen. Kürzlich wurde der Untermietvertrag eines Mitarbeiters in einen Hauptmietvertrag gewandelt – neun Hunderter wurden dafür verlangt, bar auf den Tisch. Die Lage bei Wohnimmobilien wird sich in den nächsten Jahren weiter dramatisch verschärfen: es wird in Deutschland zu wenig, zu teuer und zu aufwändig gebaut. Im Musterland der Bürokratie gibt es nicht weniger als 3.500 Bauvorschriften. 

Beim Deutschen Institut für Menschenrechte kann man den Artikel 11 Absatz 1 des UN-Sozialpaktes finden: “Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden Menschen auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Vertragsstaaten unternehmen geeignete Schritte, um die Verwirklichung dieses Rechts zu gewährleisten, und erkennen zu diesem Zweck die entscheidende Bedeutung einer internationalen, auf freier Zustimmung beruhenden Zusammenarbeit an.” Ob man daraus ableiten kann, dass zur Daseinsvorsorge des Staates die Schaffung von ausreichend Wohnraum für alle gehört, ist “nirgendwo klar definiert” (Berliner Mieterverein). Die Frage birgt erheblichen sozialen Sprengstoff. Rund 60% der Berliner:innen haben im September 2021 beim Volksentscheid für die Enteignung großer Immobilienkonzerne gestimmt. Damit gibt es aber noch keine einzige neue Wohnung. 

Dafür entstehen in bester Lage luxuriöse Eigentumswohnungen – etwa 80 qm für 1,8 Millionen Euro. Gebannt verfolge ich den Podcast “Teurer Wohnen”, der 2023 mit dem Deutschen Radiopreis ausgezeichnet wurde. Hartnäckig recherchieren die Journalist:innen, wie eine Altbau-Sanierung – völlig legal – ablaufen kann und wie die Gewinne der verschachtelten Firmen dann auf Zypern landen, über zu hohe Zinsen übrigens. Die Insel ist knapp vier Mal so groß wie das Saarland; 200.000 Firmen haben auf dieser Steueroase ihren Sitz. Das ist legal und bekannt und wird von der EU genauso nonchalant hingenommen wie die Konkurrenz um die Ansiedlung von Unternehmen mit einer niedrigen Gewerbesteuer hierzulande. Die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt verheißt überhaupt nichts Gutes für die nächsten Jahre. Fast jede:r kann plötzlich draußen sein und muss am Ende hohe Belohnungen zahlen. Die schaffen nur Begehrlichkeit und keine neuen Wohnungen. Klara Geywitz, die Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, hat den Podcast übrigens nicht gehört. Ein Versäumnis! 

Spektakeltheater

Spektakuläre Bilder: “Ophelia’s Got Talent” von Florentina Holzinger in der Berliner Volksbühne © Nicole Marianna Wytyczak

Ausverkauft! Das Interesse an der Performance in der Berliner Volksbühne ist riesig; jede:r hat etwas gehört über das neue Stück von Florentina Holzinger und möchte das Spektakel erleben. Im Jahrbuch 2023 der Fachzeitschrift “Theater heute” wurde “Ophelia’s Got Talent” zur Inszenierung des Jahres gewählt. Unsere Erwartungen sind hoch, hätten allerdings durch die “Kranetude etwas gedämpft werden sollen. Florentina Holzinger schafft spektakuläre Bilder, zudem schrecken ihre immer nackten Tänzerinnen vor nichts zurück. Bilder schaffen indes noch kein Stück. Wie bei “Kranetude” werden von “Ophelia’s Got Talent” einzelne Szenen in Erinnerung bleiben, etwa wenn die Crew mit einem Helikopter kopuliert. Dass dann literweise Sperma ins Schwimmbecken darunter platscht, versinnbildlicht das Problem der Ideen von Holzinger: Sie sind zu plakativ. Mit einer furiosen Casting-Show beginnt der Abend, in dessen Verlauf sich die Nackerten schon einmal einen Haken durch die Wange ziehen oder eine Magensonde einführen; das Publikum darf sich über einen Fisch im Bauch der Tänzerin freuen. Eine Captain Hook führt durch die Wasserperformance, die immer länger & beliebiger wird. 

Mein Nachbar schaut häufiger nach der Uhrzeit. Es regnet Plastikflaschen ins Wasserbecken, das sich zuvor rot gefärbt hat; natürlich darf Schillers “Taucher” nicht fehlen. Zwei Tänzerinnen haben Trisomie 21, eine Kleinwüchsige ist mit ihrem Rollator dabei. Am Ende tanzen ein paar Teenager-Mädchen zu stampfenden Beats, wo kurz zuvor noch düstere Bilder das Geschehen prägten. Florentina Holzinger erzählt von ihrer Magersucht in der Jugend, nur noch Wasser habe sie getrunken. Irgendwann ging es um Leben und Tod. Grunge war die Musik der Stunde, Kurt Cobain mit der Band Nirwana ihre Ikone; er brachte sich 1994 um. Womöglich liegt in ihrer Biographie der Schlüssel zu “Ophelia’s Got Talent” – Frauen werden durch die Gesellschaft zu Opfern. Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau getötet, meistens vom Partner. Insofern lässt sich Holzingers Arbeit als Empowerment der Frauen deuten. Weniger wäre indes mehr gewesen. Wir hielten durch bis zum Ende; ein paar Wenige verließen die umjubelte Vorstellung schon vorher. 

Rechtfertigt dieses Ergebnis den immensen Aufwand der Produktion? Nimmt man den Hype als Maßstab, unbedingt; erwartet man von Kunst aber mehr als Spektakel, sicherlich nicht. Bestimmt war das Gros im Publikum für eine konsequente Reduzierung unseres Energieverbrauchs. Eines Tages wird die CO2-Bilanz eines solchen Events ausgewiesen, eines Tages muss der ganze Kultur-Jet-Set auf den Prüfstand. Vielleicht wird es dann einen bundesweit vereinbarten Gesamtverbrauch geben, und die einzelnen Veranstalter beginnen einen munteren Tauschhandel mit ihren Kontingenten. Das wäre vergleichbar mit dem novellierten Bundesklimaschutzgesetz – nicht mehr das einzelne Ressort muss seine Klimaziele einhalten, sondern die ganze Regierung. Kollektive Verantwortungslosigkeit hat noch nie geholfen. 

Nach dem Alarm

Falls die digitale Welt zusammenbricht, ist auf das gute, alte Kofferradio Verlass. © Rolf Hiller

Kaum habe ich den ICE betreten, beginnt der Alarm. Die Handys geben einen lauten & unüberhörbaren Ton ab. Alle wissen Bescheid. Heute ist der bundesweite Warntag. Das hat fast überall geklappt, nur in der Bundeshauptstadt heulen die Sirenen nicht – von geplanten 400 sind nicht einmal 25% einsatzbereit. Wenn es wirklich ernst würde, dürften die meisten so wenig Bescheid wissen wie ich. Soll man Schutzräume aufsuchen? Wo sind die? Soll man die wichtigsten Papiere mitnehmen? Gäbe es dort zumindest Wasser? Im Rundfunk bekomme ich einen ganz wichtigen Tipp: unbedingt immer ein Kofferradio bereit halten – und ausreichend Batterien. Im Ernstfall könnte schnell das Internet zusammenbrechen mit unabsehbaren Folgen – auch für die Information der Bevölkerung. Das ist die Kehrseite der Digitalisierung, die kaum jemand auf dem Schirm hat. Wider jede Vernunft rechnen wir nicht damit, dass eine Katastrophe auch uns betreffen kann. 

Nach dem Ende des enervierenden Alarms erst bemerke ich einen Klassenfreund im gleichen Wagen. Nächstes Jahr liegt unser Abi 50 Jahre zurück, und wir wollen uns natürlich treffen. Einige werden ganz bestimmt nicht kommen – sie wollen durch nichts & niemanden mehr an ihre Schulzeit erinnert werden. “Feuerzangenbowle”-Idylle war selten, körperliche Übergriffe auf dem Jungengymnasium nicht ungewöhnlich. Der Freund erzählt mir, dass ein Lehrer mit Nazihaarschnitt und einer passenden Vita einmal im Religionsunterricht einen Schüler so lange mit der Bibel(!) auf den Kopf schlug, bis diesem schlecht wurde. So etwas ist mir nicht widerfahren, aber im Schullandheim wurde ich einmal auf andere Weise gedemütigt. Weil ich den Milchreis mit Zimt und Zucker nicht herunterbringen konnte, musste ich nach dem Essen sitzen bleiben. Unser Klassenlehrer verlangte, dass ich den üblen Brei esse, Löffel für Löffel. Ich würgte bei jedem Bissen, mir standen Tränen in den Augen. Nach einer Stunde hatte mein Peiniger ein Einsehen und ließ von mir ab.  

Warum habe ich mich nicht gewehrt? Warum habe ich die Eltern nicht informiert? Warum ist nichts passiert? Erniedrigungen waren im Mainzer Gutenberg Gymnasium zumindest bis zur Oberstufe eine allherrschende Erfahrung. In unserer Klasse stärkte der Druck von außen immerhin den Zusammenhalt – bis heute. Das war zumindest die These des leider schon verstorbenen Klassenfreundes, mit dem ich das Treffen zum 40. Abi organisierte, übrigens noch einmal in diesem Schullandheim. Am Ort meiner Demütigung überwogen damals die sentimentalen Erinnerungen, die es ja durchaus gibt. Wir lachten viel und haben es ja irgendwie überstanden. Dass einige aus unserer Abiturklasse nichts mehr mit ihrer Schulzeit zu tun haben möchten und nicht mehr zu Treffen kommen, kann ich gut verstehen. Die Vergangenheit vergeht trotzdem nicht. Was uns auf der Schule widerfuhr, ist heute unvorstellbar. Immerhin ein schwacher Trost. 

Die gute, alte Post

Früher war mehr los im Kasten. © ninita_7 auf Pixabay

Am Briefkasten scheiden sich die Generationen. Ich schaue täglich nach der Post, wir verschicken noch unverdrossen Ansichtskarten und lesen gedruckte Zeitungen. Leider bekommen wir kaum noch Briefe, leider schreibe ich selbst nur noch selten welche. Was ist eine Mail oder eine Nachricht in einem Messenger-Dienst gegen einen handgeschriebenen Brief. Das scheint die Deutsche Post nicht anders zu sehen und stellte eine Geburtstagskarte an eine Freundin zu, obwohl diese gar nicht frankiert war. Beim Einwerfen in den gelben Kasten bemerkte die Redakteurin dieser Zeilen schon ihr Versäumnis und wollte am nächsten Tag beim Leeren des Briefkastens ihren Fehler korrigieren, doch die Abholung war schon durch oder verspätete sich. Flugs wurde eine neue Karte geschrieben, vorschriftsmäßig frei gemacht und eingeworfen. Die Freundin freute sich dreifach: über zwei Kartengrüße und die feine Geste der Deutschen Post, wie auch immer sie zustande gekommen ist. 

Vor Jahren schrieben wir einen Dankesbrief an ein junges Paar, hörten gar nichts und fragten irgendwann digital nach. Man schaue nur alle vier Wochen in den Postkasten, vernahmen wir mit Erstaunen. Die Zeiten sind schnelllebiger und flüchtiger geworden. Jede:r ist informiert, keine:r weiß Bescheid. Es ist mir ein Rätsel, wie man all die Angebote der Mediatheken, Streamingdienste oder Audiotheken nutzen soll. Dabei finden sich dort großartige Alternativen zum täglichen Programm, das wir nur noch bei Wahlen analog einschalten. Natürlich durch die Zeitung war ich auf die Reportage “Allein im All – Die einsame Reise zum Mars” aufmerksam geworden, die ich mir auf der Rückreise aus Kassel ohne Störungen im ICE anschaute. Drei Jahre soll diese “Mission” dauern; die Crew muss diese Zeit auf engstem Raum verbringen. Eine Kommunikation in Echtzeit wird mit den Angehörigen nicht möglich sein wegen der riesigen Entfernung, die durchschnittlich 70 Millionen Kilometer beträgt. 

Sicher würden viele die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) gerne auf den Mond schießen. Dort könnte sie ihre vollmundigen Reden halten, deren Pathos angesichts ihrer Amtsführung noch hohler klingt. Gerade ist sie dabei, die Berlinale nachhaltig zu beschädigen. Nachdem die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek nur noch für das Festival 2024 zur Verfügung steht, wurde jetzt der künstlerische Leiter Carlo Chatrian abserviert. Dagegen haben nun 400 Macher:innen der Branche, darunter internationale Prominenz, in einem Offenen Brief protestiert. Beide haben das (immer noch) größte Publikumsfestival der Welt in ihrer Amtszeit durch schwierige Zeiten gebracht; Chatrian hatte aber wenig Fortune in Berlin. Nun soll es wieder eine Intendanz richten, wofür der Italiener offensichtlich nicht in Frage kommt. Wie unter diesen Voraussetzungen und hohem Zeitdruck eine neue Perspektive für die Berlinale gefunden werden soll, muss die Kulturstaatsministerin verantworten. “Claudie Roth. Die Berlinale und andere Schlamassel”, titelte der Tagespiegel (08.09.23). Der Kanzler sollte ihr einen geharnischten Brief schreiben. 

Auf und nieder

Standing Ovations für Ioana Mallwitz und das Konzerthausorchester Berlin beim Antrittskonzert der neuen Chefdirigentin. © Rolf Hiller

Wir sind dabei. Das erste Konzert von Joana Mallwitz ist restlos ausverkauft. Sie ist die neue Chefdirigentin des Konzerthausorchester Berlin, das seine gesamte Kommunikation auf sie abgestellt hat. In der aufwändig gestalteten Saisonbroschüre ist sie auf dem Cover und wird ausführlich vorgestellt. Die Marketingabteilung hat ganze Arbeit geleistet, nun muss Joana Mallwitz (Jahrgang 1986) liefern. Sie hat erfolgreich in Erfurt und Nürnberg gearbeitet und wurde 2019 vom Fachmagazin “Opernwelt” zur Dirigentin des Jahres gewählt. Für ihr Antrittskonzert in der Hauptstadt hat sie sich drei erste Sinfonien ausgewählt von Prokofjew, Weill und Mahler. Noch nie haben wir solch ein expressives Dirigat erlebt. Joana Mallwitz braucht keine Noten und macht uns trotzdem jedes Detail der Partitur sichtbar. Keinen Moment kommt sie zur Ruhe, im Gegenteil: für sie dürfte das Podest locker doppelt so groß sein. Nach zwei Stunden ist die Ausdruckstänzerin vollkommen ausgepowert und glücklich. Standing Ovations. Berlins neuer Kultursenator Joe Chialo pfeift begeistert. Die kundige ARD-Kulturkorrespondentin Maria Ossowski bringt es in ihrer Kritik auf den Punkt: “Madonna statt Maestro”. 

Joana Mallwitz kommt authentisch rüber; das kann man von Hubert Aiwanger (Jahrgang 1971) nicht behaupten. Den stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten und Wirtschaftsminister im Freistaat holt gerade seine Vergangenheit ein. In seinem Schulranzen verwahrte er antisemitische Hetzschriften (seines Bruders) auf und irritierte seine Klassenkameraden gelegentlich mit dem Hitlergruß. Anstatt sich dazu zu bekennen und sich zu entschuldigen, laviert der Vorsitzende der Freien Wähler in Bayern wenig überzeugend herum. Ein Problem hat damit erst recht der Söder Markus (CSU), der mit den Freien Wählern in Bayern regiert und nach der Landtagswahl am 8. Oktober mit ihnen weitermachen möchte. Mit den Grünen will der bayerische Ministerpräsident, der einst Bäume umarmte, auf keinen Fall regieren. Das dürfte so wenig passen wie die Verbindung in Berlin, wo die Ampelparteien aktuell zusammen bei 36% Zustimmung liegen. Noch niederschmetternder: nur noch jeder Fünfte ist mit der Regierungsarbeit der Koalition zufrieden (infratest dimap). Die AfD steht bei 22% – der Rechtsradikalismus ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. 

Fast auf den Tag genau vor fünf Jahren begann ich diesen Blog, den mir mein Freund Axel eingerichtet hatte. Erst als Tagebuch unserer Amerikareise, dann als wöchentliche Kolumne jeden Freitag, persönlich, aber nicht privat. Dieses Schreiben ist mir eine liebe Pflicht geworden, eine Reflexion der Zeit in der Spanne einer Woche. Das Innehalten, das Sortieren der Eindrücke, Einsichten & Erlebnisse möchte ich nicht mehr missen; es hat meine privaten “Notizen” fast ersetzt, leider. Denn diese Aufzeichnungen sind nicht für Leser:innen geschrieben. Gelegentlich lese ich alte Beiträge in “Wahn und Werk” und bin immer zufrieden, wenn sie heute noch bestehen können. Die Protokolle der Corona-Zeit überraschen mich dabei immer wieder. Ab September wird es einen neuen Impfstoff geben. Im Konzerthaus gestern und auf der Bahnreise diese Woche waren schon wieder Maskenträger:innen zu sehen. Das Virus wird weiter mutieren und niemals mehr verschwinden. Keine tröstliche Gewissheit.