Wehret den Anfängen!

„Das war mega magisch im NTH“ – Harry Keaton at his Best. © Rolf Hiller

Plötzlich ist alles ganz anders. Eine Verabredung in Frankfurt wurde kurzfristig abgesagt, und ich habe die Wahl, zu einem Vortrag von Michel Friedman zu gehen oder in ”Die Schmiere”. Meine Wahl fällt auf das Satirische Theater, das schon seit 1950 besteht. An diesem Abend steht wieder einmal ”Hart, aber fake” auf dem Programm, eine kurzweilige Abfolge von Nummern. Hier wird aufgeklärt, ohne zu belehren, immer unterhaltsam und teils umwerfend komisch. In der Pause darf das Publikum schon einmal für die Bundestagswahl am 23. Februar üben. Das Ergebnis ist eine interessante Momentaufnahme. Gewonnen haben an diesem Abend wieder die Grünen, auf dem zweiten Platz steht die CDU, die SPD landet abgeschlagen noch hinter FDP, Linken und BSW. Ein paar Tage vorher lagen die Genossen noch mit den Linken auf dem zweiten Platz. Lässt sich aus den Wahlrunden in der Schmiere etwas deuten? Gewiss nicht, aber die AfD (bestes Ergebnis: 13,6%) stößt auch hier auf Zustimmung, bei SPD (4,9 % und 22,7% und CDU (4,5% und 31,7%) schwanken die Ergebnisse weitaus stärker. 

Nachdem ein Antrag der CDU zur Verschärfung der Asylpolitik mit den Stimmen der FDP und der AfD angenommen wurde, ist Michel Friedman, der bekannte Autor und Publizist, aus der CDU ausgetreten. Das “unentschuldbare Machtspiel” des CDU Vorsitzenden Friedrich Merz habe die Büchse der Pandora geöffnet. Mehrere KZ-Überlebende haben ihr Bundesverdienstkreuz zurückgegeben, und Altkanzlerin Angela Merkel, deren oftmals erratische Politik die Ursache vieler Probleme ist, hat ihren Nachfolger und alten Rivalen schonungslos kritisiert. Was passiert da gerade? Was sind die Folgen am 23. Februar? Der Bundestag hat das von der Fraktion der CDU/CSU Union eingebrachte Zustrombegrenzungsgesetz abgelehnt; die Causa Merz muss um ein weiteres Kapitel ergänzt werden. Neu ist diese Gesetzesinitiative übrigens nicht; sie stammt aus dem September des letzten Jahres. 

Nicht einmal der Mentalmagier & Hirnakrobat Harry Keaton weiß, wie Deutschland beim nächsten Mal wählen wird. Zuzutrauen wäre es ihm allemal. Bei seinem Auftritt im Neuen Theater Höchst begeistert und verblüfft er das vol besetzte Haus. “Brain Magic: Mein Gehirn und ich” heißt sein neues Solo-Programm, das gut zwei Stunden dauert und nicht eine Sekunde zu lang ist. Wie schafft es dieses Superhirn, das Buch ”Die Zahl Pi mit 10.000 Nachkommastellen” auswendig zu können und die genaue Stelle etwa eines Geburtsdatums zu nennen. Das hat mich schon vor Jahren fasziniert und beeindruckt wie seine neue Show, die kurzweilig zwischen Close-Up-Magie, Gedächtnisakrobatik und Nummern mit dem Publikum wechselt; natürlich ist sein in Las Vegas ausgezeichneter Kaktus-Trick im aktuellen Programm. Dass der promovierte Germanist am Ende aus den Buchstaben von vier Zufallsworten aus dem Publikum einen sinnvollen Satz formt, versteht sich von selbst. “DU bist magisch”, schrieb ich dem Hirnakrobaten nach der Vorstellung begeistert. Harry at his Best! Gerne wieder.  

Auf nach Hamburg

Lilith Stangenberg als Antigone am Deutschen SchauSpielHaus Hamburg. © Thomas Aurin

Nach dem Berliner Theatertreffen 2024 stand für uns fest: wir müssen nach Hamburg fahren und alle fünf Teile von Anthropolis am Deutschen SchauSpielHaus bei einem Marathon-Wochenende erleben. Bei ihrem Solo-Auftritt in “Laios”, dem zweiten Teil des Zyklus, hatte Lina Beckmann alle und jeden begeistert. “Ich kann mich nicht erinnern”, notierte ich, “jemals einen solchen Applaus nach einer Theateraufführung erlebt zu haben. Standing Ovations. Wieder und wieder kommt Lina Beckmann auf die Bühne. Wir alle würdigen die Leistung dieser Ausnahmeschauspielerin, die gewissermaßen die Vorgeschichte von Ödipus erzählt, spielt, lebt, leidet.” Pünktlich kommen wir mit dem ICE in Hamburg an, checken im Hotel ein und eilen gleich weiter in die Kantine des Theaters. Ein langer Abend steht an – gespielt werden der Prolog und Dionysos. Gerne hätten wir dieses Erlebnis tiefenentspannt im Schlaf verarbeitet, aber am Sonnabend geht’s auf der Baustelle gegenüber pünktlich um 7 Uhr weiter. 

Passt doch. “Anthropolis – Ungeheuer. Stadt. Theben. Eine Serie in fünf Folgen” heißt das großartige Projekt. Roland Schimmelpfennig zeichnet für den Text verantwortlich und hat manche Passagen ganz neu geschrieben, die Intendantin Karin Beier inszeniert sparsam, klug und konzentriert auf den Stoff und das phantastische Ensemble. Die Fachzeitschrift Theater Heute wählte das SchauSpielHaus Hamburg zum Theater des Jahres und “Laios” zur besten Inszenierung der Saison. Das Ensemble ist wirklich glänzend besetzt und konnte die Absage von Devid Striesow zwei Stunden vor der Aufführung durch Christoph Jöde souverän ersetzen. Er spielt nicht den Ödipus, er ist an diesem Abend Ödipus wie die fabelhafte Lilith Stangenberg Antigone. Das Publikum verfolgt gebannt ihre Versteinerung, mit der sie die Strafe Kreons schon vorwegnimmt. Die Inszenierung nimmt hier den antiken Stoff bitterernst, setzt sich dann aber wieder herrlich unernst von den hanebüchenen Details ab. 

Der letzte Abend endet mit einem Sprechgesang des Chores. “Erkenntnis und Einsicht sind der Anfang allen Glücks. Niemand stelle sich gegen die Götter, Übermut, Anmaßung und falscher Stolz führen zum Sturz in die Tiefe, doch das erkennen wir zu spät im Leben.” Im letzten Herbst saß Bundeskanzler Olaf Scholz an allen drei Tagen im Publikum und könnte  an diesem Abend ins Grübeln geraten sein. Dass Donald Trump ins Deutsche SchauSpielHaus kommt, steht nicht zu erwarten. Ihn erinnerte die furchtlose Bischöfin der Episkopalkirche der USA, Mariann Edgar Budde, mit ruhigen, klaren Worten an die Menschlichkeit. „Dem US-Präsidenten ins Gesicht zu sagen”, kommentiert die TAZ, “dass seine Politik menschenverachtend ist, erfordert Mut. Mut, den gerade nur wenige beweisen. Dass Budde mit ihren Worten Trumps Herz bewegen wird, ist zwar unwahrscheinlich. Doch mit ihrer fast schon flehenden Bitte zeigt sie einer ganzen Nation und darüber hinaus, dass es möglich ist, sich den Rechten entgegenzustellen. Auch dann, wenn es mächtige Männer in politischen Ämtern sind.” (23.01.25) Die Mühen der Ebene werden ihm nicht erspart bleiben. Ich möchte den Antiken Marathon noch einmal erleben. 

Parallelwelten

Das Duo Costache riskiert riskiert immer Kopf und Kragen. © Rolf Hiller

Eine lange Doppelschlange vor dem Delphi Filmpalast in Berlin. Das Interesse an “Literatur Live”: Robert Habeck liest aus “Den Bach rauf”. So voll haben wir dieses Kino noch nie erlebt, bis auf den letzten Platz im Rang! Geduldig warten die Menschen, deren Mäntel und Taschen von der Security gecheckt werden müssen. Sie alle wollen wie der Kanzlerkandidat der Grünen “den Mut wiederfinden”. Souverän und schlagfertig führt der Moderator Micky Beisenherz das Gespräch. Habeck gibt sich nachdenklich und selbstkritisch und bewundert die Leistungen der Altkanzlerin Angela Merkel. Widerspruch regt sich im Publikum da nicht, wie es überhaupt keine Zwischenrufe oder gar Störer gibt. Tags zuvor war der viel beschäftigte, aber immer offene Habeck bei einem Gamer auf der Plattform Twitch zu Gast – unbekannte Welten nicht nur für ihn. Man kann dort einem Spieler (“Darf ich Sie Max nennen?”) jeden Tag über Stunden bei seinem E-Sport zuschauen, mit ihm plaudern und an seinem digitalen Leben teilhaben. 

Wer macht denn so etwas? geht es mir durch Kopf. Wer hat denn Zeit dafür? Beisenherz und Habeck stellen einvernehmlich fest, dass es längst keine Leitmedien mehr gibt – die Öffentlichkeit zerfällt in viele Welten, zwischen denen es kaum mehr Vermittlung gibt. Um so wichtiger, dass man noch miteinander im Gespräch bleibt, andere Meinungen gelten und stehen lässt, solange der Diskurs nicht die Grundfesten der Demokratie in Frage stellt. Eine existentielle Erfahrung als Politiker machte Habeck vor einem Jahr, als aufgebrachte Bauern ihn und seine Familie am Verlassen der Fähre in Schüttsiel hinderten. “Dennoch”, notiert er, “haben die Stunden auf der Fähre etwas verändert. Dass ich zu Hause nicht mehr zu Hause bin und dass es keinen Rückzugsort mehr gibt, aber vor allem, dass es meine Familie so direkt betrifft, ist unmittelbar geworden. Ich habe irgendwann danach mich – und meine Frau – gefragt, ob ich aufhören sollte. Aber die Antwort – auch die von ihr – war: nein.” 

Nach der Lesung bildete sich eine lange Schlange im Saal: viele wollten sich “Den Bach rauf” signieren lassen. Am nächsten Tag stand Robert Habeck neun Stunden vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Atomausstieg. Solch ein Leben muss man wollen und können. Wie die Artist:innen im OVAG Varieté in Bad Nauheim, die ich am Vorabend erlebte. Das Duo Costache etwa riskiert bei jedem Auftritt Kopf und Kragen mit ihrer sogenannten Perche-Artistik, die sie nur ein paar Jahre ausüben können und die womöglich langfristige Folgen hat. Trotzdem machen sie ihr Ding und ziehen das Publikum in Bann. Mit zwei Shows startete der Mastermind des Programms, Andreas Matlé, 2003, heute sind es 50 in einer Spielzeit im stets ausverkauften Dolce-Theater (730 Sitzplätze). Über drei Stunden dauert die Show immer und zieht sich nicht einen Moment. Der Vorverkauf für die nächste Saison läuft schon. Dann ist der verurteilte Sexualstraftäter Donald Trump ein Jahr im Amt als amerikanischer Präsident. Man kann nur hoffen, dass die am längsten bestehende Demokratie der Welt nicht von Oligarchen wie Musk, Zuckerberg & Co. gekapert wird. Wir werden Biden noch sehr vermissen. Good bye Joe! 

Mensch bleiben

Dieses Bild wurde von der KI generiert.

Am 23. Februar findet die vorgezogene Neuwahl zum Deutschen Bundestag statt, und jetzt beginnt die große Zeit der Parolen, Slogans und Versprechungen. Die Grünen – sie stehen derzeit in den Umfragen bei 14% – plakatieren ihren Kandidaten Robert Habeck mit dem Claim “Bündniskanzler. Ein Mensch. Ein Wort”. Als ich von der Kampagne erfuhr, die von der renommierten Werbeagentur Jung von Matt stammt, dachte ich sofort an Adolf Tegtmeier. In den 60er und 70er Jahren feierte der Kabarettist Jürgen von Manger mit dieser Bühnenfigur, die herrlich breites Ruhrplatt spricht, große Erfolge in Radio und Fernsehen und auf Schallplatte – “Mensch bleiben…!” hieß ein Programm von ihm. An den herzensguten und niemals arglistigen Tegtmeier haben Robert Habeck (*1969) und seine Wahlkampfstrategen wahrscheinlich nicht gedacht, als sie ihre befremdlich menschelnde Kampagne verabschiedeten.  

Ob sich die Entscheidung für diese Strategie bei der Wahl auszahlt, zieht nicht nur Gerrit Bartels in Zweifel: “Diese Betonung auf den Menschen im ‘Team Robert’, eine ebenfalls anbiedernd-peinliche Konstruktion, ist der reine Kitsch und vor dem Hintergrund der eigentlichen Ziele der Grünen (mehr als 14 Prozent, Bündnispartner werden, das selbst in einer Regierung mit der CDU/CSU) entleert es das Menschliche im Menschen zusätzlich.” (Tagespiegel, 09.01.25) Womöglich wird der Einfluss der Kampagnen, der Auftritte der Spitzenkandidaten in Medien und vor Ort, der Haustürwahlkampf und die Infostände auf Straßen und Plätzen überschätzt. Angeblich wissen über 70% der Menschen “draußen im Lande” schon jetzt, welche Partei sie im Februar wählen werden. Spannender denn je wird es auf jeden Fall, denn niemand kann seriös vorhersagen, wie sich die Wahlrechtsreform zur Verkleinerung des Bundestags auswirkt. Holt Die Linke drei Direktmandate oder schafft sogar 5%? Fliegt die FDP aus dem Bundestag, und bleibt das BSW bei 5% wie in den letzten Umfragen? 

Stünden Die Grünen besser da, wenn sie sich wieder stärker auf ihre Wurzeln besinnen würden? Wahrscheinlich nicht. 2024 war wieder einmal das wärmste Jahr, noch nie waren die Meere wärmer. Dass ein Zusammenhang zwischen unserem Lifestyle und den Naturkatastrophen besteht, realisieren die meisten vielleicht nur, wenn sie direkt betroffen sind. Der nächste amerikanische Präsident, der unbelehrbar auf fossile Energien setzt, hat den Verantwortlichen für die Brände in Los Angeles denn auch schon ausgemacht: den demokratischen Gouverneur Gavin Newsom. “Gestern wurde halb Hollywood evakuiert”, schreibt mir heute Morgen Uwe Bettenbühl, der Filmredakteur von FRIZZ Das Magazin, der seit Jahrzehnten in Los Angeles lebt. “Unsere Nachbarschaft südlich davon ist nicht direkt betroffen, ein Evakuierungsmandat haben wir bisher nicht bekommen, kämpfen aber täglich mit Feuergestank und Asche, die auf unser Haupt regnet. Der Himmel ist orange gefärbt. LA im Sci-Fi-Look.” Mensch bleiben wir nur mit der Natur. Nicht gegen sie. 

Zuversicht

Ohne Zuversicht geht beim Stuhlakrobaten Sarban Troupe gar nichts. © Rolf Hiller

An Grüßen und Wünschen fehlt es nie beim Jahreswechsel, in der Zeit der Rauhnächte (altertümliche Schreibweise), also der Zeit vom 25. Dezember bis zum 6. Januar. “Die Raunächte sind eine Zeit, die seit der frühen Neuzeit für Geisteraustreibung oder -beschwörung, den Kontakt mit Tieren oder wahrsagerische Praktiken geeignet sein soll.” (Wikipedia) Zumindest sind die Tage ‘zwischen den Jahren’ eine Zeit der Besinnung. Das Leben scheint ruhiger zu verlaufen; man lässt das vergangene Jahr Revue passieren und spekuliert, was das neue wohl bringen möge. Die guten Wünsche und Vorsätze sind meist schnell vergessen, aber eine Anregung der Schriftstellerin Thea Dorn geht mir die ganze Woche nicht aus dem Kopf: man solle die Zuversicht trainieren wie einen Muskel. Statt sich in der “German Angst” immer weiter herunterziehen zu lassen, sollte man die Hoffnung nicht aufgeben – trotz aller berechtigter Zukunftssorgen. Das Buch dazu hat die Wissenschaftlerin Hannah Ritchie geschrieben: “Hoffnung für Verzweifelte. Wie wir als erste Generation die Erde zu einem besseren Ort machen” (Piper) 

Dass nicht alle Mitmenschen hierzulande das neue Jahr freudig & friedlich beginnen wollen, scheint ein deutsches Problem zu sein. Während man in Sidney, London oder New York den Jahreswechsel mit prächtigen öffentlichen Feuerwerken feiert, nutzen hierzulande immer mehr vor allem Männer die Böllerei, um ihren Aggressionen freien Lauf zu lassen. Wieder ganz vorne dabei die Bundeshauptstadt. 4.000 Polizisten waren im Einsatz, um Eskalationen oder Übergriffe auf Rettungskräfte zu verhindern. Fassungslos brachte es einer von ihnen auf den Begriff: “Die haben Silvester mit Krieg verwechselt”. Statt endlich ein Böllerverbot durchzusetzen, eiern viele Politiker herum. Der Regierende Bürgermeister der Stadt, Kai Wegener, lehnt das ab und möchte stattdessen das Waffenrecht verschärfen. Kugelbomben, die einige Menschen das Leben kosteten und schwerste Verletzungen hervorriefen, und Straßenschlachten, die ganze Häuser in der Nacht unbewohnbar machten, haben mit dem viel beschworenen Brauchtum und dem Spaß an einer Silvesterknallerei nichts mehr zu tun. Dieser (auch ökologische) Wahnsinn muss ein Ende haben! 

Aus gutem Grund fuhren wir am Silvesterabend mit dem Auto zum Tempodrom. Öffentliche Räume beherrscht von Böllergangs und die Fahrt mit der U-Bahn meiden wir an diesem Abend. Im 20. Jahr tritt der Circus Roncalli hier mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin auf; diese Kooperation verdankt sich übrigens einem Fehler beim Buchen, denn Roncalli und das DSO bekamen 2004 beide den Zuschlag für diese Location am 31. Dezember. Was tun? Man entwickelte ein gemeinsames Programm und hat damit seit Jahren großen Erfolg. Auch diesmal ist das Publikum wieder begeistert von den fantastischen Artisten, die ohne Zuversicht ihre riskanten & schwindelerregenden Nummern nicht vollbringen könnten. Beschwingt fahren wir nach Hause, stoßen erst kurz nach Mitternacht an, freuen uns an ein paar Wunderkerzen und auf 2025, zuversichtlich!