Apokalypsen

„Hänsel und Gretel“ (Jeanette Treusch und Thorsten Morawietz) als Dämonenjäger. © Rolf Hiller

Im Sommer verlässt Die Dramatische Bühne ihr Domizil in der Exzess-Halle und veranstaltet traditionell ihr Freilichtfestival im Frankfurter Grüneburgpark. Das ist in diesem wetterwendischen Juli ein riskantes Unterfangen. An einem frischen Abend haben sich dennoch knapp 100 Besucher:innen vor der Bühne eingefunden, um “Hänsel & Gretel” einmal ganz anders zu erleben. Nicht bloß dieses Märchen wird in einem aberwitzigen Parforceritt auf die Bühne gebracht; Thorsten Morawietz und seine Truppe gehen in die Vollen. “Sämtliche Märchen der Brüder Grimm als trashiges Apocalypse-Märchen”, ist auf ihrer Homepage zu lesen, “voller perverser Prinzen und blutgeiler Hexen. Der heißeste Act seit dem Wunderlichen Spielmann und dem Duett von Brüderchen und Schwesterchen. Lassen Sie ihre Kinder zu Hause, es wird schmutzig und gemein. Ab 18 Jahren.” Das klingt vielversprechend. Oft sind wir nicht in der Lage, bei der rasanten Nummernfolge den Durchblick zu behalten. Die Szenen wechseln so schnell wie Kostüme, derbe Texte mit tiefen Einsichten. 

An der Kasse werde ich vorsichtig nach meinem Alter gefragt und bekomme dann die Tix zum Seniorentarif. Dabei arbeite ich nach wie vor in meinem Job, bin also nur statistisch ein Rentner, obwohl ich als Selbstständiger nie vorgehabt habe, mit dem sogenannten Renteneintrittsalter mit der Arbeit aufzuhören. Ich werde das Sozialsystem wahrscheinlich nie belasten, das uns bald um die Ohren fliegen wird. Der vom Bundeskabinett verabschiedete Haushaltsentwurf für 2026 sieht Rekord-Ausgaben in Höhe von 520 Milliarden Euro vor. Größter Einzelposten ist wieder das Ministerium für Arbeit und Soziales mit einem Etat von 197,4 Milliarden Euro – die Bundeszuschüsse für die Rentenversicherung betragen 127,8 Milliarden Euro, das Bürgergeld schlägt mit 41 Milliarden Euro zu Buche. Damit nicht genug. Trotz neuer Schulden reicht das Geld hinten und vorne nicht. In der Finanzplanung 2027 – 2029 fehlen 172 Milliarden Euro! Das ist kein “trashiges Apocalypse-Märchen”, das ist die apokalyptisch anmutende Perspektive der deutschen Staatsfinanzen. 

Was tun? Die sprichwörtliche schwäbische Hausfrau würde einen schonungslosen Kassensturz machen und allerlei Wahlgeschenke für Bauern, Gastwirte, Mütter und Pendler auf den Prüfstand stellen. Oder sie würde an Ernst Jandl denken, der heute vor einhundert Jahren in Wien geboren wurde und mit seiner experimentellen Lyrik in den späten Jahren zu einem Popstar des Literaturbetriebs avancierte; lange hatte er seinen Lebensunterhalt als Lehrer verdienen müssen. Eines seiner bekanntesten Gedichte heißt “ottos mops” und entstand 1963; das sollte man unbedingt von ihm selbst hören. Es verwundert nicht, dass er sich für Jazz begeisterte, eine große Plattensammlung hatte und mit Jazzmusiker:innen zusammengearbeitet hat. Auf der Schallplatte “vom vom zum zum”, aufgenommen im April 1988, ist er mit der Lauren Newton, Wolfgang Puschnig und Uli Scherer zu hören. Wie gut, dass ich meine Platten noch habe.

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