Prinzip Chaos

Unter den Stichworten Prinzip Chaos durch Trump genierte die KI dieses Bild.

Für das Chaos braucht die Deutsche Bahn nicht einmal den amerikanischen Präsidenten. Wir stehen am Gleis und warten auf den ICE. Der Nachschub für den Speisewagen steht an der richtigen Position bereit. Plötzlich die Ansage, dass dieser Zug heute ausfällt. Warum weiß man das nicht früher? Warum werden davon eigene Mitarbeiter überrascht? Nur eine Momentaufnahme von einer schier endlosen Kette von Pannen & Problemen, die der Staatskonzern hat, jeden Tag aufs Neue. Es rächt sich, dass man die Deutsche Bahn einst an die Börse bringen wollte und auf Teufel komm raus gespart werden musste. Nun soll es Evelyn Palla richten. Die neue Bahnchefin kann eine erfolgreiche Karriere vorweisen und hat zuletzt die DB Regio saniert. Wunder sollte niemand von ihr erwarten. Die Pünktlichkeitsziele hat Verkehrsminister Patrick Schnieder erst einmal der Realität angepasst, und von Wunschfantasien wie der Verdoppelung der Fahrgastzahlen bis 2030 (!) ist nicht mehr die Rede. 

Während bei der Deutschen Bahn jetzt hoffentlich ein vernünftiger Realismus einzieht, kann davon in der Weltpolitik nicht die Rede sein. Donald Trump regiert nach Lust und Laune und hat die Unberechenbarkeit zum Prinzip gemacht, zum eigenen Vorteil versteht sich. Anders als sein chinesischer Amtskollege Xi Jinping ignoriert er die Klimaerwärmung und setzt unverdrossen auf fossile Energien. Dabei hat Europa im letzten Jahr einen Rekordsommer erlebt, mit über 60.000 Hitzetoten. Heute geht der 15. ExtremWetterKongress in Hamburg zu Ende. „Wir müssen jetzt mit einer Welt denken und planen, in der wir 2050 bereits die 3-Grad-Grenze überschreiten. Das ist ein anderer Planet“, warnt Frank Böttcher, Veranstalthttps://wahnundwerk.blog/2022/07/15/zerreisprobe/er des Extremwetterkongresses und Vorsitzender der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft. Was das bedeuten kann, dürfte inzwischen bekannt sein. Der US-Präsident hingegen bezeichnet diese Prognosen auf der UN-Vollversammlung als “grünen Schwindel” und “Lügen”, aber der mächtigste Mann der Welt weiß sowieso alles und alles besser. In Washington gab er sich neulich als Rasenexperte aus: “Ich weiß mehr über Gras als jeder Mensch auf der ganzen Welt.” 

Trumps autokratisch-erratische Politik ist natürlich immer für Überraschungen gut und trägt damit zur allherrschenden Verunsicherung bei. Plötzlich tauchen nachts Drohnen über dänischen Flughäfen auf, plötzlich merken deutsche Politiker:innen, dass Deutschland darauf genauso wenig vorbereitet ist wie auf Cyber-Angriffe, die nach Erhebungen von Bitkom 2025 Schäden in Höhe von 290 Milliarden Euro verursachen werden; das entspricht mehr als der Hälfte des Bundeshaushaltes 2025! Diese multiplen Bedrohungen erzeugen eine Verunsicherung, einen Wunsch nach einfachen Problemlösungen wie sie Populisten überall verheißen und, einmal an der Macht, rücksichtslos umsetzen. In Amerika ist eine Gleichschaltung der Administration, Justiz und der Medien in Gang, wie man sie in so kurzer Zeit nicht für möglich gehalten hätte. Dieser Blog kommt (natürlich) mit einer amerikanischen Software zustande. Eine Reise wie im letzten Jahr nach Kalifornien ist für mich derzeit ausgeschlossen. Hoffentlich nicht für immer!  

Am Limit

Schwimmen macht den Kopf frei: Luna Wedler als Tilda im Kinofilm „22 Bahnen“. © Constantin Film

An einem regnerischen Sommerabend ist das Cinéma am Frankfurter Roßmarkt in der Häuserfassade kaum auszumachen. Trotzdem ist im kleinen Foyer des Kinos mit drei Sälen viel Betrieb. Im Studio läuft “22 Bahnen” nach dem Roman von Caroline Wahl. Es gibt einen Shitstorm gegen die Autorin, angefacht noch von einigen ungeschickten und überheblichen Äußerungen von ihr. Tenor der Kritik: Sie will mit Armut reich werden. Von dem Bestseller wurden über eine Million Exemplare verkauft. Caroline Wahl erzählt vom Leben einer jungen Frau, die mit ihrer alkoholkranken Mutter und ihrer kleinen Schwester unter schwierigen Verhältnissen zusammenlebt und im Supermarkt an der Kasse jobbt. Gleichzeitig studiert die begeisterte Schwimmerin als High Potential Mathematik und trifft im Bad zufällig den Bruder ihres russischen Freundes wieder, der mit seinen Eltern bei einem Autounfall ums Leben kam. Viel von viel auf 208 Seiten! Die Verfilmung von Mia Maariel Meyer ist erfolgreich angelaufen, kommt aber nicht über ein kleines Fernsehspiel hinaus. 

Am Ende trifft Tilda, die sehr überzeugend von der jungen Schweizerin Luna Wedler gespielt wird, eine Entscheidung. In der Politik könnte man eine wie Tilda gut gebrauchen, die lange gewogen und dann aber entschieden hat. Das geht mir auf meiner anschließenden Heimfahrt mit dem Rad durch das nächtliche Frankfurt durch den Kopf. Die aktuelle Bundesregierung macht mehr Schulden als alle davor zusammen, trotzdem klemmt es an allen Ecken und Enden. Jede:r weiß, dass es nicht gut gehen wird, wenn ein Viertel des Gesamthaushalts wie 2025 für die Rentenversicherung ausgegeben wird. Allgemein ist bekannt, dass in den nächsten 15 Jahren 13,4 Millionen Babyboomer in den Ruhestand gehen (Statistisches Bundesamt). Ebenso weiß man, dass Deutschland seit drei Jahren in einer Rezession festhängt. Die Hoffnung auf ein Anspringen der Konjunktur könnte sich als trügerisch erweisen. 

Obwohl immer wieder russische Drohnen über Polen gesichtet wurden, sind alle in der letzten Woche kalt erwischt worden, als plötzlich mindestens 19 Drohnen in den polnischen Luftraum eindrangen. Nicht alle konnten von Kampfjets abgefangen werden. Seit 2022 attackiert Russland die Ukraine mit diesen Kriegswaffen; in der letzten Woche wurden über 800 Drohnen abgefeuert. Es grenzt an Realitätsverleugnung, dass die NATO diese drei Jahre nicht genutzt hat, um sich selbst gegen diese Art von Angriffen zu schützen. In diesem Jahr geben die NATO-Mitgliedsstaaten 1.300 Milliarden US-Dollar für Verteidigung aus. Gleichwohl scheint das Bündnis nicht in der Lage zu sein, einen massiven Angriff von Billigdrohnen aus Russland abzuwehren. Eine schonungslose Bestandsaufnahme muss her, nicht nur in Deutschland. Kanzler Friedrich Merz hat einen Herbst der Reformen versprochen. Wenn die Zeichen nicht trügen, wird es ein Herbst der Kommissionen, ganz nach dem Motto: “Und wenn ich dann nicht weiter weiß, dann gründe ich einen Arbeitskreis.“

Vor dem Mond

Unter den Stichworten Mond und Drohnen entwickelte die KI dieses Bild.

Eine wolkenlose Nacht in Brandenburg, ideale Bedingungen, um eine totale Mondfinsternis zu beobachten. Es ist stockdunkel am Madlitzer See, als plötzlich der Mond als zarte Sichel aus dem Schatten der Erde tritt. Beeindruckt verfolgen wir dieses Naturschauspiel, das wir indes mit dem iPhone nicht festhalten können. Das Handy zeigt mehr Mond als die Realität; wir stecken es weg. Was ist schon die unendliche Flut von Bildern gegen das echte Erlebnis. Auf meinem Smart-Phone habe ich inzwischen über 12.000 Bilder und Filmchen gespeichert, analog habe ich in meinem Leben vielleicht 100 Fotos gemacht. So dürfte es vielen gehen, die keine Muße haben oder Zeit finden, das ganze Material zu sichten, sich von Fehlschüssen zu verabschieden und den Rest in Alben zu ordnen. Der digitale Speicher wird täglich voller – nicht nur auf meinem Handy – und verbraucht immer mehr Energie. Prognosen gehen davon aus, dass 2030 die KI 3% des weltweiten Energieverbrauchs verschlingt. Ein einzelnes KI-Training (z. B. GPT-3) kann bis zu 5,4 Millionen Liter Wasser benötigen (www.basicthinking.de). Die letzten Informationen habe ich M365 Copilot von Microsoft entnommen; diese KI nutze ich seit einiger Zeit vor allem zur Recherche. 

Während wir die totale Mondfinsternis bewundern, wird die Ukraine mit über 800 russischen Drohnen angegriffen, die bis zu 90 kg schwer sein können; Kiew ist nur 1.150 km Luftlinie entfernt. Diesen Wahnsinn kann man nicht immer gewärtigen. Aber er rückt näher, wie der Abschuss von 19 Drohnen über Polen zeigt. Zar Putin möchte mit allen Mitteln die NATO-Ost-Erweiterung revidieren und ein neues großrussisches Reich errichten. Seinen Expansionsgelüsten konnten EU und NATO bislang nicht Einhalt gebieten. Die russische Schattenflotte bringt ungehindert Öl zu den zahlreichen Abnehmern in aller Welt, und die Schiffe zerstören gelegentlich noch Datenkabel, bis jetzt werden nur die Zinsen des russischen Staatsvermögens einbehalten, 18 Sanktionspakete haben Putin weder beeindruckt noch geschadet. Gerade beginnt das Manöver von Russland und Belarus mit dem vielsagenden Namen “Sapad 2025”, also “Westen 2025”. 

Vielleicht sollte man Putin und all die anderen Diktatoren und Autokraten einmal auf eine Raumstation schicken. Dieser Gedanke liegt nahe, wenn man den Roman “Umlaufbahnen” von Samantha Harvey liest. Das Buch erhielt 2024 den renommierten Booker Price und schildert das entbehrungsreiche und unerhörte Leben eines Astronautenteams, das die Erde alle 90 Minuten einmal umrundet. “Bald ergreift sie alle ein Verlangen. Das Verlangen, nein, das inbrünstige Bedürfnis, diese riesige und zugleich winzige Erde zu beschützen. Dieses wundersame und auf bizarre Weise hübsche Ding. Das in Ermangelung besserer Alternativen so unverkennbar zu ihrem Zuhause geworden ist. Ein grenzenloser Ort, ein schwebendes Juwel, schockierend hell. Kann die Menschheit nicht in Frieden miteinander leben? Im Einklang mit der Erde? Das ist kein frommer Wunsch, vielmehr eine gereizte Forderung. Können wir nicht aufhören, die eine Sache, von der unser aller Leben abhängt, zu tyrannisieren und zu zerstören, zu plündern und zu vergeuden?” Anscheinend nicht. 

Last und Leid

Die Vergangenheit lässt sich nicht zertrümmern. Szene aus dem Film „In die Sonne schauen“ © Neue Visionen Filmverleih GmbH

Endlich sitzen wir wieder einmal im Kino! Das sollte man viel häufiger tun, denn die Zahl der Besucher:innen ist im ersten Halbjahr in Deutschland wieder zurückgegangen. Die vielen digitalen Alternativen machen es den Kinos schwer. Zumindest die Generation der Babyboomer weiß das Erlebnis noch zu schätzen, zumal wenn ein deutscher Film auf dem Programm steht, der bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnet wurde. “In die Sonne schauen”, der zweite Spielfilm der Regisseurin Mascha Schilinski wurde in diesem Jahr mit dem Großen Preis der Jury geehrt und hierzulande als deutscher Beitrag für die Auslands-Oscars in Hollywood nominiert. Die Erwartungen des Publikums im ausverkauften Kino sind hoch, wenn man auch schon vorher wusste, dass Schilinski in zweieinhalb Stunden eine komplexe Geschichte ästhetisch sehr ambitioniert erzählen wird. 

“In die Sonne schauen” beobachtet das Leben von vier Frauengenerationen über einen Zeitraum von hundert Jahren, ohne dabei chronologisch zu erzählen. Im Gegenteil, Mascha Schilinski wechselt wie in einem Traum die Zeit- und Erzählebenen. Die Bilder des Kameramanns Fabian Gamper sind oft in dunklen Tönen gehalten, passend dazu düstere, unheimliche Töne, manchmal sind die Texte und Zusammenhänge schwer zu verstehen. Die Geschichten spielen auf einem Vierseithof in Sachsen-Anhalt und werden durch eine Kontinuität der Frauen und Mädchen als Opfer männlicher Dominanz zusammengehalten. Was genau passiert ist, schimmert allenfalls durch, wie und warum sich die Traumata über die Generationen “vererben”, bleibt unklar. Diese Unschärfe entspricht sicherlich dem wahren Leben, kann aber nichts erklären. Mit zunehmender Dauer des Films verliert das ästhetische Konzept von Mascha Schilinski und ihrer Co-Autorin Louise Peter seinen Reiz. Zwar verlassen nur wenige Besucher vorzeitig die Aufführung, das Publikum nimmt den Film aber sehr verhalten auf. “Nichts wie raus hier”, meint eine Dame enttäuscht. 

Sicherlich nimmt “In den Himmel schauen” die aktuelle Stimmung in der Bundesrepublik auf – die deutsche Lust an Mythen, Verdrängungen und Verschleierungen. Unheil dräut von allen Seiten, die Zukunft scheint unsicherer denn je, der Autoritarismus ist weltweit auf dem Vormarsch, Gesellschafts- und Geschäftsmodelle funktionieren nicht mehr. Die Generation Glück muss Abschied nehmen von der Illusion, es würde alles immer besser. Der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx zitiert in seinem Essay “Die Welt ist aus den Fugen” Konfuzius und gibt uns mit auf den Weg: “Üben wir also für die nächste Zukunft: das Kleine im Großen schätzen. Das Bedrohliche anerkennen, aber ihm nicht dienen. Leichter werden. Durchlässiger. Das Gelingende wahrnehmen und verstärken. Ausweichen, wo es notwendig ist. Kämpfen, wo es Sinn ergibt. Die Widersprüche umarmen. Und dabei im Lächeln bleiben.” (Tagespiegel, 01.09.25) Um mit Hölderlin zum guten Schluss zu kommen: “Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.”