Doppelleben

Chefredakteur und Schriftsteller: Dirk Kurbjuweit bei der Eröffnung des Lesefestes „Frankfurt liest ein Buch“. © Rolf Hiller

“Ich bin ein Hesse.” So beginnt Dirk Kurbjuweit seine Rede beim Eröffnungsabend im voll besetzten Saal der Deutschen Nationalbibliothek. Sein Roman “Nachbeben” steht im Mittelpunkt des 16. Lesefests “Frankfurt liest ein Buch”. Im Brotberuf ist Kurbjuweit Chefredakteur des “Spiegel”. Nach langen und sicher stressigen Arbeitstagen zieht er sich abends in die Welt der Literatur zurück – als Leser und Schreiber; das Handy bleibt dann in einem anderen Zimmer. An keiner Buchhandlung könne er vorbeigehen, er liebe die Stille in einer Welt mit hunderttausenden Sätzen. Zwar hat Kurbjuweit als Kind nur kurz in Wiesbaden gelebt, dann zog die Familie weiter nach Berlin und Essen, aber viele Sommerferien verbrachte er im Vordertaunus auf dem Kleinen Feldberg. Dort spielt zum guten Teil sein 2004 erschienener Roman “Nachbeben”, der erstaunliche Familienkonstellationen geschickt mit der Einführung des Euro verbindet. 

Dirk Kurbjuweit kann schreiben und will mehr als bloß unterhalten. Ein paar Stellen in seinem Roman habe ich unterstrichen, etwa den Satz: “Weißt du, wie man sich manchmal ausmalt, dass man sich an einem gewissen Punkt anders entschieden hätte und in einem anderen Leben gelandet wäre.” Er hat inzwischen fast zwanzig Bücher veröffentlicht, Preise dafür bekommen; viele wurden sogar verfilmt oder als Hörspiel bearbeitet. In seinem Wiki-Eintrag wird auch auf einen Leitartikel im Spiegel vom 05.03.21 hingewiesen – “Es reicht, Herr Spahn!”, in dem er den Rücktritt des damaligen Gesundheitsministers fordert. Die Skandale in der Corona-Zeit haben dem wendigen Politiker nicht geschadet; jetzt wird er als Chef der nächsten CDU/CSU-Bundestagsfraktion gehandelt. Für die SPD ist “Spahn schon lange ein schwarzes Tuch mit blauen Flecken” (FAZ, 25.04.25), und für Philipp Türmer, den Bundesvorsitzenden der Jusos, wäre eine Ablehnung des Koalitionsvertrags durch die SPD keine Staatskrise. 

Am 29. April endet die Frist für die Mitgliederbefragung der SPD. Sollte der Vertrag abgelehnt werden, würde die Koalition mit der CDU/CSU noch vor Beginn scheitern. Angesichts der aktuellen Weltlage wäre das eine veritable Staatskrise und Friedrich Merz bekäme sicher wieder wie nach der SPD-Frage nach Steuererhöhungen zum Ausgleich von Finanzierungslücken einen Tobsuchtsanfall. “Soll das eine politische Antwort auf ein Problem sein?“, fragte das Straubinger Tagblatt da zu Recht konsterniert. Derweil blickt die Welt nach Rom, wo am Samstag Papst Franziskus beigesetzt wird. Dann beginnt das Konklave, bis ein neues Oberhaupt der katholischen Kirche für 1,4 Milliarden Gläubige gefunden ist. Wer sich dafür interessiert, dem sei der packende Film “Konklave” von Edward Berger oder der Kardinal-O-Mat empfohlen. Fest steht schon jetzt, dass der 267. Papst wieder ein alter Mann sein wird. Kardinal Jorge Mario Bergoglio aus Buenos Aires wurde 2013 erst im fünften Wahlgang gewählt. Er war der erste Papst aus Südamerika, muss eine sehr beeindruckende Persönlichkeit gewesen sein und nahm den Namen Franziskus an.  

1972

Der packende Film „September 5“ von Tim Fehlbaum stellt Fragen nach der journalistischen Ethik. © Constantin Film

Jeden Abend sahen wir in der Tagesschau Berichte vom Vietnamkrieg. Ich erinnere mich noch gut daran, wie amerikanische Hubschrauber über das Mekongdelta fliegen, Schüsse sind zu hören. Das war der erste Krieg, den ich im Fernsehen verfolgt habe. Über dieses Jahr hält der ARD-Jahresrückblick fest: “Die Verabschiedung der Ostverträge mit der Sowjetunion und Polen sowie der Grundlagenvertrag mit der DDR sind die großen außenpolitischen Erfolge der Regierung Brandt im Wahljahr 1972. Brandt wird ebenso wiedergewählt wie Richard Nixon in den USA. Der Vietnam-Krieg tobt derweil unvermindert weiter, der Nordirland-Konflikt erreicht mit dem ‘Blutigen Sonntag’ einen traurigen Höhepunkt. Für weltweite Bestürzung sorgt das Attentat auf israelische Sportler bei den Olympischen Spielen in München.” Damals schaute ich noch Sportübertragungen und war auch beim sog. Goldenen Sonntag am 3. September dabei, als Leichtathleten aus der Bundesrepublik Deutschland drei Goldmedaillen gewannen. 

Die “heiteren Spiele” in München fanden zwei Tage später ihr jähes Ende. Die palästinensische Terrororganisation “Schwarzer September” nahm 11 israelische Sportler als Geisel und forderte die Freigabe von 232 Palästinensern. Die deutsche Polizei war auf eine solche Situation nicht vorbereitet, die Befreiung auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck scheiterte – alle Geiseln, fünf Terroristen und ein Polizist starben. Eine 24/7-Information gab es damals noch nicht, so dass sich die Nachricht von dem Überfall erst allmählich verbreitete, viele Wettbewerbe gingen einfach weiter; manche dann sogar in Kenntnis der Lage. Hätte man die Olympischen Spiele, in Deutschland zumal, abbrechen müssen? Das IOC entschied sich schon damals für das Geschäft und gegen die Moral. „The games must go on,“ verkündete Avery Brundage, der damalige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees. Diese Maxime gilt für das Handeln des IOC heute generell. Wo die Spiele stattfinden, ist egal, welche Belastungen für die Umwelt entstehen, schert niemanden in der mächtigen Funktionärsriege. Hauptsache die Kasse stimmt. 

Diese Fragen streift der überragende Film “September 5” des Schweizer Regisseurs Tim Fehlbaum, den wir zum Glück noch in einer Matinee-Vorstellung sehen können, nur am Rande. Mucksmäuschenstill ist es in dem winzigen Kino. Obwohl man doch den Ausgang des Geiseldramas kennt, folgt das Publikum gebannt der Arbeit eines amerikanischen Fernsehteams im Olympischen Dorf. Mit Leonie Benesch, John Magaro und Ben Chaplin ganz hervorragend besetzt, wirft “September 5” Fragen nach der Qualität journalistischer Arbeit auf. Soll man sich Slots beschaffen, um über das Geiseldrama zu berichten? Gibt es Grenzen für das, was man zeigen darf? Auch die Terroristen verfolgten live das Programm. Braucht man zwei verlässliche Quellen, um eine Nachricht herauszugeben? Die Geiselnahme während der Olympischen Spiele 1972 und ihr tragisches Ende verfolgten 900 Millionen Menschen auf der ganzen Welt an den Bildschirmen. Heute kann man auf Social Media in Echtzeit (fast) überall dabei sein; die Frage nach der Verlässlichkeit einer Quelle hat kaum mehr Relevanz. True Social heißt ausgerechnet der Kanal des amerikanischen Präsidenten Donald Trump. 

Ein Mann sieht rot

Flow aus Bildern und Tönen: Tangerine Dream in der Alten Oper Frankfurt. © Rolf Hiller

Ein Blick ins Depot zeigt die Folgen der disruptiven Zinspolitik des amerikanischen Präsidenten: alles so schön rot hier. Die Verluste sind spürbar; am stärksten hat Apple mit 26,83% an Wert verloren. Inzwischen scheint dem Dealmaker Donald Trump zu dämmern, was er da angerichtet hat, nicht zuletzt bei seinen Wähler:innen. Die Preise in den USA – dort findet ein Drittel des weltweiten Konsums statt – werden nach oben gehen. Noch brisanter ist die Entwicklung an der Börse, denn in Amerika ist die Aktienaltersvorsorge weit verbreitet. Dass Trump die Strafzölle gegen die EU erst einmal ausgesetzt hat, verschafft den Europäern allenfalls eine Atempause. Zum einen könnte China mit seinen Waren, die Trump mit 125% Strafzöllen belegt hat, Europa überschwemmen, zum anderen könnte China die ganze Welt durch den Verkauf von amerikanischen Staatsanleihen (Bestand derzeit 760,8 Milliarden Dollar) destabilisieren. 

Wahrscheinlich kennt der amerikanische Präsident den Film “Ein Mann sieht rot” (“Death Wish”) aus dem Jahr 1974 mit Charles Bronson in der Hauptrolle; wahrscheinlich gefällt ihm die Story. Nachdem bei einem brutalen Überfall durch eine jugendliche Gang seine Frau getötet wird und seine Tochter in eine autistische Erstarrung (Katatonie) fällt, verwandelt sich der einstige Kriegsverweigerer Paul Kersey in einen Killer, der gnadenlos schießt, wenn er angegriffen wird. „Ein zynischer Film, der suggestiv und kalkuliert alle Mittel einsetzt, um Selbstjustiz zu rechtfertigen,“ befindet das Lexikon des internationalen Films. “Death Wish” (Musik: Herbie Hancock) endet mit einem Deal und für Kersey nicht im Knast in New York. Das dürfte Donald Trump gefallen: hier vertraut einer nicht mehr auf Recht und Gesetz, hier lässt einer sich gar nichts mehr gefallen und schießt sofort zurück. Diese Westernmentalität ist Europäern fremd und als Maxime politischen Handelns brandgefährlich. 

Im Flow eines Konzerts der deutschen Electronica-Band Tangerine Dream in der Alten Oper Frankfurt tauchen wir ab in eine andere Welt, in ein Gesamtkunstwerk. In der Tat lassen sich die einzelnen Stücke schwerlich auseinanderhalten; eins klingt wie das andere. Ohne die Bilder und Filme würde ein Auftritt der Gruppe, die 1967 gegründet wurde, rasch langweilen. Tangerine Dream ist Konzept, nicht Band. An den Gründer Edgar Willmar Froese (†) erinnern einige Bildsequenzen, ansonsten bleibt er in der Musik lebendig. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Tangerine Dream für viele Filme den Soundtrack lieferte. Die Zugaben sparen wir uns und denken noch einmal an unseren Freund Axel, der mir eine Tangerine Dream Collection als “Special Gold CD Edition” hinterlassen hat. Ihm hätte die Continuum Tour 2025 ganz bestimmt gefallen. 

Mit Volldampf in die Katastrophe

Die Titanic bei der Abfahrt aus Southampton am 10. April 1912. © Francis Godolphin Osbourne Stuart

Wer kennt diesen Film nicht? Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in den Hauptrollen, Regie James Cameron, insgesamt 11 Oscars. “Titanic” zählt zu den erfolgreichsten Kinoproduktionen aller Zeiten. Natürlich kennen wir diesen Film und sind wieder fasziniert; nicht einen Moment ziehen sich die 194 Minuten. Die Titanic war das größte und modernste Schiff zu seiner Zeit, die Jungfernfahrt von Southampton nach New York war ein weltweites Medienspektakel, erst recht der Untergang nach der Kollision mit einem Eisberg im Nordatlantik. 1514 Menschen kamen ums Leben, ein Streichquartett spielte bis zuletzt. War es ein tragisches Unglück oder Fahrlässigkeit? Der Film wirft diese Fragen auf. Die Titanic sollte noch schneller New York erreichen, die Sensation noch größer werden. In der aktuellen Lage kann man die Titanic als Allegorie deuten – wider besseres Wissen können die multiplen Krisen in einer Katastrophe enden. 

Trump gegen den Rest der Welt, das kann und wird wohl nicht gut enden. Disruption in Maßen kann erstarrte Verhältnisse aufbrechen. Disruption als Prinzip ist kontraproduktiv und zerstört politische und wirtschaftliche Beziehungen – zum Schaden aller. Klare Worte findet ein Kommentar der Sylter Rundschau in den morgendlichen Pressestimmen im Deutschlandfunk:  “Die gegen 183 Staaten verhängten Strafzölle sind der vorläufige Höhepunkt einer Politik, die jedes Gefühl für Maß und Mitte vermissen lässt. US-Präsident Donald Trump glaubt tatsächlich, sich mit der ganzen Welt anlegen zu können, ohne dass die amerikanische Wirtschaft und Gesellschaft Blessuren davontragen werden. Das ist nicht nur naiv, das ist größenwahnsinnig. Der von Trump ausgerufene ‚Liberation Day‘ ist kein Tag der Befreiung. Er wird sich vielmehr als Belastung für die USA erweisen. Denn er markiert nicht nur den Bruch mit der regelbasierten Ordnung des Welthandels und lässt Partner auf Distanz gehen.” (04.04.25) Einige mutige Bundesrichter stellen sich gegen die brachiale Zerstörung von Institutionen, die Demokraten haben sich noch immer nicht vom Schock der Niederlage bei der letzten Präsidentschaftswahl erholt, und in seiner eigenen Partei regt sich (noch) kein Widerstand gegen Trumps Destruktivismus. 

Die Börsen reagieren unmissverständlich auf Trumps Furor: der Dow-Jones und der Nasdaq mit vielen Technologietiteln verzeichnen die größten Verluste seit der Corona-Pandemie 2020. Weltweit werden die Börsen von diesem Abwärtstrend mitgerissen. Und was sagt der Geschäftsmann Donald Trump dazu allen Ernstes? “Ich denke, es läuft sehr gut.” Die EU, der größte Binnenmarkt der Welt, hat keine guten Karten. Politisch und wirtschaftlich ist sie keine Einheit, militärisch und technologisch von den USA abhängig. Eine starke deutsche Regierung würde dringend gebraucht, allein die Koalitionsverhandlungen zwischen der Union und der SPD verheißen nichts Gutes. Ein “Irgendwie weiter so” droht, der Kanzler in spe Friedrich Merz hat bis jetzt keine Führungsqualitäten erkennen lassen, die CDU/CSU steht im aktuellen ARD DeutschlandTrend bei 26%, die AfD bei 24% und die SPD bei 16%. Nichts läuft sehr gut im Moment. Gar nichts!