Anders

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Zutiefst menschlich und zutiefst einsam: Charles Laughton als Quasimodo in „Der Glöckner von Notre Dame“ (1939) in der Regie von William Dieterle.

„Er ist furchtbar hässlich, hat fast kein Kinn – und doch gefiel er mir ausnehmend gut“, notiert Alma Schindler am 26. Februar 1900 in ihr Tagebuch über Alexander von Zemlinsky; später heiratete das „Weihebecken“ (24.01.1901) Gustav Mahler, Walter Gropius  und Franz Werfel. Wir sitzen in der Deutschen Oper Berlin, finden auf Bildern den Komponisten gar nicht hässlich und wundern uns, dass ein kleinwüchsiger Mensch die Rolle auf der Bühne spielt. Natürlich verarbeitet Zemlinsky – er war 1,59m groß  – in seinem Einakter „Der Zwerg“ seine persönlichen Erlebnisse & Demütigungen. Gleichwohl findet der Schwager von Arnold Schönberg, dem er als Künstler nie das Wasser reichen konnte, dafür keinen zeitgemäßen musikalischen Ausdruck, und wir schließen uns nach diesem zwiespältigen Abend Alban Berg an, der die Tragik „fast nicht zum Aushalten“ fand und sich an der „unendlich süßen und überströmenden Melodik“ labte. Das indes konnten wir nicht, aber von Alma und ihrem „Weihebecken“ wollen wir unbedingt mehr wissen.

Anderssein thematisiert auch der schwedische Film „Border“ von Ali Agassi, der in Cannes 2018 mit dem Prix „Un Certain Regard“ ausgezeichnet wurde. Wir sind wieder begeistert von den Kinos im Delphi Lux; unser Saal ist in der Vorstellung am frühen Abend fast ausverkauft. Eine Frau mit einem ganz besonderen Geruchssinn kommt sich und ihrem Schicksal auf die Spur: sie ist ein Troll. Ihre Eltern kamen bei Experimenten in einem Krankenhaus ums Leben, das Hausmeisterpaar zog sie auf. Anders als „Der Zwerg“ wird Tina nicht von einer Infantin bewundert und verstoßen, aber sie weiß sehr wohl um ihre Besonderheit. „Wir sind die besseren Menschen“, ist jedenfalls Vore überzeugt. Dieser Troll begründet daraus eine moralische Überlegenheit, die ihn selbst von kriminellen Handlungen nicht abhält. Agassis beeindruckende Verfilmung einer Erzählung von John Erik Ajvide Lindqvist bleibt ambivalent und wird nicht zum Troll-Kitsch. Tina quittiert ihren Job beim Zoll und lebt in der Natur. Sie ist kein Tier und kein Mensch: sie kann beides sein und wird vielleicht glücklich.

Geschafft von einem anstrengenden Tag möchte ich mir die Verfilmung eines Romans von Sven Regener anschauen, aber ARTE hat aus aktuellem Anlass das Programm geändert und zeigt „Der Glöckner von Notre Dame“ von 1939 mit Charles Laughton und Maureen O’Hara (noch bis zum 1. Mai in der Mediathek verfügbar). Seit Jahrzehnten habe ich diesen grandiosen Film nicht gesehen, der mich wieder in seinen Bann zieht. Der völlig verunstaltete Quasimodo ist ohne jeden Zweifel der „bessere Mensch“ und dem geifernden Volk und dem scheinheiligen Adel in jeder Beziehung überlegen, aber es gibt für ihn keinen Platz im Paris des späten 15. Jahrhunderts. Er hat Notre Dame und Esmeralda vor dem Pöbel gerettet – und bleibt doch einsam in seinem Glockenturm. „Ich bin kein Tier und kein Mensch. Könnte ich doch aus Stein sein wie ihr“, ruft er einer Figur hoch oben zu. Kurz vor dem Film hörte ich in den Nachrichten des Dlf, dass es im letzten Jahr über tausend dokumentierte Übergriffe auf jüdische Bürger*innen in Berlin gegeben habe. Es ist eine Schande!

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Ein Kommentar zu „Anders

  1. Meiner Meinung nach sehr angebracht die gedankliche Verbindung zwischen Quasímodo und das Anderssein. Wer anders ist, wird von mir als verschieden gesehen, empfunden und gedacht. Das liegt in der Natur der Sache.
    Wer sich von der Menge abhebt – egal ob klein und buckelig oder überlegen und der bessere Mensch – wird Minderheit und hat es schwer sich, seine Gedanken und Handlungen durchzusetzen. Toleranz als politisch korrekte Positionierung allein ist nicht genug, es müsste aus dem Bauch kommen, aus Empathie.

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